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Seit der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise und der sich daran anschließenden Staatsschuldenkrise stellt sich die Frage, ob die Krisenländer durch eine Verbesserung ihrer internationalen preislichen Wettbewerbsfähigkeit auf einen stabilen Wachstumspfad zurückkehren können, z.B. durch Lohnzurückhaltung. Anhand von Simulationsrechnungen für unterschiedliche Lohnsetzungsstrategien auf europäischer Ebene bis 2030 werden deren Vor- und Nachteile diskutiert.

Lohnzurückhaltung – definiert als Zunahme des nominalen Stundenlohns, die geringer ausfällt als die Summe aus der Veränderungsrate der realen Stundenproduktivität und der Inflationsrate des privaten Konsums – verbessert die internationale preisliche Wettbewerbsfähigkeit eines Landes gegenüber denjenigen Ländern, in denen der oben definierte lohnpolitische Verteilungsspielraum ausgeschöpft wird (d.h. verteilungsneutrale Lohnpolitik). Voraussetzung hierfür ist, dass der geringere Anstieg der Lohnkosten an die Exportpreise weitergereicht wird. Die Exportgüter des betreffenden Landes verbilligen sich in Relation zur Konkurrenz und erfahren gemäß der vorliegenden Preis-Nachfrage-Elastizitäten einen höheren Absatz. Für sich genommen erhöht dieser Effekt das Bruttoinlandsprodukt des betreffenden Landes. Dem stehen mögliche Dämpfungen der privaten Konsumnachfrage im Inland gegenüber. Des Weiteren geht eine Steigerung des Exportanteils eines Landes unter sonst gleichen Umständen immer zulasten anderer Länder. Unter Umständen können diese weniger exportieren, fragen insgesamt weniger nach, importieren damit auch weniger, und das Land mit der Lohnzurückhaltung kann absolut gesehen weniger exportieren als vorher.

Die Frage, welche Auswirkungen eine Lohnzurückhaltung auf das wirtschaftliche Wachstum des betreffenden Landes hat, lässt sich nur unter Berücksichtigung dieser Nebenwirkungen und Rückkopplungen beantworten. Notwendig dafür ist ein gesamtwirtschaftliches Mehrländer-Simulationsmodell, das die betreffenden Länder durch grenzüberschreitende Handelsaktivitäten miteinander verbindet. Die Prognos AG verfügt mit ihrem VIEW-Modell über ein solches Simulationsmodell für 42 Länder.1 Diese Länder decken aktuell mehr als 90% der globalen Wirtschaftsleistung ab. Interaktionen und Rückkopplungen zwischen den Ländern werden explizit berücksichtigt. Beispielsweise können die Exporte eines Landes nur in dem Maße zunehmen, in dem sich die Importnachfrage der anderen 41 Länder erhöht. Mithilfe dieses Modells werden im Folgenden die Auswirkungen unterschiedlicher Lohnsetzungsstrategien in der Eurozone simuliert. Neben einer Lohnzurückhaltung in einzelnen Ländern wird dabei auch eine Lohnforcierung berücksichtigt – verstanden als Zunahme des nominalen Stundenlohns, die größer ausfällt als die Summe aus der Veränderungsrate der realen Stundenproduktivität und der Inflationsrate des privaten Konsums.

Grundlegende Wirkungszusammenhänge der Simulationsberechnungen

Die grundlegenden Wirkungszusammenhänge des VIEW-Modells lassen sich exemplarisch am Beispiel einer Lohnforcierung skizzieren. Eine Lohnzurückhaltung hat die jeweils entgegengesetzten Effekte.

  • Eine Lohnforcierung bewirkt einen Anstieg der Lohnstückkosten und – bei gleichbleibendem Mark-up auf die Kosten – einen Anstieg der Preise, also ein steigendes Preisniveau.
  • Der Anstieg der Preise fällt in der Regel geringer aus als der des Nominallohns, entsprechend steigen die realen Stundenlöhne.
  • Die Europäische Zentralbank (EZB) reagiert auf den damit verbundenen zunehmenden Inflationsdruck mit einer restriktiveren Geldpolitik. Dadurch kommt es zu einem Zinsanstieg.
  • Die Lohnforcierung führt für sich genommen zu einem Rückgang der Beschäftigung. Die Veränderung des nominalen Stundenlohns fällt jedoch stärker aus, so dass in der Konsequenz die Lohnsumme (real und nominal) zunimmt.
  • Die größere Lohnsumme führt zu steigendem privaten Konsum. Steigende Löhne haben zudem höhere staatliche Transferleistungen zur Folge. Folglich nimmt auch der Konsum derjenigen, die Renten, Pensionen, Arbeitslosengeld und andere Transferleistungen erhalten, zu.
  • Die Einkommensverteilung verschiebt sich zugunsten der Empfänger von Lohn- und Transfereinkommen. Da diese eine unterdurchschnittliche Sparquote aufweisen, sinkt die aggregierte Sparquote.
  • Die Exporte des Landes sinken wegen der verringerten internationalen preislichen Wettbewerbsfähigkeit.
  • Die staatliche Güternachfrage geht zurück, weil steigende Zinsen die Staatsausgaben zur Bedienung des Schuldendienstes erhöhen und somit weniger finanzielle Mittel für die staatliche Güternachfrage zur Verfügung stehen.
  • Bei der Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Investitionen ist zwischen kurz- und langfristigen Entwicklungen zu unterscheiden. Kurzfristig nehmen die Investitionen zu, weil die höhere Güternachfrage steigende Produktionskapazitäten verlangt. Dann aber reagieren die Investitionen auf die steigenden Zinsen sowie auf die geringere Kapitalrendite und gehen langfristig zurück.
  • Die Importe folgen schließlich der Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts (BIP).

Zusammenfassend ist bei den gesamtwirtschaftlichen Wachstumseffekten einer Lohnforcierung zwischen kurzfristigen und mittel- bzw. langfristigen Effekten zu unterscheiden: Kurzfristig überwiegen die nachfragesteigernden Effekte des Konsums und der Investitionen. Die Exportverluste, das gestiegene Zinsniveau sowie die geringere Kapitalrendite wirken den positiven Effekten entgegen. Es hängt von den jeweiligen historisch gegebenen Umständen ab (relative Bedeutung der Verwendungskomponenten, Zinselastizität der Investitionen, etc.), welcher Effekt langfristig überwiegt und ob das Bruttoinlandsprodukt positiv oder negativ vom Referenzniveau abweicht.

Wirkungen eines isolierten Lohnimpulses

Im Folgenden werden die Effekte einer Lohnzurückhaltung und einer Lohnforcierung am Beispiel Deutschlands aufgezeigt.2 Im Referenzszenario ist für den Zeitraum 2014 bis 2030 unterstellt, dass in Deutschland und den restlichen Ländern der Eurozone der Verteilungsspielraum jeweils vollständig ausgeschöpft wird. In den beiden Alternativszenarien weicht die Ausschöpfung in Deutschland in den Jahren 2015 bis 2020 um plus bzw. minus 25% hiervon ab. Nach 2020 gilt auch in Deutschland wieder die Vollausschöpfung, der Impuls ist damit temporär. Die Lohnstückkosten, die die internationale preisliche Wettbewerbsfähigkeit beeinflussen, liegen in Deutschland infolge einer Lohnzurückhaltung bzw. einer Lohnforcierung unter bzw. über den Referenzwerten. In den anderen 41 in VIEW enthaltenen Ländern werden in den Szenarien keine weiteren Änderungen vorgenommen.

Auswirkungen auf Deutschland

Eine Lohnforcierung beschleunigt die Lohn-Preis-Dynamik. Letztere weist ein gewisses Trägheitsmoment auf, so dass auch nach dem Auslaufen des Lohnimpulses 2021 die Abweichung zu den Referenzwerten weiter leicht zunimmt. Ab Mitte der 2020er Jahre stabilisieren sich die Niveauunterschiede und die Veränderungsraten der einzelnen Größen sind wieder annähernd identisch mit denen des Referenzszenarios. Die Unternehmen geben den nominalen Kostenimpuls nur anteilig an ihre Preise weiter, entsprechend verbleibt bei den Beschäftigten ein realer Lohngewinn. Dies gilt auch für den Fall der Lohnzurückhaltung, hier wird die nominale Kostensenkung nicht vollständig an die Preise weitergegeben und die Beschäftigten erleiden somit einen realen Lohnverlust (vgl. Abbildung 1).

Abbildung 1
Effekte auf Lohnniveau, Preisindex und Lohnstückkosten in Deutschland
Abweichung gegenüber Referenzszenario, in %
31376.png

Quelle: Prognos 2015.

Die Auswirkungen einer Lohnforcierung auf ausgewählte Komponenten der gesamtwirtschaftlichen Güternachfrage sind in Abbildung 2 dargestellt. Der private Konsum ist im VIEW-Modell aufgeteilt in Konsum aus Lohneinkommen, aus Gewinn- und Vermögenseinkommen sowie aus Transfereinkommen. Die gestiegenen realen Lohnkosten führen zwar zu einer Dämpfung der Arbeitsnachfrage von Seiten der Unternehmen, dennoch ist der Effekt auf die reale Lohnsumme (Produkt aus gestiegenem realen Stundenlohn und geringerem Arbeitsvolumen) im Lohnforcierungsszenario positiv. Entsprechend liegt der Konsum aus Lohneinkommen über dem Referenzniveau. Gleiches gilt für die Transfereinkommen, die an die Lohndynamik gekoppelt sind. Die primäre Einkommensverteilung verschiebt sich in Richtung Arbeitseinkommen. Dagegen fällt der Konsum aus Gewinn- und Vermögenseinkommen geringer aus. In der Summe liegt der private Konsum im gesamten Betrachtungszeitraum stets über dem Referenzniveau. Er nähert sich zum Ende des Simulationshorizonts jedoch wieder dem Referenzniveau an.

Abbildung 2
Effekte auf ausgewählte Verwendungskomponenten und das BIP in Deutschland
Abweichung Lohnforcierungsszenario gegenüber Referenzszenario, in %
31387.png

Quelle: Prognos 2015.

Die Exporte fallen wegen der Lohnsteigerung und der damit einhergehenden Verschlechterung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit geringer aus als im Referenzszenario. Die Investitionen reagieren im Modell positiv auf die Auslastungssituation des Kapitalstocks und auf die Kapitalrendite sowie negativ auf das reale Zinsniveau. Das höhere inländische Konsumniveau bewirkt einen kurzfristigen positiven Investitionsimpuls. Investitionsdämpfend wirken die geringeren Exporte, die verschlechterte Gewinnsituation und das höhere Zinsniveau. Nach Auslaufen des Lohnimpulses überwiegen allmählich die negativen Effekte. Langfristig liegen die Investitionen im Fall einer Lohnforcierung daher unter den Referenzwerten.

Im Modell werden die Konsumausgaben des Staates mittel- und langfristig durch die Bevölkerungsdynamik und das Trendwachstum des BIP bestimmt. Kurzfristig ist auch die Situation der öffentlichen Haushalte relevant. Diese stellt sich im Lohnforcierungsszenario ungünstiger dar, weil das höhere Zinsniveau den Schuldendienst des Staates erschwert und weniger finanzielle Mittel für andere Staatsausgaben verbleiben. Der Staatskonsum fällt daher geringer aus als im Referenzszenario. Die Importe folgen näherungsweise der Dynamik der übrigen Verwendungskomponenten. In der Summe kann damit kurzfristig aufgrund des positiven Lohnimpulses ein insgesamt höheres BIP realisiert werden. Nach Auslaufen des Impulses überwiegen jedoch die negativen Effekte auf Seiten der Exporte und der Investitionen.

Auswirkungen auf den Rest der Welt

Im Fall einer Lohnforcierung verschlechtert sich die preisliche Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands. Andere Länder können deshalb weltweite Handelsanteile hinzugewinnen. Für die übrigen 41 Länder des VIEW-Modells hat das zunächst stärkere BIP-Wachstum in Deutschland in Kombination mit einer Verschlechterung der deutschen Wettbewerbsfähigkeit ein höheres Exportvolumen zur Folge und damit auch ein stärkeres BIP-Wachstum.

Der stärkere Lohnanstieg in Deutschland und die höhere Binnennachfrage erhöhen das Preisniveau in Deutschland und damit auch in der Eurozone. Die EZB reagiert darauf mit einer restriktiveren Geldpolitik, also höheren Zinsen. Damit gehen Investitionen in allen Eurostaaten zurück und liegen langfristig unter dem Niveau des Referenzszenarios. Dieser Investitionsrückgang wird nicht durch die höheren Exporte der anderen Länder kompensiert. Langfristig reduziert die Lohnforcierung in Deutschland somit das BIP in Deutschland und in der gesamten Eurozone, d.h. das BIP liegt unter dem Niveau des Referenzszenarios.

In den Ländern, die nicht Mitglied der Eurozone sind, kommt es zu keinem Rückgang der Investitionen, weil die restriktivere Geldpolitik der EZB diese Staaten nicht betrifft. Diese Länder profitieren somit von den höheren Exporten, ohne Investitionsrückgänge hinnehmen zu müssen. Daher hat die Lohnforcierung in Deutschland in den Ländern außerhalb der Eurozone langfristig ein höheres BIP als im Referenzszenario zur Folge. Die Auswirkungen einer Lohnforcierung bzw. Lohnzurückhaltung in Deutschland auf ausgewählte makroökonomische Variablen in Deutschland und im Ausland sind in Tabelle 1 dargestellt.

Tabelle 1
Effekte eines Lohnimpulses in Deutschland auf ausgewählte Variablen und das BIP Dritter
Abweichung gegenüber Referenzszenario in %
  -25%-Szenario +25%-Szenario
2020 2030 2020 2030
… in Deutschland
Privater Konsum, real -1,6 -0,7 3,1 1,6
Staatlicher Konsum, real 0,3 1,2 -0,9 -2,5
Investitionen, real -1,0 1,3 1,9 -2,4
Exporte, real 0,7 1,9 -1,2 -3,5
Importe, real -0,6 0,6 1,3 -1,0
Bruttoinlandsprodukt, real -0,4 0,9 0,8 -1,5
Erwerbstätige 0,8 1,1 -1,6 -3,0
Nettoexporte 10,3 10 -18,8 -19,0
… Bruttoinlandsprodukt Dritter
Rest Eurozone 0,0 0,2 0,0 -0,4
Eurozone insgesamt -0,1 0,3 0,1 -0,7
Andere VIEW-Länder 0,0 -0,1 0,1 0,2
Alle 42 VIEW-Länder -0,1 0,1 0,1 -0,1

Quelle: Prognos 2015.

Es muss betont werden, dass die skizzierten Ergebnisse einer Lohnforcierung bzw. -zurückhaltung von der spezifischen ökonomischen Ausgangssituation des betroffenen Landes abhängen. Die grundsätzlichen funktionalen Zusammenhänge sind zwar in allen VIEW-Ländern identisch. Abweichende historisch gegebene Gewichte wie etwa die Verwendungskomponenten (insbesondere privater Konsum versus Exporte) oder unterschiedliche Zinselastizitäten der Investitionen können den Gesamteffekt auf das BIP auch anders ausfallen lassen. Darüber hinaus werden in der Vergangenheit beobachtete „übliche“ geldpolitische Reaktionen der EZB unterstellt, die auch langfristig wieder als plausibel angenommen werden können. Länder mit einem geringeren Gewicht für die Eurozone bewirken zudem keinen Zinsanstieg in einem Maße, das sich derart negativ auf die Investitionstätigkeit in anderen Ländern der Eurozone auswirkt.

Lohnszenarien für die Eurozone

Um unter den aktuell gegebenen Umständen für die Eurozone eine lohnpolitische Strategie zu identifizieren, die der Referenzlösung – volle Ausschöpfung des Verteilungsspielraums in allen Ländern der Eurozone – hinsichtlich des langfristigen BIP überlegen ist, werden vier lohnpolitische Szenarien berechnet. Die 16 Euroländer, die im VIEW-Modell enthalten sind, werden dafür in zwei Gruppen geteilt: Die Volkswirtschaften der Gruppe A haben 2014 eine relativ hohe Auslastung der Produktionskapazitäten, konkret eine Überauslastung oder eine Unterauslastung von weniger als 2% der Produktionskapazitäten. Die Länder der Gruppe B verzeichnen eine Unterauslastung von mehr als 2%. Die Länder der wirtschaftsstarken Gruppe A sind Lettland, Estland, Litauen, Irland, Deutschland, Österreich und Belgien. Sie machen zusammen rund 40% der Wirtschaftsleistung der Eurozone aus. Gruppe B besteht aus Frankreich, Slowenien, Finnland, Slowakei, Niederlande, Italien, Portugal, Spanien und Griechenland. Die vier Szenarien sind:

  • eine temporäre Lohnzurückhaltung um 25% in beiden Gruppen,
  • eine temporäre Lohnforcierung um 25% in beiden Gruppen,
  • eine temporäre Lohnzurückhaltung um 25% in Gruppe A bei gleichzeitiger Lohnforcierung um 25% in Gruppe B, und
  • eine entsprechende Lohnforcierung in Gruppe A bei gleichzeitiger Lohnzurückhaltung in Gruppe B.

Abbildung 3 veranschaulicht die Ergebnisse der Simulationsrechnungen für den Zeitraum 2015 bis 2030. Die Eurozone profitiert sowohl insgesamt als auch differenziert nach beiden Ländergruppen langfristig am stärksten von einer kollektiven Lohnzurückhaltungsstrategie. Der Preis hierfür ist allerdings, dass vor allem die Krisenländer in Gruppe B vergleichsweise lange unter dem Referenzniveau liegen. Bei einer gemeinsamen Lohnforcierung in der Eurozone sind die kurzfristigen Gewinne am größten, allerdings gilt dies hier auch für die langfristigen Verluste. Verantwortlich hierfür ist die kombinierte Wirkung aus Exportverlusten und einer beschleunigten Lohn-Preis-Spirale mit einem entsprechenden Ansteigen des Zinsniveaus und negativen Auswirkungen auf die Investitionen.

Das Szenario, in dem die Länder der Gruppe A eine Lohnforcierungsstrategie und die der Gruppe B angehörenden Länder eine Lohnzurückhaltung betreiben, ist insbesondere für letztere wenig erfolgversprechend. Der negative Effekt auf den privaten Konsum dämpft die Binnennachfrage, und Zinssenkungen bleiben aufgrund der stärkeren Lohn-Preis-Dynamik in der Gruppe A aus. Das BIP der übrigen VIEW-Länder und das aller 42 VIEW-Länder entsprechen in etwa dem Referenzniveau. Günstiger sehen die Effekte in dem Alternativszenario aus, in dem die Länder der Gruppe A eine Lohnzurückhaltung verfolgen und die Krisenländer der Gruppe B eine Lohnforcierung betreiben. Die in ihren Konsequenzen negativen Zinseffekte für die Eurozone insgesamt werden so weitgehend vermieden und die Krisenländer profitieren von der kurz- und mittelfristig gestiegenen Binnennachfrage.

Abbildung 3
Effekte verschiedener Lohnszenarien auf das BIP Deutschlands und ausgewählter Ländergruppen
Abweichung gegenüber Referenzszenario in %
31608.png

Quelle: Prognos 2015.

Zusammenfassende Bewertung der Lohnszenarien

Es ist nicht einfach, aus den hier vorgestellten Simulationen lohnpolitische Empfehlungen abzuleiten. Unter anderem ist der Zeitpunkt der Betrachtung von großer Bedeutung: Der Effekt auf das BIP im letzten Jahr des Lohn­impulses (2020) unterscheidet sich in der Regel deutlich von dem am Ende des Betrachtungszeitraums (2030). So werden beispielsweise im Fall einer Lohnforcierung kurzfristig positive Wachstums- und Beschäftigungseffekte mit langfristig negativen Wachstumseffekten erkauft.

Auf den ersten Blick erscheint langfristig die gemeinsame Lohnzurückhaltung die beste Variante zu sein. Allerdings ist dieses Vorgehen mit zahlreichen Problemen und Risiken verbunden: Die Leistungsbilanzüberschüsse vieler Länder der Eurozone würden wegen der Lohnzurückhaltung zunehmen, z.B. auch in Deutschland. Die Länder außerhalb der Eurozone könnten auf die Verschlechterung ihrer Leistungsbilanzen ebenfalls mit Lohnzurückhaltungen und/oder mit einer Abwertung ihrer Währungen reagieren, was zu einem Race-to-the-Bottom und einer Destabilisierung der Weltwirtschaft führen könnte.

Damit das durch Exportsteigerungen getriebene Wirtschaftswachstum der Eurozone funktioniert, muss das Wirtschaftswachstum im Rest der Welt hoch sein, denn nur dann werden die Produkte der Eurozone dort gekauft. Die Exportstärke dürfte zudem zu einer Aufwertung des Euro führen, wodurch die exportgetriebene Wachstumsstärke der Eurozone gefährdet wäre. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass eine weitere fünfjährige Lohnzurückhaltung in den südeuropäischen Krisenstaaten politisch kaum durchsetzbar sein dürfte. Wegen der zu erwartenden globalen wirtschaftlichen Auswirkungen (steigende Leistungsbilanzungleichgewichte einer Beggar-my-Neighbour-Politik) und der gesellschaftspolitischen Auswirkungen in den südeuropäischen Krisenstaaten erscheint diese Lohnpolitik nicht sinnvoll.

Eine Lohnzurückhaltung in den A-Ländern und Lohnforcierung in den B-Ländern erscheint wirtschaftlich und gesellschaftspolitisch betrachtet eine bessere Variante zu sein. Sie hat kurz- und mittelfristig die größten Wachstumsimpulse und langfristig relativ geringe Wachstums­einbußen. Die B-Länder erzielen wegen der starken Lohnzuwächse eine höhere Binnennachfrage und damit ein entsprechendes Wachstum. Die A-Länder können die Rückgänge der Binnennachfrage durch Exporte zumindest teilweise kompensieren. Allerdings gibt es auch hier unerwünschte Nebeneffekte: Die Leistungsbilanzüberschüsse der A-Länder (also auch Deutschlands) würden weiter ansteigen, was die globalen Leistungsbilanzungleichgewichte erhöhen würde. Die Leistungsbilanzdefizite der B-Länder würden weiter ansteigen, damit würde auch die Auslandverschuldung der B-Länder wachsen. Die Stabilität der Eurozone wäre damit geschwächt. Diese Lohnsetzungsstrategie würde daher langfristig Transferleistungen zur Stabilisierung der Eurozone verlangen.

Eine Lohnforcierung in den A-Ländern und Lohnzurückhaltung in den B-Ländern stellt die für die B-Länder ungünstigste Variante dar, weil die verbesserte internationale Wettbewerbsfähigkeit nicht ausreicht, um die sinkende Binnennachfrage (sinkende Konsumnachfrage wegen Lohnzurückhaltung und sinkende Investitionen wegen der Zinssteigerung als Reaktion der EZB auf Preissteigerung in den A-Ländern) zu kompensieren. Zudem ist an die gesellschaftspolitische Schwierigkeit der Durchsetzbarkeit weiterer Lohnsenkungen in den südeuropäischen Krisenländern zu erinnern.

Auch eine gemeinsame Lohnforcierung erscheint nicht sinnvoll, weil damit alle Eurozonen-Länder an internationaler Wettbewerbsfähigkeit verlören. Vor allem in den B-Ländern würden die Leistungsbilanzdefizite und die Auslandsverschuldung weiter ansteigen.

Wirtschaftspolitische Implikationen

Auf Dauer ist eine produktivitätsorientierte (Real-)Lohnpolitik in allen Ländern die beste Lösung. Die zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der Krisenländer intuitiv beste Strategie (wirtschaftlich starke Länder haben Lohnsteigerungen oberhalb der Produktivitätsfortschritte, wirtschaftlich schwache Länder üben Lohnzurückhaltung aus) ist aus Sicht der Krisenländer die ungünstigste Lösung. Grund dafür ist der Umstand, dass die Lohnzurückhaltung die Binnennachfrage dämpft und der preissteigernde Effekt in den wirtschaftlich starken Ländern zu einer Zinssteigerung in der Eurozone führt, die die Investitionen dämpft. Die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Krisenländer kann sich durch diese Strategie nur dann schneller verbessern, wenn ergänzende wirtschaftspolitische Maßnahmen stattfinden:

  • Eine moderate Lohnforcierung in den wirtschaftlich starken Ländern steigert dort Binnennachfrage und Wachstum. Hiervon profitieren die wirtschaftlich schwachen Länder, weil in den wirtschaftlich starken Ländern auch die Nachfrage nach Importen steigt. Die höhere Nachfrage führt jedoch zu einem Preisanstieg, auf den die EZB mit Zinssteigerungen reagiert, die sich negativ auf die Investitionen der gesamten Eurozone auswirken. Um den Investitionsrückgang zu verhindern, müsste die EZB ein höheres Inflationsziel akzeptieren. Dies würde die sonst notwendigen Zinssteigerungen verhindern. Zudem müssen wirtschaftlich starke Länder wie Deutschland Exportrückgänge akzeptieren. Risiko: Ein – wenn auch kurzfristiges – Abweichen der Zentralbank vom gesetzten Inflationsziel könnte auch die langfristigen Inflationserwartungen der lohnpolitischen Akteure anheben, da das Inflationsziel nun verhandelbar erscheinen würde. Die Glaubwürdigkeit der EZB wäre stark beschädigt. Man würde sich der Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale – und zwar in den A- wie in den B-Ländern – und langfristig höheren Inflationsraten aussetzen.
  • Eine moderate Lohnzurückhaltung in den wirtschaftlich schwachen Ländern erhöht zwar deren internationale preisliche Wettbewerbsfähigkeit, schwächt aber auch die Binnennachfrage. Zur Kompensation dieses Nachfrageausfalls müssten die Investitionen gesteigert werden. Zur Finanzierung dieser Investitionen wäre es denkbar, dass die EU in den wirtschaftlich schwachen Ländern ein Investitionsprogramm auflegt, das private und öffentliche Investitionen fördert. Damit würde sich auch die Produktivität erhöhen, was die internationale Wettbewerbsfähigkeit weiter steigert. Eine weitere Flankierung besteht aus einer Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit durch eine verbesserte Infrastruktur, Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten, Verbesserung des Ausbildungssystems etc. Auch hierzu müssten Transferzahlungen der EU eingesetzt werden.

Im Ergebnis ist festzuhalten: Temporäre Lohnzurückhaltung in den wirtschaftlich schwachen Ländern ist nur dann ein Element zur Wiedergewinnung der Wettbewerbsfähigkeit, wenn sie wirtschaftspolitisch flankiert wird. Zu dieser Flankierung gehören Lohnforcierungen in den wirtschaftlich starken Ländern, Transferzahlungen zur Förderung von Investitionen und die – zumindest temporäre – Akzeptanz höherer Inflationsraten in der Eurozone.

  • 1 Vgl. Prognos AG: Das Prognos Weltwirtschaftsmodell VIEW, Basel 2013.
  • 2 Vgl. zu den nachfolgenden Ausführungen Bertelsmann Stiftung (Hrsg.): Lohnsetzungsstrategien für die Eurozone, Gütersloh 2015.

Title:Wage Stimuli and Economic Growth – A Simulation Analysis for the Eurozone

Abstract:Since the global financial and economic crisis, the question has arisen whether a policy of wage restraint could lead the European crisis countries back onto a more stable growth path. Using simulation calculations for varying wage setting strategies in Europe through 2030, the advantages and disadvantages of such a scenario can be discussed. One of the main findings is that temporary wage restraint in the economically weak countries only works as a means to regaining competitiveness if accompanied by other economic policies at the European level. These policies include higher wage growth in the economically stronger countries, transfer payments to foster investments and the acceptance of higher inflation rates in the eurozone.


DOI: 10.1007/s10273-016-1936-x

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