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Die Marktungleichheit hat in den vergangenen Jahrzehnten in den OECD-Staaten deutlich zugenommen. Abbildung 1 zeigt diese Entwicklung beispielhaft für Schweden, Deutschland und die USA. Trotz gravierender Unterschiede bei der Ausgestaltung der sozialen Sicherungssysteme sowie verschiedener institutioneller Gegebenheiten ist die Ungleichheit der Markteinkommen und ihre Veränderung über die Zeit in allen drei Ländern vergleichbar. Diese Entwicklung scheint eine Vielzahl von Ländern gleichermaßen zu betreffen, was darauf hindeutet, dass international zu beobachtende Phänomene wie der technische Fortschritt oder die Globalisierung eine wichtige Rolle spielen. Abbildung 1 verdeutlicht zudem, dass sich die Ungleichheit der Nettoeinkommen, also der Einkommen nach Steuern und Transfers, trotz mittelfristiger Schwankungen aktuell in Deutschland wieder auf dem Niveau von 1960 befindet. Zunehmende Umverteilungsaktivitäten des Staates wirken der wachsenden Ungleichheit der Markteinkommen offensichtlich entgegen, weshalb sich die Nettoungleichheit in der langen Frist kaum verändert hat.

Abbildung 1
Marktungleichheit, Nettoungleichheit und Umverteilung
34049.png

Quelle: SWIID v5 aus F. Solt: The Standardized World Income Inequality Database, in: Social Science Quarterly, forthcoming.

Obwohl das Ausmaß der Umverteilung in allen drei Ländern in den vergangenen Jahrzehnten angestiegen ist, existieren deutliche Unterschiede zwischen den Staaten. Während die USA im Vergleich zur Mehrzahl der europäischen Nationen weniger umverteilen, ist die Umverteilung in Schweden innerhalb der letzten Jahrzehnte auf ein im internationalen Vergleich sehr hohes Niveau gestiegen. Auch in Deutschland ist Umverteilung in beträchtlichem Umfang zu beobachten, fällt allerdings etwas geringer aus als in Schweden. Die Ausgestaltung der sozialen Sicherungssysteme sowie unterschiedliche institutionelle Gegebenheiten infolge heterogener Präferenzen führen dazu, dass die Länder in völlig verschiedenem Maße umverteilen. Hinzu kommt, dass in demokratischen Ländern Umverteilung als zentraler Wettbewerbsparameter des politischen Betriebs fungiert. Umverteilungsmaßnahmen werden von politischen Entscheidungsträgern gezielt dazu eingesetzt, Wählergruppen zu begünstigen. Während die Theorie eine Vielzahl von Erklärungsmustern zu den Ursachen der Umverteilung im politischen Prozess hervorgebracht hat, ist die Empirie in vielen der Fragen gespalten.

Ein Grund für die Ambivalenz der Ergebnisse liegt in der mangelnden Verfügbarkeit vergleichbarer und harmonisierter Daten zur Umverteilung. Erst seit Kurzem stehen der Forschergemeinde lange Zeitreihen für ein großes Ländersample zur Verfügung, die auf die Arbeiten von Solt zurückgehen.1 Basierend auf diesen Daten untersucht die Studie von Gründler und Köllner die empirischen Determinanten, an denen sich der Staat bei Umverteilungsaktivitäten orientiert.2

Theoretische Überlegungen

Eine theoretische Verbindung zwischen Marktungleichheit und Umverteilung entwickelten Meltzer und Richard bereits 1981.3 Demnach führt eine höhere Ungleichheit der Markteinkommen in einem Mehrheitswahlrecht zu höherer Umverteilung, wenn der Abstand zwischen dem Durchschnittseinkommen und dem Einkommen des Medianwählers, der entscheidenden Wählergruppe in einer Demokratie, zunimmt. Als Konsequenz fordert der Medianwähler mehr staatliche Umverteilung, da er davon stärker profitiert. Obwohl das theoretische Konzept der Meltzer-Richard-Hypothese in der Literatur breit akzeptiert wird, kommen die empirischen Untersuchungen diesbezüglich zu sehr widersprüchlichen Ergebnissen. Einige Studien (z.B. Milanovic oder Scervini)4 unterstützen den beschriebenen Zusammenhang auch empirisch, während andere Studien (z.B. Georgiadis und Manning oder Kenworthy und McCall)5 den Meltzer-Richard-Effekt empirisch nicht beobachten können.

Darüber hinaus ist der Einfluss verschiedener gesellschaftlicher Gruppen auf den Umfang der staatlichen Umverteilung zu untersuchen. Dem Medianwählermodell folgend, stellt der Medianwähler die für politische Entscheidungen maßgebliche Gruppierung in Demokratien dar. Demnach kann erwartet werden, dass der Staat sich in Umverteilungsfragen am Medianwähler und damit an der Mittelschicht orientiert. Andere gesellschaftliche Gruppen hingegen, z.B. Bezieher von Top- oder geringen Einkommen, haben der Theorie zufolge nur einen geringen Einfluss auf die vom Staat festgelegte Höhe der Umverteilung. Allerdings bildet die Bereitstellung sozialer Gerechtigkeit und damit die Sicherung des Existenzminimums eine zentrale Aufgabe des Sozialstaats, was insbesondere geringen Einkommen zugutekommen sollte. Während Top-Einkommensbezieher als Nettozahler von Umverteilungsaktivitäten diesen in der Regel ablehnend gegenüberstehen, ist zu erwarten, dass Bezieher geringer Einkommen am stärksten von Umverteilung profitieren.

Umverteilung in der Welt

Zur Berechnung der Umverteilung ist es zunächst notwendig, ein geeignetes Maß auszuwählen. Der Fokus der Studie liegt auf der Analyse der Bestimmungsgründe staatlicher Umverteilung in einem breiten Panel, das verschiedene Länder enthält. Daher muss sich die Auswahl der Umverteilungsvariablen an makroökonomischen Daten orientieren, die für eine möglichst große Zahl von Ländern verfügbar sind. Auf makroökonomischer Ebene hat sich in der Politikwissenschaft sowie der jüngeren Wirtschaftswissenschaft der sogenannte „Pre-Post-Approach“ etabliert. Dieser misst die Höhe der staatlichen Umverteilung als Differenz der Gini-Koeffizienten vor und nach Steuern und Transfers, was wie folgt dargestellt werden kann:

REDISTit = GINI(M)it - GINI(N)it

wobei GINI(M) die Marktungleichheit und GINI(N) die Nettoungleichheit in Land i zum Zeitpunkt t abbildet. Der Ansatz zeigt, um wie viele Gini-Punkte die Ungleichheit der Markteinkommen durch staatliche Aktivitäten reduziert wird. Hier ist wichtig anzumerken, dass das Maß die reine Veränderung der Ungleichheit misst, unabhängig davon, mit welchen Mitteln diese Veränderung erreicht wird. Zudem beinhaltet das Maß keinerlei Aussagen über Umverteilung durch Bereitstellung von öffentlichen Gütern.

Lange Zeit war die Berechnung von REDIST nur für ein sehr eingeschränktes Ländersample möglich, da Ungleichheitsdaten für den Großteil der Länder nicht verfügbar und insbesondere nicht vergleichbar waren. Der „Goldstandard“ der Makro-Daten zur Ungleichheit ist die Datenbank der Luxembourg Income Study (LIS), deren Grad an Harmonisierung beispiellos ist. Die Vergleichbarkeit geht allerdings zulasten der Verfügbarkeit einer für Paneldatenanalysen hinreichenden Zahl an Beobachtungen. In jüngerer Zeit gab es im Feld der Ungleichheitsforschung verschiedene Bestrebungen, die Datengrundlage zu erweitern. Zwei sekundäre Datensammlungen haben sich hierbei etabliert: Die „World Income Inequality Database“ (WIID) von UNU-WIDER sowie die „Standardized World Income Inequality Database“ (SWIID) von Solt.6 Für die Untersuchung der Höhe der Umverteilung eignet sich insbesondere die SWIID v5, die nach ihrem Update im Oktober 2014 die umfassendste Datensammlung vergleichbarer internationaler Ungleichheitsmaße vor und nach Steuern und Transfers darstellt.7

Abbildung 2 zeigt die Länder mit dem höchsten und dem geringsten Umfang an Umverteilung innerhalb der OECD-Mitgliedstaaten. Die Daten beziehen sich auf den Durchschnitt der Umverteilungsaktivitäten zwischen 2010 und 2013, um periodenspezifische Effekte zu glätten. Im Durchschnitt reduzierten die verteilungspolitischen Aktivitäten der OECD-Mitgliedstaaten die Marktungleichheit um rund 16,35 Gini-Punkte. Die über die Länder hinweg heterogenen Sozialsysteme führten jedoch zu einer starken Streuung in der Höhe der Umverteilung (Standardabweichung: 5,96 Gini-Punkte). Am geringsten ist die Umverteilung in Chile, Südkorea und der Türkei. In diesen Ländern führt die Sozialpolitik lediglich zu einer Reduktion der Marktungleichheit von rund 2,5 Gini-Punkten. Auch die Schweiz (12,18 Gini-Punkte), die USA (13,17) und Australien (15,65) verteilen weniger um als die OECD-Länder im Durchschnitt. In der Gruppe der Länder mit dem höchsten Maß an Umverteilung finden sich vor allem die skandinavischen Länder Schweden (24,24), Dänemark (22,51) und Finnland (21,49). Deutschland belegt in dieser Betrachtung den vierten Rang und liegt mit einer Ungleichheitsreduktion von 21,72 Gini-Punkten nur unwesentlich hinter Irland (26,07), dem Spitzenreiter der Umverteilung.

Abbildung 2
Umverteilung (REDIST) in den OECD-Mitgliedstaaten
Durchschnitt 2010 bis 2013, in Gini-Punkten
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Quelle: SWIID v5, eigene Darstellung.

Blickt man nicht nur auf die entwickelten Volkswirtschaften der OECD, sondern betrachtet alle Länder, für welche die SWIID v5 im betreffenden Zeitraum Daten umfasst, so verstärkt sich das heterogene Bild weiter. Abbildung 3 zeigt die Verteilung der Umverteilung in der Welt. Aufgrund der Datenverfügbarkeit umfasst Abbildung 3 allerdings den Durchschnitt der Periode 2005 bis 2009, da für einige Entwicklungsländer noch keine aktuelleren Daten vorliegen.8 Es zeigt sich, dass Umverteilung in der Welt bimodal verteilt ist. Während die OECD-Länder im Schnitt in etwa am zweiten Modus der Verteilung liegen, rangiert der Großteil der übrigen Länder um den ersten Modus der Verteilung, der mit einem wesentlich geringeren Umverteilungsniveau einhergeht. Nicht-OECD-Länder verteilen insgesamt im Schnitt nur rund 2,8 Gini-Punkte um; vor allem in autokratischen Nationen (2,5 Gini-Punkte) und Ländern, die von der Weltbank als „low-income economies“ bzw. „lower-middle-income economies“ klassifiziert werden (2,1 Gini-Punkte), ist das Umverteilungsniveau gering.

Abbildung 3
Umverteilung (REDIST) in der Welt
Histogramm und Kerndichte aller verfügbarer Länder (N=153), Durchschnitt 2005 bis 2009
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Quelle: SWIID v5, eigene Darstellung.

Ergebnisse

Worauf lassen sich die teils deutlichen Unterschiede in der Höhe der staatlichen Umverteilungsaktivitäten zurückführen? Abbildung 4 zeigt die Basisergebnisse von Gründler und Köllner.9 Die Studie umfasst System GMM-Schätzungen auf Basis eines Panels aus 126 Ländern zwischen 1960 und 2013. Abgebildet sind jeweils die marginalen Effekte auf die Umverteilung bei Veränderung der potenziellen Erklärungsgröße um eine Standardabweichung. Die Meltzer-Richard-Hypothese kann dabei empirisch eindeutig bestätigt werden. Höhere Marktungleichheit führt zu einem signifikant höheren Niveau an Umverteilung. Darüber hinaus kann ein positiver und signifikanter Einfluss der Mittelklasse auf die Höhe der Umverteilung beobachtet werden. Politische Entscheidungsträger orientieren sich bei Umverteilungsaktivitäten augenscheinlich stark an der Mittelklasse. Diese Aussage ist für verschiedene Definitionen der Mittelklasse gültig. Während die enge Definition der Mittelklasse lediglich das 3. Quintil beinhaltet, umfasst die weite Definition die Quintile 2 bis 4.

Abbildung 4
Bestimmungsgründe der Umverteilung
Effekte bei Veränderung der Variablen um eine Standardabweichung, 126 Länder, 1960 bis 2013
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Quelle: Eigene Berechnungen.

Darüber hinaus üben die Top-1%-Einkommen einen negativen und hoch signifikanten Einfluss auf den Umfang der Umverteilung aus. Top-Einkommensbezieher verfügen offensichtlich außerhalb des Wahlprozesses über weitere Möglichkeiten der Beeinflussung politischer Entscheidungsträger. Über indirekte Kanäle, wie z.B. Spenden oder die Unterstützung politischer Kampagnen, betreiben obere Einkommen Vetternwirtschaft bzw. Rent-seeking, um finanzielle Belastungen durch zusätzliche Umverteilungsaktivitäten zu reduzieren. Die Ergebnisse für die unteren Einkommen (Untere 10%) und die Arbeitslosigkeit zeigen einen umfangsmäßig sehr geringen sowie insignifikanten marginalen Effekt. Dies verdeutlicht, dass Politiker sich in Umverteilungsfragen kaum an der Situation der geringen Einkommen bzw. der Arbeitssuchenden orientieren.

Darüber hinaus zeigt Abbildung 4, dass es demokratische Länder sind, die signifikant mehr umverteilen. In Nicht-Demokratien existieren von Seiten der Bevölkerung offensichtlich geringere Sanktionsmechanismen, z.B. in Form einer Abwahl der Regierung, weshalb Politiker weniger stark auf Forderungen aus der Bevölkerung eingehen müssen. Zusätzlich ist festzustellen, dass die Höhe der Umverteilung im Zeitablauf sehr persistent ist. Entsprechend wird Umverteilung in einer Periode auch entscheidend von der Umverteilung in der Vorperiode beeinflusst. Im Rahmen der Untersuchung werden zusätzlich umfangreiche Sensitivitätsanalysen durchgeführt, die die Robustheit der hier vorgestellten Ergebnisse untermauern und den Fokus zudem auf institutionelle und kulturelle Gegebenheiten legen.10

Gefühlte Ungleichheit

Das Meltzer-Richard-Theorem legt nahe, dass die Umverteilung umso höher ist, je ungleicher die Markteinkommen verteilt sind. Eine hohe Marktungleichheit schlägt sich in den Präferenzen der Wähler für Umverteilung nieder, was im Medianwählermodell schließlich zu einer Zunahme der verteilungspolitischen Aktivitäten des Staates führt. Bei der Bildung der Präferenzen werden sich die Wähler jedoch in den wenigsten Fällen an objektiven Daten orientieren. Vielmehr ist hier die wahrgenommene Ungleichheit entscheidend. Wie eine Vielzahl jüngerer Studien zeigt, sind diese Wahrnehmungen oftmals verzerrt.11

In Anlehnung an das von Engelhardt und Wagener12 vorgeschlagene Verfahren lässt sich die wahrgenommene Ungleichheit unter Zuhilfenahme von länderübergreifenden Mikro-Datensätzen berechnen. Engelhardt und Wagener verwenden dabei Daten von 26 OECD-Ländern, die im Rahmen des „International Social Survey Programme“ (ISSP) erfasst werden. Ausgehend von der Frage: „In our society there are groups which tend to be towards the top and groups which tend to be towards the bottom. Below is a scale that runs from top to bottom (10 top – 1 bottom). Where would you put yourself now on this scale?“ lassen sich verschiedene subjektive Ungleichheitsmaße berechnen. Einschätzungen zum eigenen Status sind für insgesamt 44 Länder verfügbar. Eine vergleichbare Frage wird zudem im Rahmen des „World Value Survey“ (WVS) erhoben: „On this card is an income scale on which 1 indicates the lowest income group and 10 the highest income group in your country. We would like to know in what group your household is. Please, specify the appropriate number, counting all wages, salaries, pensions and other incomes that come in.“

Der Vorteil der Verwendung der WVS-Daten liegt einerseits am deutlich größeren Umfang von insgesamt 84 Ländern, für die zwischen 1981 und 2015 in sechs Wellen Daten erhoben wurden. Zum anderen zielt die Frage im WVS direkt auf das Einkommen der Probanden ab, während im ISSP nach dem Status gefragt wird.13 Umgekehrt zeichnen sich die Umfragen des ISSP durch ein besonderes Maß an Qualität aus, was für eine parallele Verwendung beider Datensätze spricht.

Vergleicht man die tatsächliche mit der wahrgenommenen Ungleichheit, so lässt sich das Ausmaß der Fehleinschätzung der Individuen berechnen. Abbildung 5 zeigt jeweils die OECD-Länder mit der geringsten und der höchsten Differenz aus gefühlter und realer Ungleichheit. Zieht man die Daten aus dem ISSP heran, so zeigt sich, dass die Nettoungleichheit von den Individuen in allen Ländern deutlich zu niedrig eingeschätzt wird. Während der Mittelwert der tatsächlichen Ungleichheit in der OECD bei 30,73 Gini-Punkten liegt, beträgt die gefühlte Ungleichheit im Schnitt lediglich 15,6 Gini-Punkte (ISSP) bzw. 27,41 Gini-Punkte (WVS). Die Unterschiede in der Messung der gefühlten Ungleichheit sind auf Unterschiede in der Fragestellung und dem Erhebungsumfang zurückzuführen. So finden sich bei Verwendung der Daten aus dem WVS auch Länder, in denen sich die Probanden als zu ungleich einschätzen. An den Länderrankings der Fehleinschätzung ändert sich zwischen ISSP und WVS allerdings wenig. Besonders in den skandinavischen Ländern Finnland, Norwegen, Dänemark und Schweden liegt die gefühlte Ungleichheit relativ nahe an der tatsächlichen Ungleichheit. Auch in den mittelosteuropäischen Staaten Slowenien, Slowakei und Tschechien schätzen sich die Individuen relativ gut ein. Deutschland rangiert in dieser Betrachtung im oberen Mittelfeld. In der Liste der Nationen mit hoher Differenz aus tatsächlicher und gefühlter Ungleichheit finden sich vor allem die angelsächsischen Nationen USA, Großbritannien und Australien, sowie die mediterranen Volkswirtschaften Spanien, Italien und Portugal.

Abbildung 5
Ausmaß der Differenz zwischen tatsächlicher und gefühlter Ungleichheit, OECD-Länder
in Gini-Punkten
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Quelle: Daten aus ISSP 2009 (GESIS Study Nr. 5400 v3.0.0 und SWIID v5).

Welche Konsequenz ergibt sich aus der Fehleinschätzung der Ungleichheit auf die Umverteilung? Abbildung 6 zeigt den Zusammenhang zwischen der Umverteilung und der Unterschätzung der Ungleichheit. Die beiden Größen sind negativ korreliert (Korrelationskoeffizient: -44%). Je weiter die Einschätzungen der Individuen von der tatsächlichen Ungleichheit entfernt liegen, desto geringer ist die Umverteilung. Sind sich die Individuen allerdings der Höhe der Ungleichheit im Land gewahr, so steigt die Nachfrage nach Umverteilung, was im politischen Prozess zu stärkeren verteilungspolitischen Aktivitäten führt.

Abbildung 6
Fehleinschätzung der Ungleichheit und Umverteilung in der OECD in der Periode 2005-2009
in Gini-Punkten
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Quelle: Eigene Berechnungen.

In Abbildung 6 lässt sich somit ein Indiz für das Meltzer-Richard-Theorem erkennen. Allerdings zeigt die Abbildung, dass Ungleichheit vor allem dann Nachfrage nach Umverteilung auslöst, wenn sich die Individuen der Ungleichheit auch bewusst sind. Dieser Effekt wird noch deutlicher, wenn die Umverteilungswirkung der gefühlten Ungleichheit im Rahmen der vorgestellten Panel-Schätzung analysiert wird. Abbildung 7 zeigt die marginalen Effekte der Markt-ungleichheit und der gefühlten Ungleichheit auf die Umverteilung. Dargestellt ist die Wirkung auf die Umverteilung bei einer Veränderung der dargestellten Variablen um eine Standardabweichung. Die gefühlten Ungleichheitsmaße beziehen sich dabei auf die OECD-Nationen.

Abbildung 7
Effekt der Marktungleichheit und der gefühlten Ungleichheit auf Umverteilung
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Gefühlte Ungleichheit bezieht sich auf OECD-Länder. System-GMM Schätzung auf Basis der jeweils verfügbaren Zeiträume.

Quelle: Eigene Berechnungen.

Die Ergebnisse der Schätzung bestätigen die Einschätzung auf Basis von Abbildung 6. Der Effekt der Ungleichheit auf die Umverteilung ist umso höher, je stärker sich die Individuen der Ungleichheit bewusst sind. Damit lässt sich überdies ein Baustein identifizieren, der zur Erklärung der in der Einleitung dargestellten Unterschiede der Verteilungsaktivitäten zwischen Schweden, Deutschland und den USA beitragen kann (vgl. Abbildung 1). Betrachtet man nur den Meltzer-Richard-Effekt, so stünde zu vermuten, dass die vergleichbare Marktungleichheit der Länder zu einem ähnlichen Grad an Umverteilung führt. Tatsächlich ist die Umverteilung in den Ländern allerdings stark unterschiedlich. Blickt man hingegen auf die gefühlte Ungleichheit aus Abbildung 5, so kann man erkennen, dass sich die Individuen in Schweden der inländischen Ungleichheit wesentlich stärker bewusst sind, als etwa in Deutschland oder insbesondere den USA. Engelhardt und Wagener zeigen überdies, dass in den USA nicht nur die Ungleichheit, sondern auch die soziale Mobilität wesentlich zu positiv eingeschätzt wird.14 Wenn die Individuen an ein hohes Maß an Chancengleichheit glauben, dann wird die Nachfrage nach Umverteilung gering sein – auch wenn die tatsächlichen Aufstiegschancen im internationalen Vergleich eher gering sind.

Fazit

Um der wachsenden Marktungleichheit entgegenzuwirken, ist das Ausmaß der Umverteilung in den entwickelten Volkswirtschaften in den letzten Jahrzehnten deutlich angestiegen. Der von Meltzer und Richard beschriebene theoretische Zusammenhang kann in der vorliegenden Untersuchung für entwickelte Volkswirtschaften empirisch eindeutig beobachtet werden. Der Effekt fällt überdies stärker aus, wenn anstelle der tatsächlichen Ungleichheit Maße für die gefühlte Ungleichheit verwendet werden. Sind sich die Individuen der Ungleichheit der Einkommen bewusst, so steigt die Nachfrage nach staatlicher Intervention, was sich im politischen Prozess in einem höheren Umfang an Umverteilung niederschlägt. Diese Beobachtung trägt überdies zur Erklärung bei, warum in entwickelten Staaten trotz ähnlicher Entwicklung der Markteinkommen unterschiedliche Umverteilungspolitiken zu beobachten sind. Darüber hinaus orientieren sich staatliche Entscheidungsträger in Umverteilungsfragen auch an Top-Einkommensbeziehern, die über indirekte Kanäle ihr Interesse nach weniger Umverteilung geltend machen. Der geringe Effekt, der von den unteren Einkommensschichten und der Arbeitslosigkeit ausgeht, kann auf zweierlei hindeuten. Entweder spielen die Bezieher geringer Einkommen für den Staat bei Umverteilungsfragen eine untergeordnete Rolle, oder die Umverteilung ist wenig treffsicher. In beiden Fällen ist das distributive Ergebnis suboptimal.

  • 1 F. Solt: Standardizing the World Income Inequality Database, in: Social Science Quarterly, 90. Jg. (2009), Nr. 2, S. 231-242; F. Solt: The Standardized World Income Inequality Database, in: Social Science Quarterly, forthcoming.
  • 2 K. Gründler, S. Köllner: Determinants of governmental redistribution, Diskussionspapiere des Lehrstuhls für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Wirtschaftsordnung und Sozialpolitik, Nr. 132, Würzburg 2015.
  • 3 A. H. Meltzer, S. F. Richard: A Rational Theory of the Size of Government, in: Journal of Political Economy, 89. Jg. (1981), Nr. 5, S. 914-927.
  • 4 B. Milanovic: The median-voter hypothesis, income inequality, and income redistribution: an empirical test with the required data, in: European Journal of Political Economy, 16. Jg. (2000), Nr. 3, S. 367-410; F. Scervini: Empirics of the median voter: democracy, redistribution and the role of the middle class, in: Journal of Economic Inequality, 10. Jg. (2012), Nr. 4, S. 529-550.
  • 5 A. Georgiadis, A. Manning: Spend it Like Beckham? Inequality and Redistribution in the UK, 1983-2004, CEP Discussion Paper, Nr. 816, 2007; L. Kenworthy, L. McCall: Inequality, public opinion and redistribution, in: Socio-Economic Review, 6. Jg. (2008), Nr. 1, S. 35-68.
  • 6 UNU-WIDER: World Income Inequality Database (WIID), Version 3.0b., 2014; F. Solt: Standardizing ..., a.a.O.; ders.: The Standardized ..., a.a.O.
  • 7 Für eine detaillierte Diskussion der SWIID v5, ihrer Methodik zur Harmonisierung der Daten sowie den zugrundeliegenden Berechnungsmethoden siehe F. Solt: The Standardized ..., a.a.O.; und K. Gründler, S. Köllner, a.a.O.
  • 8 Insgesamt kommt es durch die Veränderung der Perioden aufgrund der starken Autokorrelation nur zu geringfügigen Änderungen. Die Korrelation zwischen REDIST 2010 bis 2013 und 2005 bis 2009 beträgt rund 98%.
  • 9 K. Gründler, S. Köllner, a.a.O.
  • 10 Ebenda.
  • 11 G. Cruces, R. Perez-Truglia, M. Tetaz: Biased perceptions of income distribution and preferences for redistribution: Evidence from a survey experiment, in: Journal of Public Economics, 98. Jg. (2013), S. 100-112; J. Niehues: Subjektive Ungleichheitswahrnehmung und Umverteilungspräferenzen – ein internationaler Vergleich, in: IW-Trends, 41. Jg. (2014), Nr. 2, S. 75-91; C. Engelhardt, A. Wagener: Biased Perceptions of Income Inequality and Redistribution, Hannover Economic Papers, 2014, Nr. 526.
  • 12 C. Engelhardt, A. Wagener, a.a.O.
  • 13 Die Probanden machen ihren sozialen Status jedoch in der Regel vom Einkommen abhängig, was die Verwendung des ISSP zur Berechnung der subjektiven Ungleichheit rechtfertigt.
  • 14 C. Engelhardt, A. Wagener, a.a.O.

Title:What Drives Governmental Redistribution?

Abstract:This paper investigates the major drivers of governmental redistribution. Extended and harmonised data on effective redistribution recently provided by the newest version of the Standardized World Income Inequality Database allows for the assessment of the origins of governmental redistribution for a broad sample of countries. Our findings confirm the Meltzer-Richard hypothesis, pointing to a robust positive relationship between market inequality and redistribution. We show that perceptions of inequality are often biased and that the redistribution-enhancing effect of gross inequality is even stronger when individuals are aware of national income disparities. The results also suggest that top income shares tend to impede redistributive policies.

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DOI: 10.1007/s10273-016-1948-6