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Erinnern Sie sich noch an die Geschichte vom „New Machine Age“1? Abbildung 1 erzählt etwas Anderes: Die Wachstumsraten der Arbeitsproduktivität (d.h. Wertschöpfung pro Arbeitsstunde) in den USA, der EU, Japan, aber auch in Deutschland waren seit 1950 noch nie so niedrig wie in den letzten zehn Jahren. Da die Wertschöpfung per Definition mit dem Nationaleinkommen übereinstimmt, gibt es pro Arbeitsstunde nur noch sehr wenig (extra) zu verteilen zwischen Arbeit, Kapital und Staat. Dies hat erhebliche Konsequenzen für die Löhne, die Gewinne und/oder den öffentlichen Sektor. Darüber hinaus stimmt Abbildung 1 auch pessimistisch mit Sicht auf den demografischen Wandel.

Abbildung 1
Wachstumsraten der Arbeitsproduktivität in ausgewählten OECD-Ländern
gleitende Dreijahresdurchschnitte in %
Wachstumsraten der Arbeitsproduktivität in ausgewählten OECD-Ländern

Quelle: The Conference Board: The Conference Board Total Economy Database™ (Adjusted version), November 2016, http://www.conference-board.org/data/economydatabase/.

Auf der Suche nach Erklärungen für die Produktivitätskrise dienen sich mehrere Kandidaten an. So hat Richard Koo die These einer „Bilanzrezession“ formuliert.2 Vor der Finanzkrise 2007/2008 haben viele (Finanz-)Unternehmen und Privatpersonen Vermögenswerte (oft auf Kredit) in der Hoffnung auf (weitere) Wertsteigerungen angeschafft. Seit dem Platzen der Vermögenspreisblasen 2008 haben viele Vermögenswerte an Wert verloren. Verluste lassen sich nur ausgleichen, wenn die Einnahmen größer als die Ausgaben sind. Was auf Mikroniveau vernünftig ist, funktioniert jedoch leider nicht auf Makroniveau: Im makroökonomischen Kreislauf sind nun einmal die Ausgaben des einen die Einkünfte eines anderen. Wollen viele zugleich mehr einnehmen als ausgeben, dann kann das nicht funktionieren. Keynesianische Politikansätze können hier sinnvoll sein: Irgendjemand (z.B. der Staat) muss schließlich bereit sein, mehr auszugeben als einzunehmen, damit andere mehr einnehmen können als sie ausgeben. Austeritätspolitik ist hier keine Lösung.

Eine zweite interessante Erklärung kommt von David Gordon. Der IT-Boom in den USA, der zwischen 1995 und 2005 die Wachstumsraten der Arbeitsproduktivität (und der totalen Faktorproduktivität) deutlich erhöht hat, ist über seinen Höhepunkt hinaus. Inzwischen arbeiten relativ weniger Menschen in jungen Betrieben, es gibt weniger Start-ups und auch der Einsatz von Wagniskapital hat deutlich abgenommen. Auch das „Gesetz von Moore“ gilt nicht mehr. Die Verdoppelung der Rechenkraft eines Computerchips dauert inzwischen nicht mehr zwei Jahre (oder weniger), sondern vier bis sechs Jahre.3 Das Silicon Valley leidet unter abnehmenden Grenzerträgen.

Dieser Beitrag konzentriert sich auf eine dritte Erklärung: das Plädoyer der Angebotstheoretiker für durch Strukturreformen deregulierte und flexibilisierte Arbeitsmärkte. Aus Sicht der neoklassischen Theorie (insbesondere der Angebotstheorie) ist es naheliegend, für unternehmerische Freiheit und damit für die Flexibilisierung von Arbeitsmärkten zu plädieren. Kernpunkte sind dabei die Lockerung des Kündigungsschutzes und Lohnflexibilität (nach unten) sowie der Abbau von als zu großzügig eingestuften Sozialleistungen. Je mehr Flexibilität, desto leichter könne der Arbeitsmarkt sich an verändernde Umstände anpassen und ins Gleichgewicht finden.

Wie kann eine solche Politik die Innovation und das Produktivitätswachstum negativ beeinflussen? Mit Hilfe der „Varieties-of-Capitalism-Theorie“ lässt sich eine Antwort finden. Albert,4 Hall und Soskice5 unterscheiden zwei Ausprägungen des Kapitalismus: 1. angelsächsische „Liberal Market Economies“ (LME) mit weitgehend flexibilisierten Arbeitsmärkten und 2. „Coordinated Market Economies“ (CME) in Europa und Japan mit regulierten Arbeitsmärkten. Letztere werden auch als „rheinländisches Modell“ bezeichnet. Die Diagnose der Angebotstheoretiker lautet: Das alte Europa muss sich in Richtung der liberalisierten Marktökonomien bewegen, aber die Politik zögert zu lange damit, Strukturreformen umzusetzen.

Einfache beschreibende Statistiken zeigen, dass dort wo die Strukturreformen schon stattgefunden haben (in den LME) das Lohnwachstum langfristig viel geringer ist als in den CME des rheinländischen Typs.6 Offenbar wirken die Strukturreformen des Arbeitsmarktes disziplinierend auf den Faktor Arbeit und bewirken automatische Lohnzurückhaltung. Vergeer und Kleinknecht zeigen mit Panelanalysen von 20 OECD-Ländern (1960 bis 2004), dass Lohnzurückhaltung das Wachstum der Arbeitsproduktivität signifikant negativ beeinflusst. Und die Effekte sind substanziell: 1% weniger (bzw. mehr) Reallohnerhöhung bewirkt ein durchschnittlich 0,32% bis 0,49% niedrigeres (bzw. höheres) Wachstum der Wertschöpfung pro Arbeitsstunde.7

Wie ist dies theoretisch zu erklären? Die neoklassische Theorie kennt drei Lehrmeinungen, die hier interessant sind. Die älteste bezieht sich auf die Substitution zwischen Arbeit und Kapital8 sowie die damit verwandte Theorie der induzierten Innovation.9 Etwas weniger bekannt sind Jahrgangsmodelle des Kapitalstocks. Es lässt sich argumentieren, dass das Ausrangieren älterer Kapitalgüter bzw. die Einführung neuer Kapitalgüter (mit höherer Produktivität) von den Löhnen abhängt: Eine expansive Lohnpolitik erzwingt das schnellere Ausrangieren von alten Kapitalgütern, die durch die Lohnerhöhungen unrentabel werden. Da viel technischer Fortschritt in neuen Kapitalgütern „inkorporiert“ ist, wächst mit steigenden Löhnen die Arbeitsproduktivität schneller.10 Eine vierte Erklärung bezieht sich auf die Schumpetersche schöpferische Zerstörung. Hier kann argumentiert werden, dass technologisch führende Unternehmen dank ihrer Monopolgewinne aus der Innovation ohne große Mühe höhere Löhne bezahlen können, während Lohnerhöhungen für die technologischen Nachzügler problematisch sein können. Eine expansive Lohnpolitik fördert also Schumpeters Prozess der schöpferischen Zerstörung, wobei die besseren Betriebe die schlechteren wegkonkurrieren (oder zur Modernisierung zwingen).11

Alle vier Argumente können erklären, warum etwa die Niederlande in einer langen Periode der Lohnzurückhaltung seit den frühen 1980er Jahren auffallend niedrige Produktivitätszuwächse verbucht haben.12 Aber Deregulierung des Arbeitsmarktes nach angebotstheoretischem Rezept hat noch andere Nachteile für Innovationen. So führt die Lockerung des Kündigungsschutzes unvermeidlich zu mehr Personalwechsel. Letzteres behindert das Funktionieren des Innovationsmodells, das als „Schumpeter-II-Innovationsmodell“ oder oft auch als das Modell der „kreativen Akkumulation“ (zuweilen auch als „Routinemodell“ der Innovation) bezeichnet wird. Das Schumpeter-II-Modell ist für die Produktion von innovativen und komplexen Industrieprodukten sowie für kenntnisintensive Dienstleistungen relevant.13 „Kreative Akkumulation“ bedeutet, für die schrittweise Verbesserung von Produkten, Prozessen oder Systemen langfristig Kenntnisse zu sammeln. Mit zunehmenden Personalwechseln wird dies schwieriger, vor allem wenn es um betriebsspezifische, oft schlecht dokumentierte und personengebundene Erfahrungskenntnisse (Tacit Knowledge) geht.

Auch betriebliche Weiterbildung lohnt sich dann weniger und das organisatorische „Gedächtnis“ kann geschwächt werden, wodurch alte Fehler wiederholt werden. Mit flüchtigeren Arbeitsbeziehungen nimmt auch die Bindung und Loyalität an den Betrieb ab, wodurch Betriebsgeheimnisse und technologische Kenntnisse leichter zu Konkurrenten abfließen. Geringere Loyalität erzwingt mehr Monitoring & Controling. So haben angelsächsische Länder mit ihren flexiblen Arbeitsmärkten mehr als doppelt so starke Managementbürokratien wie die Unternehmen im alten Europa.14 Diese Managementbürokratien stellen kristallisiertes Misstrauen dar. Sie schaffen nicht nur hohe Gemeinkosten, sie sind auch ein Ärgernis für innovative Denker.

Alles in allem verschieben die angebotstheoretisch motivierten Strukturreformen das Kräfteverhältnis zugunsten des Top-Managements. Dies fördert Duckmäusertum und Sonnenkönigverhalten, wobei das Management wenig von Kenntnissen von unten Gebrauch macht. Es lässt sich sogar argumentieren, dass Menschen, die leicht zu entlassen sind, Motive haben, Informationen über effizientere Arbeitsmethoden zu verbergen, aus Angst überflüssig zu sein und entlassen zu werden. Ein anderer Aspekt der Angstkultur besteht darin, dass Arbeitnehmer bei der Suche nach Problemlösungen die Neigung entwickeln, die am wenigsten riskante Lösung zu wählen. Riskantere Lösungen würden für den Betrieb oft mehr bringen, können aber auch leichter missglücken und dies kann mit Entlassung bestraft werden. So zeigen Acharya et al., dass eine Verbesserung des Kündigungsschutzes signifikante Folgen für die Zahl und Qualität von Patenten hatte.15

Zum Schluss spielt noch ein anderes Argument eine wichtige Rolle. Fester Bestandteil des angebotstheoretischen Reformprogramms ist das Streben nach dezentralen Tarifverhandlungen und die Abschaffung von Flächentarifverträgen, die als „Arbeitsmarktrigidität“ interpretiert werden. Wenn künftig nicht mehr auf Branchen-, sondern auf Betriebsniveau verhandelt wird (ohne Flächentarifverträge), dann können Gewerkschaften bei Betrieben, wo Arbeitsplätze in Gefahr sind, die Lohnforderungen senken, während man in Betrieben, denen es gut geht, mehr fordern kann. Dies läuft dann darauf hinaus, dass der Schumpetersche Prozess der „schöpferischen Zerstörung“ nicht mehr funktioniert, da innovative Unternehmungen, die hohe Monopolgewinne erwirtschaften, mit höheren Lohnforderungen bestraft, während die technologischen Nachzügler mit Lohnopfern belohnt werden. Die Nachzügler erfahren damit weniger Modernisierungsdruck. Dies kann übrigens erklären, warum etwa in den USA die Lücke zwischen innovativen Pionieren und Nachzüglern größer geworden ist.16

Übrigens wird von der Troika im Moment in Südeuropa (vor allem in Griechenland) eine solche Dezentralisierung von Tarifvertragsverhandlungen erzwungen. Wenn die Angebotstheorie hier erfolgreich ist, verlieren die Südländer einen wichtigen Mechanismus, der eine schnelle Diffusion von moderner Prozesstechnologie fördert.

Allerdings hat ein niedriges Innovationstempo auch einen großen Vorteil. Es ist günstig für die Beschäftigung. Mit weniger Robotern sind nun einmal mehr Menschen nötig. Wir können also konstatieren, dass die Angebotsökonomen recht haben: Der Mix von Lohnzurückhaltung und Deregulierung des Arbeitsmarktes führt zu mehr Beschäftigung. Allerdings vor allem zu schlecht bezahlter und prekärer Beschäftigung, was unter anderem durch das geringe Produktivitätswachstum erzwungen wird. Ein Beispiel sind die deutschen Hartz-Reformen. Nach „Hartz“ läuft das Stellenwachstum besser (vor allem von atypischen Stellen). Allerdings zeigt Abbildung 1 auch, dass die Wachstumsraten der deutschen Arbeitsproduktivität inzwischen dramatisch gesunken sind. Ironie der Geschichte: Die angebotstheoretisch motivierten Arbeitsmarktreformen schaffen Zustände, die die Älteren unter uns noch an die osteuropäischen Planwirtschaften erinnern – perfekte Vollbeschäftigung, allerdings bei sehr niedrigen Löhnen und mit geringer Produktivität.

Aus der Perspektive der walrasianischen Neoklassik ist es eine Selbstverständlichkeit, kräftig für Strukturreformen des Arbeitsmarktes zu plädieren. Aber leider taugt das nicht aus einer schumpeterischen Innovationsperspektive. Was aus walrasianischer Sicht (für die effiziente Allokation knapper Mittel) „gut“ ist, ist oft schädlich für die Innovation, die Mittel weniger knapp macht. Walras verträgt sich schlecht mit Schumpeter. Das walrasianische Denken dominiert noch immer die Politikberatung; und die keynesianischen Opponenten interessieren sich wenig für Innovationsforschung. Das Muster aus Abbildung 1 wird uns wohl noch lange beschäftigen.

  • 1 E. Brynjolfsson, A. McAfee: The second machine age, New York 2014.
  • 2 R. C. Koo: The world in balance sheet recession: causes, cure, and politics, in: Real-world Economics Review, 58. Jg. (2011), S. 19-37.
  • 3 D. M. Gordon: The rise and fall of American Growth, Princeton 2016.
  • 4 M. Albert: Capitalism against capitalism, London 2003.
  • 5 P. A. Hall, D. Soskice: Varieties of Capitalism. The Institutional Foundations of Comparative Advantage, Oxford 2001.
  • 6 Vgl. https://www.conference-board.org/data/economydatabase/.
  • 7 R. Vergeer, A. Kleinknecht: Does labor market deregulation reduce labor productivity growth? A panel data analysis of 20 OECD countries (1960-2004), in: International Labour Review, 153. Jg. (2014), H. 3, S. 365-394; R. Vergeer, A. Kleinknecht: The impact of labor market deregulation on productivity: A panel data analysis of 19 OECD countries (1960-2004), in: Journal of Post-Keynesian Economics, 33. Jg. (2011), H. 2, S. 369-404.
  • 8 J. R. Hicks: The theory of wages, London 1932.
  • 9 P. A. Samuelson: A theory of induced innovation along Kennedy-Weizsacker lines, in: Review of Economics and Statistics, 47. Jg. (1965), S. 343-356.
  • 10 Vgl. etwa H. S. Tjan, H. Den Hartog: A clay-clay vintage model approach for sectors of industry in the Netherlands, in: De Economist, 128. Jg. (1980), S. 129-188.
  • 11 A. Kleinknecht: Is labour market flexibility harmful to innovation?, in: Cambridge Journal of Economics, 22. Jg. (1998), S. 387-396.
  • 12 C. W. M. Naastepad, A. Kleinknecht: The Dutch productivity slowdown: The culprit at last?, in: Structural Change and Economic Dynamics, 15. Jg. (2004), S. 137-163.
  • 13 M. Peneder: Technological regimes and the variety of innovation behaviour: Creating integrated taxonomies of firms and sectors, in: Research Policy, 39. Jg. (2010), H. 3, S. 323-334.
  • 14 A. Kleinknecht, Z. Kwee, L. Budyanto: Rigidities through flexibility: Flexible labour and the rise of management bureaucracies, in: Cambridge Journal of Economics, 40. Jg. (2016), H. 4, S. 1137-1147.
  • 15 V. V. Acharya, P. B. Ramin, V. S. Krishnamurthy: Labour laws and innovation, NBER Working Paper, Nr. 16484, Cambridge MA 2010.
  • 16 Vgl. OECD: The Future of Productivity, Paris 2015.

Title:Supply-Side Economics: Little Innovation – Many Jobs!

Abstract:Deregulation of labour markets through structural reforms as proposed by supply­side economists has a negative impact on innovation and brings down the growth rates of labour productivity. This paper discusses why the Schumpeter II innovation model is functioning poorly with higher labour turnover. Deregulation of labour markets also changes power relations between capital and labour, which leads to lower wage growth. Panel data analyses show that a one per cent lower wage increase leads to 0.32-0.49% lower growth of value added per labour hour.

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DOI: 10.1007/s10273-017-2118-1