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Verschiedene repräsentative Erhebungen und methodische Ansätze zeigen, dass gegenwärtig das Thema „Fluchtzuwanderung“ ganz weit oben auf der Liste der politischen Themen steht. Gleichzeitig ist die Bedeutung der Kategorie „Gerechtigkeit“ zurückgegangen. Offenbar verbinden viele Menschen das Thema Fluchtzuwanderung mit Gerechtigkeitsüberlegungen, d.h. viele empfinden die Aufnahme von Geflüchteten im Vergleich mit ihrer eigenen Situation als ungerecht. Ein kleiner Teil hält es allerdings explizit für ungerecht, wie mit Geflüchteten umgegangen wird, und ein relativ großer Anteil macht sich Sorgen um Ausländerfeindlichkeit in Deutschland.

Im Mittelpunkt dieses Beitrags steht eine repräsentative Befragung von in Deutschland Wahlberechtigten im Januar 2017, die zeigt, welche prioritären Themen genannt werden, wenn Befragte offen nach Stichworten gefragt und erst bei der Analyse diese kurzen Texte verarbeitet und kategorisiert werden. Um ein aussagekräftiges Bild zu erreichen, werden die Ergebnisse von 2017 mit einer Test-Erhebung von 2015 und mit Zeitreihen aus der Längsschnittstudie Sozio-oekonomisches Panel (SOEP) von 2000 bis 2015 verglichen. So kann aus verschiedenen methodischen Perspektiven die Frage nach den politischen Prioritäten der Bürger diskutiert werden.

Ebenso wie es unterschiedliche Methoden gibt, mit Wahlen den „Volkswillen“ zu ermitteln, gibt es auch unterschiedliche Methoden, mit Hilfe von repräsentativen Erhebungen die Wünsche des Wahlvolkes zu erforschen. Und ebenso wie bei Wahlen das konkrete System der Wahl entscheiden kann, wer gewinnt (wie dies beispielhaft die US-Präsidentenwahl 2016 gezeigt hat), hängt auch das Ergebnis einer Befragung in nicht unerheblichem Maße von der gewählten Methode ab.

In Meinungsumfragen werden vorwiegend sogenannte „geschlossene Fragen“ gestellt, d.h. für eine Frage, beispielsweise nach den Sorgen, die die Menschen sich machen, werden konkrete Antwortalternativen vorgegeben. Dabei kann es passieren, dass im Grenzfall Antwortvorgaben gewählt werden, die übertrieben sind, da die Befragten meinen, sie würden damit ihre Problemwahrnehmungskompetenz unter Beweis stellen. Geschlossene Fragen mit Antwortvorgaben provozieren also übertriebene Antworten. Zudem können Antworten, die gar nicht zur Auswahl stehen, auch nicht gegeben werden. In unserem Beispiel ist dies bei der Erhebung von relevanten Politikzielen 2013 und 2017 für den Bereich „Fluchtzuwanderung“ der Fall (und im weiteren Sinne auch für den übergeordneten Themenkomplex „Migration“): Da die geschlossenen Abfragen zu wichtigen politischen Zielen sich hier an regierungsamtlichen und parlamentarischen Indikatorenkatalogen orientiert haben, in denen Probleme im Zusammenhang mit Migrationsprozessen nicht berücksichtigt werden, fiel dieser Problembereich aus der Kernbefragung heraus. Unter anderem deswegen haben wir im Januar 2017 im Rahmen dieser Erhebung eine zusätzliche offene Frage nach dem derzeit wichtigsten politischen Problem in Deutschland gestellt. Dabei ist zu bedenken, dass auf diese Frage immer mindestens ein Problem – sei es wirklich groß oder eher nebensächlich – genannt wird. Dabei werden eher gut „greifbare“ als abstrakte Probleme genannt.

Befragung zur Relevanz politischer Ziele

Im Mittelpunkt dieses Beitrags stehen Ergebnisse einer repräsentativen Befragung, die Kantar Public im Januar 2017 zusammen mit dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin zur Relevanz ausgewählter politischer Ziele bei 1016 Wahlberechtigten in Deutschland durchgeführt hat. Das Hauptziel der Erhebung bestand darin, anhand einer Liste von vorgegebenen Politikzielen, deren Bedeutung bei den Wahlberechtigten zu erheben und das Ergebnis mit einer ähnlichen Befragung 2013 zu vergleichen.1 Der Schwerpunkt der Analyse dieses Beitrags liegt jedoch auf der ebenfalls gestellten Frage nach dem gegenwärtig „wichtigstem politischen Problem“. Dabei wurde keine Liste vorgegeben, sondern die Befragten konnten am Telefon Stichworte nennen.

Die Frage nach dem wichtigstem politischen Problem, mit dem ein Land konfrontiert ist, ist eine Standardfrage der Wahl- und Einstellungsforschung, die in den USA durch Gallup seit 1935 und in Großbritannien seit 1947 in regelmäßigen Abständen erhoben wurde.2 Die Frage findet sich auch seit 1956 in Befragungen zu den politischen Einstellungen der Menschen in Deutschland. Individualdaten sowie aggregierte Zeitreihen zu den wichtigsten politischen Problemen werden in der Wahl- und Einstellungsforschung zur Analyse von Prozessen der selektiven Informationsverarbeitung sowie der Erklärung der individuellen Wahlentscheidung verwendet.3

Dieselbe Frage wurde bereits 2015 testweise den Befragten des SOEP gestellt, die für einen „Bürgerdialog“ mit der Kanzlerin ausgewählt wurden (bzw. zu einer Kontrollgruppe gehörten).4 Aus diesem Datenfundus liegen für 216 Personen Angaben vor. Da sowohl vor als auch nach dem Bürgerdialog dieselbe Frage gestellt wurde, liegen insgesamt 289 verwertbare Nennungen vor.5 Zusammen mit den Nennungen der Erhebung 2017 können folglich 1305 Nennungen ausgewertet werden. Die dabei genannten Stichworte wurden zweifach analysiert: Zum ersten wurden die Worte mit Hilfe automatischer Textverarbeitung6 in Form von Schlagwort-Wolken (Word Clouds) dargestellt. Zum zweiten wurden die Stichworte mit Hilfe einer Kategorisierung analysiert, wobei die Codierung nicht automatisch, sondern durch drei unabhängig voneinander arbeitende Vercoder erfolgte (vgl. Kasten 1). Diese Ergebnisse können mit Zeitreihen des „Politbarometers“ der Forschungsgruppe Wahlen verglichen und eingeordnet werden.7 Hier wird regelmäßig gefragt: „Was ist Ihrer Meinung nach gegenwärtig das wichtigste Problem in Deutschland?“ (im Gegensatz zur Standardfrage wird also der Begriff „politisch“ weggelassen). Die Angaben der telefonisch Befragten werden direkt von den Interviewern anhand einer Stichwortliste (mit etwa 50 Einträgen) erfasst, während für die in dieser Studie dargestellten Befragungsergebnisse eine Vercodung erst im Rahmen der Auswertung durch die drei Vercoder durchgeführt wurde.

Die Ergebnisse der Klartext-Erhebungen 2017 und 2015 werden mit Ergebnissen weiterer Erhebungen verglichen: zunächst mit dem Ergebnis einer Klartextfrage, die im Rahmen des SOEP 2015 erhoben wurde. Damals wurde gefragt, was den Befragten „wichtig im Leben ist“8. Diese Resultate werden mit Ergebnissen für 2017 zur Relevanz verschiedener Politikbereiche, die in Form einer Liste von 20 Politikfeldern vorgegeben wurden, verglichen. Weiterhin wird auch eine Zeitreihe spezifischer Sorgen, die die Befragten in der Längsschnittstudie SOEP seit 2000 angeben, verglichen. Schließlich werden Ergebnisse spezieller Umfragen zur Akzeptanz von Geflüchteten, die im Rahmen des SOEP erhoben werden, zur Abrundung des Bildes herangezogen.

Kasten 1
Eigenschaften und Codierung

Im Frühjahr 2015 (spezielle Vor- und Nachbefragung im Rahmen des SOEP) und im Januar 2017 (einmalige Befragung) wurde repräsentativ ausgewählten Befragten am Telefon unter anderem die Frage gestellt: „Was ist das gegenwärtig wichtigste politische Problem in Deutschland?“ Die Unterschiede in der Zahl der notierten Zeichen und Worte hängen von der unterschiedlichen Bereitschaft der Telefoninterviewer 2015 und 2017 ab, mehr oder weniger Worte zu notieren. Bei der Erstbefragung 2015 wurden durchschnittlich 21,1 Zeichen (mit Minimum und Maximum von 4 und 97) und 2,3 Worte (mit Minimum und Maximum von 1 und 17) genannt; und bei der Nachbefragung 2015 durchschnittlich 15,7 Zeichen (mit Minimum und Maximum von 4 und 55) und 1,5 Worte (mit Minimum und Maximum von 1 und 9). Bei der Erhebung 2017 wurden durchschnittlich 27,1 Zeichen (mit Minimum und Maximum von 3 und 214) und 3,9 Worte (mit Minimum und Maximum von 1 und 38) genannt.

Über die Text-Analyse der Stichworte hinaus steht die Analyse der kategorisierten Antworten in diesem Beitrag im Mittelpunkt. Zu diesem Zweck wurden die genannten Stichworte codiert.1 Anhand der Stichworte und Texte wurde ein Kategorienschema entwickelt. Die konkreten Codierungen wurden von studentischen Mitarbeitern der Längsschnittstudie SOEP am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin unabhängig voneinander vorgenommen: Laura Lükemann (Universität Bielefeld), Tabea Naujoks (Freie Universität Berlin) und Wiebke Nestler (Universität Leipzig) gilt unser Dank.

Zunächst wurde jede Nennung einer von 22 Basiskategorien zugeordnet. Im nächsten Schritt wurden jeweils mehrere Basiskategorien (und die entsprechenden Nennungen) einer von insgesamt sieben Analysekategorien zugeordnet. Schließlich wurden die Daten der drei Vercodungen harmonisiert: Lagen bei einzelnen Einordnungen unterschiedliche Kategorisierungen vor, galt zunächst das Mehrheitsprinzip: Glichen sich mindestens zwei Einordungen, wurde die entsprechende Kategorie belegt (99% der Fälle). Unterschieden sich alle drei Vercodungsergebnisse bei einer Nennung voneinander, erfolgte die Zuordnung in eine der drei Analysekategorien nach dem Zufallsprinzip (1% der Fälle).

Obwohl bei der Erhebung ausdrücklich gesagt wurde, dass nur ein Politikbereich, nämlich der wichtigste, genannt werden sollte, haben einige Befragte mehr als einen Bereich genannt. Wir haben nur die ersten Nennungen ausgewertet (aus insgesamt 1470 Nennungen), sodass die Zahl der genannten Bereiche 1305 beträgt (1016 aus dem Jahr 2017 und 289 aus dem Jahr 2015). Auf Basis der Original-Codes, also der direkten Einordnung in die Sub-Kategorien, sind von 1305 vergebenen Werten 1014 bei allen drei Codierern identisch. Das sind 78%. Von den übrigen 291 Freitexten wurden 266 von zwei Codierern identisch vercodet (20% aller Nennungen; 91% der nicht eindeutigen Codierungen). Nur bei 25 Nennungen (2% bzw. 9%) unterscheiden sich alle drei Codierungen. Bei den zusammengefassten Kategorien, die in der Analyse verwendet werden, sind 1138 (87%) Angaben auf Basis der Original-Vercodungen dreimal in der gleichen Kategorie, 159 (12%) zweimal in der gleichen Kategorie und nur acht (1%) in drei unterschiedlichen Kategorien. Für die Analysen wurde entweder die Mehrheit der vergebenen Codes benutzt (99% aller Nennungen) oder im Falle dreier unterschiedlicher Codes zufällig ein Code ausgewählt.

  • 1 Vgl. für das Konzept, die Qualität der Codierung, für die eine speziell programmierte Software benutzt wurde, T. Naujoks, W. Nestler, M. Brümmer: Die Codierung von Klartexten zum wichtigsten politischen Problem in Deutschland – Prinzipien der Codierung und Dokumentation der Ergebnisse für 2015 und 2017, SOEPsurvey Paper (in Vorbereitung).

Empirische Ergebnisse

Abbildung 1 zeigt, dass das Thema Arbeitslosigkeit – gemessen an Antworten zur Frage nach dem „wichtigsten Problem“ – viele Jahre das dominierende Problem in der Wahrnehmung der Bürger in Deutschland war. In der Phase der höchsten Arbeitslosigkeit um 2005 nannten bis zu 90% der Befragten des Politbarometers dieses Thema. Erst mit der deutlichen Abnahme der Arbeitslosenzahlen und dem Anstieg der Fluchtzuwanderung wird ab 2015 das Thema Ausländer/Integration/Geflüchtete von der Mehrheit der Bevölkerung stärker als Arbeitslosigkeit wahrgenommen. Arbeitslosigkeit wird von nur noch etwa 5% der Befragten als wichtigstes Problem genannt, während „Ausländer/Integration/Geflüchtete“ Ende 2015 von nahezu 90% der Befragten als wichtigstes Problem genannt wurde. Seit Mitte 2016 nimmt dieser Wert jedoch stetig ab und schwankt im Januar 2017 schließlich zwischen 50% und 60%.9

Abbildung 1
Wichtige Probleme in Deutschland seit Januar 2000
maximal zwei Nennungen, in %
33599.png

Quelle: Forschungsgruppe Wahlen: Politbarometer, Erhebungszeitraum Januar 2000 bis Februar 2017.

Angesichts der permanenten öffentlichen Diskurse über „Ungleichheit“ und „Gerechtigkeit“ mag es überraschen, dass diese Bereiche nicht deutlich in den Nennungen erkennbar sind. Dabei ist freilich zu bedenken, dass die durchschnittliche Lebenszufriedenheit in Deutschland seit 2004 stetig angestiegen ist.10 Und eine aktuelle Allensbach-Umfrage11 zeigt, dass eine Mehrheit der Befragten die Berichterstattung in Deutschland über „soziale Unterschiede“ für unglaubwürdig hält. Ein Teil der Skeptiker glaubt sicherlich, dass die sozialen Unterschiede untertrieben werden. Angesichts der seit Jahren stattfindenden Berichterstattung und Kommentare, die Armut und Ungleichheit betonen, ist jedoch davon auszugehen, dass die Mehrheit der Skeptiker die mediale Behandlung sozialer Ungleichheit für übertrieben hält. Allerdings kontrastiert dies mit den Ergebnissen repräsentativer Erhebungen zum Thema Ungleichheit: So stimmen etwa drei Viertel der Deutschen der Aussage zu, dass hierzulande die soziale Ungleichheit mittlerweile zu groß ausfalle.

Nur auf den ersten Blick erweisen sich diese unterschiedlichen (Umfrage-)Ergebnisse als widersprüchlich: Einerseits kommt in den in verschiedenen Erhebungen deutlich werdenden positiven Bewertungen zur allgemeinen, aber auch zur wirtschaftlichen Lage die positive wirtschaftliche Entwicklung der vergangenen Jahre zum Ausdruck. Andererseits zeigen verschiedene Indikatoren zur „Gerechtigkeitslücke“ stabil an, dass das Ausmaß an Ungleichheit und die verschlechterten Aufstiegschancen für Menschen aus den unteren sozialen Schichten als Problem gesellschaftlicher Kohäsion erkannt wird. Dies wird aber gegenwärtig nicht als das größte Problem angesehen – wahrscheinlich weil die Mehrheit der Befragten nicht direkt betroffen ist.

Vergleicht man die Ergebnisse unserer Erhebungen 2015 und 2017 mit denen des Politbarometers, so sei nochmals darauf hingewiesen, dass für das Barometer nach dem „gegenwärtig wichtigsten Problem in Deutschland“ gefragt wird, während bei unseren Erhebungen nach dem „wichtigsten politischen Problem“ gefragt wurde. Problembereiche, die eher außerhalb der unmittelbaren politischen Beeinflussbarkeit liegen, sollten daher bei uns entsprechend geringer gewichtet sein.

Zuerst seien die Häufigkeiten der 2015 und 2017 genannten (Stich-)Worte dargestellt. Die Abbildung 2 zeigt die am häufigsten genannten Worte (die relative Häufigkeit ist proportional zur Schriftgröße).12 Es ist klar erkennbar, dass im Frühjahr 2015 die Themen Flüchtlinge, Asyl, Zuwanderung, Ausländer und Einwanderung weit oben standen (als einzelnes Wort wurde nur „Politik“ öfters genannt). Aber 2015 war auch das Thema „Griechenland“ noch sichtbar und z.B. häufiger genannt als „Einwanderung“. 2017 steht der Begriff „Flüchtlinge“ an der Spitze der genannten Stichworte. „Griechenland“ ist nicht mehr sichtbar, während die bereits 2015 oft genannten Begriffe „Asyl, Zuwanderung und Ausländer“ auch 2017 erkennbar sind. Stichworte wie „Gerechtigkeit“ oder „(Um-)Verteilung“ werden sowohl 2015 als auch 2017 nur selten genannt.

Abbildung 2
Antworten zum „wichtigsten politischen Problem“
33025.png

Quelle: SOEP 2015; Erhebung durch Kantar Public im Januar 2017; eigene Berechnungen.

Mit Tabelle 1 gehen wir zur Analyse der kategorisierten Problembereiche über. Der Schwerpunkt liegt auf den Ergebnissen für 2017, da die kleine Fallzahl von 289 Nennungen für 2015 eine nach sozio-demografischen Merkmalen gegliederte Auswertung nicht sinnvoll macht. Vielmehr werden nur die Gesamtzahlen für 2015 für eine „historische“ Einordnung verwendet. Im Einklang mit dem Politbarometer zeigen unsere Ergebnisse, dass Migration als das derzeit wichtigste politische Problem unter den Wahlberechtigten in Deutschland genannt wird – zumindest, wenn offen abgefragt wird: Etwa 48% nennen dann ein Problem mit Bezug zu Migration und Flucht als größte politische Priorität (2015 war der Anteil mit 45% nur unwesentlich niedriger). Verglichen mit den zeitgleich erhobenen Daten des Politbarometers weist unsere Studie damit gleichwohl einen etwas geringeren Anteil an Personen mit diesem Problemfokus aus. Dies dürfte damit zusammenhängen, dass in unserer Erhebung die Hälfte der Befragten vor der offenen Abfrage bereits verschiedene konkrete Politikziele nach deren Wichtigkeit bewerten sollten. Mit Blick auf das Urteil zum wichtigsten Politikziel kommt dieser Abfrage die Rolle einer Erinnerungsstütze zu; die Nennung des wichtigsten Politikziels erfolgt nun auf Basis einer gezielten Auseinandersetzung mit verschiedenen, extern vorgegebenen Politikbereichen (und geschieht nicht aus der Alltagsperspektive). Die Streuung der Antworten erhöht sich so erwartbar. Dies ist auch in unseren Daten sichtbar: Von dem Teil der Befragten, der die Frage nach dem wichtigsten politischem Problem vor der Abfrage konkreter Politikbereiche beantwortet hat, nennen 51% migrationsspezifische Probleme. Dies sind exakt so viele wie in den zeitgleich erhobenen Daten des Politbarometers. Zugleich sind diese signifikant (p<0,1) mehr als unter denjenigen Befragten, für die das wichtigste politische Problem nach der Abfrage konkreter Politikbereiche erfragt wurde. Dieses Detailergebnis zeigt wiederum, mit welch großer Vorsicht Meinungsumfragen zu interpretieren sind: gering erscheinende (oder den Lesern gar nicht bekannte) Details von verschiedenen Erhebungen können die Ergebnisse maßgeblich beeinflussen.

Durch die Dominanz migrationspolitischer Aspekte in der Problemwahrnehmung der Bürger kommt vielen Bereichen, die derzeit von den Parteien stark in öffentliche Diskurse hineingetragen werden, kein hoher Anteil priorisierender Nennungen zu. So finden sich auf den Internetseiten der im Bundestag vertretenen Parteien (Stand 21.2.2017) überwiegend Verkündungen zu Verteilungsfragen (SPD: Einkommen, CDU und Die Linke: Rente, Bündnis 90/Die Grünen: Bildung), die gegenwärtig nach unserer Studie nur von einem geringen Anteil der Bürger (alle zusammen knapp 10%) als größtes politisches Problem benannt werden (2015 waren dies noch etwa 18%). Auf der Internetseite von Bündnis 90/Die Grünen wird noch der Aspekt (innerer) Sicherheit hervorgehoben, der in unserer offenen Befragung immerhin von knapp 14% als politische Priorität berichtet wurde. Weitere Themen, die weit weniger Nennungen enthielten, befinden sich in unserer Sammelkategorie „Sonstiges“. Von diesen haben wir nur aufgrund der starken Präsenz in öffentlichen und medialen Diskursen das Thema „Rechtsruck“ in unsere Darstellung einbezogen: Lediglich etwas mehr als 2% bezeichnen den Aufschwung rechter Parteien, populistische Strömungen oder Rechtsextremismus als derzeit größtes politisches Problem. Allgemeine Unzufriedenheit mit dem politischen System und parteipolitische Dysfunktionalitäten im weiteren Sinne werden immerhin von knapp 8% als dringendstes politisches Problem benannt. Im Vergleich mit den Daten zu den Bürgerdialogen 2015, fällt zunächst die hohe Stabilität der Nennungen im Zeitverlauf auf (vgl. ebenfalls Tabelle 1). Die Datenreihen des Politbarometers zeigen allerdings (vgl. Abbildung 1), dass die Ähnlichkeit mit unseren Vergleichspunkten stark dem Zufall geschuldet ist: Innerhalb des Intervalls 2015 bis 2017, das durch eine starke Dynamik in der Bewertung der Fluchtzuwanderung geprägt ist, steuern die beiden Befragungen Punkte in der Aufwärts- (2015) bzw. Abwärtsbewegung (2017) an, die einen ähnlichen Anteil von Nennungen dieses Problembereichs hervorbringen. Auffällig ist zudem die starke Verschiebung der Anteile von Nennungen mit Gerechtigkeitsfokus zu Problemen der (inneren) Sicherheit. Dabei dürfte der Anstieg von Personen mit Priorisierung des Sicherheitsproblems (um etwa das Dreifache) mit großer Wahrscheinlichkeit dem unmittelbaren Eindruck des Berliner Terroranschlags geschuldet sein.

Tabelle 1
Wichtigstes Problem in Deutschland, vercodete Freitexte, 2015 und 2017
  Flüchtlinge/
Migration
Innere Sicherheit Rechts-
ruck
Partei-
versagen
Soziale
Gerechtigkeit
Sons-
tiges
weiß nicht
Daten aus eigener Erhebung (2017, n=1016)              
Gesamt (n, ungewichtet) 470 136 35 102 110 111 52
Gesamt (%, gewichtet) 48,2 13,5 2,2 8,0 10,5 10,5 7,0
Differenziert nach Position im Fragebogen              
Offene Frage vorgelagert (%) 51,2 13,3 1,9 6,6 11,9 7,9 7,3
Offene Frage nachgelagert (%) 45,3 13,8 2,6 9,5 9,1 13,0 6,8
Vergleichswerte aus dem Bürgerdialog (2015, n=289)              
Gesamt (n, ungewichtet) 131 12 7 24 53 57 5
Gesamt (%, ungewichtet) 45,3 4,2 2,4 8,3 18,3 19,7 1,7
Daten aus eigener Erhebung, differenziert nach... (in %)              
Sonntagsfrage              
SPD 43,6 20,0 3,3 6,2 12,1 6,0 8,8
CDU/CSU 48,3 20,3 0,7 9,0 5,5 12,1 4,2
Bündnis 90/Die Grünen 25,8 18,9 7,6 9,0 11,5 16,3 11,0
FDP 41,7 8,5 5,6 15,1 13,8 14,7 0,7
Die Linke 34,5 7,7 7,6 12,3 18,6 17,8 1,5
Alternative für Deutschland 70,3 7,7 0,0 6,7 8,1 7,2 0,0
Nichtwähler 32,0 3,3 1,7 6,7 17,0 13,0 26,3
Sonstige/keine Angaben 54,1 10,5 1,5 7,2 10,8 9,1 6,9
Geschlecht              
Männlich 45,4 14,7 1,9 9,6 10,3 12,0 6,3
Weiblich 50,9 12,5 2,6 6,6 10,7 9,1 7,7
Erwerbsstatus              
Erwerbstätig 48,9 13,5 2,1 6,7 11,2 10,6 7,1
Ausbildung/Student 39,1 17,4 3,4 8,1 11,9 20,1 0,0
Arbeitslos 42,8 10,8 3,0 19,7 5,1 13,8 4,8
Rentner 50,6 13,7 2,3 9,4 9,3 8,0 6,8
Sonstiges 44,1 11,0 2,5 10,9 12,2 12,5 6,8
Einkommen              
0-1500 Euro pro Monat 52,5 15,4 0,3 11,5 8,1 6,5 5,7
1500-3000 Euro pro Monat 55,4 11,2 2,1 6,2 7,0 11,2 6,9
3000+ Euro pro Monat 45,5 15,2 4,3 9,0 11,4 9,5 5,2
Alter              
18-29 Jahre 43,8 13,4 1,6 3,8 9,8 22,7 4,8
30-44 Jahre 47,0 11,0 0,0 7,4 15,0 5,9 13,8
45-59 Jahre 47,5 14,0 3,1 11,4 11,1 9,1 3,8
60+ Jahre 51,2 14,7 3,0 7,1 7,7 9,6 6,8
Region              
Westdeutschland 47,3 13,9 2,7 7,7 10,8 11,5 6,2
Ostdeutschland 51,7 12,2 0,5 9,2 9,5 6,7 10,2
Schulabschluss              
Haupt- oder Volksschule 49,1 17,3 0,8 6,3 10,7 6,2 9,7
Mittlere Reife 52,6 12,5 2,2 7,1 9,1 9,2 7,3
Abitur, Fachhochschule 40,7 12,4 3,7 11,1 12,6 16,4 3,1

Quelle: Kantar Public (Januar 2017), 1016 Befragte; und SOEP (Frühjahr 2015), 216 Befragte; eigene Vercodungen und Berechnungen.

 

„Education matters“

Um die Unterschiede in den Nennungen zu erklären, haben wir vertieft untersucht, inwieweit sich die verschiedenen Personengruppen in den Priorisierungsmustern unterscheiden. Berücksichtigt wurden demografische Faktoren (wie das Alter und das Geschlecht), sozio-ökonomische Variablen (Einkommen, Bildung) sowie die Parteipräferenz (gemessen über die Sonntagsfrage13). Gruppenbezogene Unterschiede in den Nennungen wurden dabei mit Hilfe zweier verschiedener Methoden herausgearbeitet. Zum einen zeigt Tabelle 1 im mittleren und unteren Teil eine einfache, deskriptive Aufbereitung der Daten, welche die Verteilung der Nennungen nach Personengruppen differenziert. Zudem wurde die Neigung verschiedener Merkmalsträger, ein bestimmtes Problem zu nennen, im Rahmen einer Reihe logistischer Regressionsmodelle untersucht (vgl. Tabelle 2). Die hier ausgewiesenen Koeffizienten haben, aufgrund der Komplexität der zugrundeliegenden statistischen Gleichung, keine intuitiv-interpretative Aussagekraft. Sie können jedoch die deskriptiven Ergebnisse in mehrfacher Hinsicht fundieren und z.B. als strukturbereinigte Zusammenhangsmaße aufgefasst werden, d.h. durch die gemeinsame Modellierung mehrerer analysierter Merkmale sind die ausgewiesenen Koeffizienten wechselseitig um die Einflüsse korrelierter Variablen statistisch kontrolliert. So kann etwa ausgeschlossen werden, dass der Zusammenhang zwischen CDU/CSU-Wahlabsicht und Sicherheitsnennung im Hintergrund auf einen Bildungs- oder Alterseffekt zurückgeht. Aufgrund des höheren anschaulichen Gehaltes beziehen sich die Interpretationen jedoch vordringlich auf die deskriptiven Statistiken, während die Ergebnisse der logistischen Regressionen zur statistischen Absicherung von Robustheit und statistischer Signifikanz der Bewertung der Ergebnisse verwendet wird.

Tabelle 2
Wichtigstes (politisches) Problem in Deutschland, vercodete Freitexte, 2017

Determinanten von Nennungen (logistische Regressionen)

  Flüchtlinge/
Migration
Innere Sicherheit Rechts-
ruck
Partei-
versagen
Soziale Gerechtigkeit Flüchtlinge
negativ
Sonntagsfrage (Ref.: CDU)            
SPD -0,29 -0,49 1,49* 0,12 1,62*** 0,09
Bündnis 90/Die Grünen -0,63* -0,50 1,53* 0,27 1,47** -0,35
FDP -0,10 -1,05* 1,38 0,33 1,08 -0,25
Die Linke -0,75* -1,27* 2,47*** 0,01 2,04*** .
Alternative für Deutschland 0,84** -1,17* . -0,78 0,88 1,58**
Nichtwähler -0,14 -1,94** 1,24 0,40 1,98*** 0,65
Sonstige/keine Angaben 0,22 -1,10*** 1,19 -0,09 1,34*** 0,64
Region (Ref.: West)            
Ost 0,00 0,04 -1,57* 0,60* 0,02 -0,63
Geschlecht (Ref.: männlich)            
Weiblich 0,30* -0,07 0,35 -0,43 -0,06  
Einkommen (Ref.: <1500)            
1500-3000 0,13 -0,25 1.66 -0,90** -0,10 -0,01
>3000 -0,19 0,05 2.00 -0,39 0,17 -0,68
Schulabschluss (Ref.: Hauptschule)            
Mittlere Reife 0,08 -0,63* 0,86 0,09 -0,07 -0,05
Abitur -0,32 -0,71** 1,21 0,71* 0,17 -0,71
Sonstiges -0,02 . . 1,04 0,41 .
Kein Abschluss           .
Alter (Ref.: <29)            
30-44 0,28 -0,36 . 1,05 0,32 -0,45
44-59 -0,08 0,10 0,94 1,30 -0,05 -0,3
>60 0,24 0,09 0,85 0,89 -0,44  
Konstante -0,10 -0,57 -7,71*** -3,10*** -3,30*** -0,09
Messwerte 963 957 787 963 963 861

* p<0,05, ** p<0,01, *** p<0,001.

Quelle: Kantar Public (Januar 2017), 1016 Befragte; eigene Vercodungen und Berechnungen.

Mit Blick auf demografische Merkmale fällt auf, dass sowohl weibliche als auch ältere Personen häufiger die Fluchtzuwanderung als vordringliches politisches Problem nennen. Der Geschlechtereffekt wurde dabei im Rahmen des logistischen Regressionsmodells statistisch abgesichert. Der Alterseffekt ist dagegen in der multivariaten Modellierung nicht robust. Gleiches gilt für die Differenzen in den Nennungen, welche die Unterscheidung zwischen Ost- und Westdeutschland aufspannt. Obgleich Personen in Ostdeutschland häufiger die Fluchtzuwanderung und seltener die Rechtsruckproblematik nennen, erweist sich lediglich die zweite Unterschied auf Grundlage der logistischen Regressionen als statistisch nicht belastbar.

Relativ deutlich sind die Unterschiede zwischen den verschiedenen Bildungsgruppen: Personen mit Abitur nennen seltener die Fluchtzuwanderung oder Sicherheitsaspekte als Priorität, insbesondere im Vergleich zu Personen mit mittlerem Schulabschluss. Möglicherweise trägt ein in fortführenden Bildungsinstitutionen erworbenes Abstraktionsvermögen zur Ausbildung der Fähigkeit bei, die Bedeutung akuter Ereignisse und Stimmungen zu relativieren. Im gleichen interpretativen Rahmen lässt sich wohl auch erklären, dass von konkreten Sachfragen abstrahierende Probleme (konkret: parteipolitische Dysfunktionalitäten) in hohen Bildungsgruppen signifikant häufiger priorisiert werden.

Trotz statistischer Kontrolle des Bildungseffektes sind weiterhin einkommensbezogene Unterschiede in den Anteilen von Nennungen mit Bezug zur Fluchtzuwanderung nachweisbar: Beziehern mittlerer Einkommen priorisieren diesen Problembereich signifikant häufiger als Personen der höheren Einkommensgruppe. Dieses mag im Sinne der sogenannten Konkurrenzhypothese14 als Ausdruck stärker wahrgenommener Bedrohung durch Zuwanderung in unteren und mittleren Lohn- und Statusgruppen plausibel erklärt werden. Überraschend ist dagegen, dass Gerechtigkeitsprobleme in der Hocheinkommensgruppe am häufigsten genannt werden (die Unterschiede zur mittleren Einkommensgruppe sind dabei robust und statistisch signifikant). Im Widerspruch zu Vorhersagen von Modellen egoistisch-rationaler Akteure werden demnach solidarische Aspekte gerade in der Einkommensgruppe besonders häufig priorisiert, die am wenigsten auf staatliche Umverteilungssysteme zur Sicherung des individuellen ökonomischen Wohlstands angewiesen ist.

Besonders interessant sind zudem die Unterscheidungen in den Nennungen nach Wahlabsicht. Schließlich spiegeln die ausgewiesenen Unterschiede deutlich die Leitlinien und Positionen der jeweiligen Parteien wider. So überrascht es nicht, dass die Flüchtlingsproblematik unter Anhängern der AfD signifikant häufiger genannt wird als von Personen, die beabsichtigen, eine im Bundestag vertretene Partei zu wählen. Gerechtigkeitsaspekte werden dagegen überdurchschnittlich häufig von Personen mit Präferenz für Die Linke, Bündnis 90/Die Grünen oder SPD priorisiert: Die Anteile entsprechender Nennungen liegen signifikant oberhalb derer von CDU/CSU-Anhängern. Gleiches gilt für den Rechtsruck. Einschränkend sei allerdings vermerkt, dass auch bei den eher links verorteten Parteien die Anteile bei diesen beiden Politikbereichen deutlich geringer ausfallen, als es die aktuelle Agendasetzung der Parteien erwarten lassen würde. Aspekte der Sicherheit werden, ebenfalls in Kongruenz zur klassischen parteipolitischen Ausrichtung, am häufigsten von Anhängern der CDU/CSU als wichtigstes Politikziel benannt. Die Unterschiede zur FDP, Die Linke und AfD sind dabei robust gegenüber einer Messung im multivariaten Modell und statistisch signifikant. Bemerkenswert ist schließlich, dass Parteiversagen nur von Personen mit Präferenz für die FDP am zweithäufigsten als wichtigstes politisches Problem berichtet wird – also bei Anhängern einer Partei, die derzeit nicht im Bundestag vertreten ist.

Weitere Evidenz

Zur besseren Einordnung sollen noch zwei weitere Befragungsergebnisse dargestellt werden: Zum einen die mit Hilfe von geschlossenen Fragen erhobenen Sorgen über die Zuwanderung nach Deutschland und die Ausländerfeindlichkeit und zum zweiten die Ergebnisse von Erhebungen, bei denen die Wichtigkeit von Politikbereichen erhoben wurden. In Abbildung 3 werden die Anteile von Personen ohne Migrationshintergrund, die seit 2000 im SOEP „große Sorgen“ über Zuwanderung und Ausländerfeindlichkeit angegeben haben, gezeigt. Das wichtigste Ergebnis ist, dass die Anteile für beide Sorgenarten etwa gleich groß sind. Die Deutschen machen sich nicht nur um befürchtete negative Auswirkungen von Zuwanderung Sorgen, sondern im etwa gleichen Ausmaß um eine schlechte Behandlung der zugewanderten Ausländer.15 Dazu passen die Ergebnisse spezieller SOEP-Erhebungen zur Akzeptanz von geflüchteten Menschen.16 Zwar verbinden die Befragten mit der Fluchtzuwanderung mehr Risiken als Chancen, aber trotzdem sprach sich auf dem Höhepunkt der Skepsis eine deutliche Mehrheit der Bürger für eine dem Völkerrecht entsprechende Aufnahme von Geflüchteten und Verfolgten aus.

Abbildung 3
Personen mit großen Sorgen um Ausländerfeindlichkeit und Zuwanderung
in %
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Quelle: SOEP v.32, n=319067, nur Personen ohne Migrationshintergrund; eigene, gewichtete Analysen.

Die von der Bundesregierung 2015 im Rahmen von „Bürgerdialogen“ gestellten Fragen „Was ist wichtig im Leben?“ und „Was macht für Sie Lebensqualität in Deutschland aus?“ wurden auch im SOEP auf repräsentativer Basis gestellt.17 In Übereinstimmung mit den Bürgerdialogen zeigt sich, dass den Menschen in Deutschland Gesundheit und nahestehende Mitmenschen – Familie, Kinder, Freunde – mit Abstand am wichtigsten sind. Bereits an vierter Stelle steht ein Begriff, der sich auf die Gesellschaft als Ganzes bezieht: Frieden. Gemeint ist dabei in gleichem Maß der soziale und der internationale Frieden. In den Top-25-Begriffen tauchen neben abstrakteren Konzepten wie Zufriedenheit und Harmonie auch Arbeit und materielle Belange (Einkommen, Finanzielles, Geld) auf. Im Hinblick auf die Lebensqualität in Deutschland steht das Wörtchen „sicher“ mit Abstand an erster Stelle, gefolgt von „sozial“. Rund in der Hälfte der Fälle, in denen „sicher“ oder „sozial“ genannt werden, treten die Begriffe gemeinsam auf: Die soziale Sicherung hat also für die Bürger zentrale Bedeutung. Frieden folgt auf Platz 4. Auch die Freiheit (Platz 6) wird von den Befragten hoch geschätzt. Arbeit und materielle Absicherung folgen.

Bei den Antworten auf beide Fragen spielt die Begrenzung der Zuwanderung oder der Zahl Geflüchteter so gut wie keine Rolle. Dies liegt sicherlich auch daran, dass beide Fragen nicht auf aktuelle politische Probleme abstellen. Aber ebenso wie die Ergebnisse der zwei speziellen SOEP-Erhebungen zum Thema „Fluchtzuwanderung“ zeigen die Fragen der Bürgerdialoge, dass für die übergroße Mehrheit der Menschen in Deutschland die Begrenzung der Zahl Geflüchteter kein Thema „an sich“ ist. Den Menschen sind (sozialer) Frieden und Gerechtigkeit wichtig – und Frieden und soziale Sicherung in Deutschland ist Teil der Lebensqualität. Diese Ergebnisse werden durch die Ergebnisse zur Relevanz verschiedener Politikbereiche in den Augen der Wahlberechtigten gestützt. Aufbauend auf den Ergebnissen der Enquête-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ und dem Regierungsprojekt „Gut leben in Deutschland“ wurden vom DIW Berlin in Zusammenarbeit mit Kantar Public (bis 2016: Infratest Sozialforschung) im Januar 2013 zehn Politikbereiche und im Januar 2017 20 Politikbereiche, die von der Politik als langfristig wichtig angesehen werden, auf ihre Relevanz bei den Menschen abgefragt.18 Das Bruttoinlandsprodukt bzw. die Höhe und Verteilung der Einkommen landen dabei nur im Mittelfeld, an der Spitze rangiert der Erhalt der Demokratie. Auf Platz 2 landet – etwas überraschend – die Verbesserung der Pflege alter Menschen und den 3. Platz nimmt – weniger überraschend – eine wirksamere Bekämpfung der Kriminalität ein, der ein etwas höheres Gewicht als der Vollbeschäftigung zugemessen wird.

Zusammenfassung und Diskussion

Die Erforschung des „Volkswillens“ ist alles andere als einfach. Während zurzeit mittelfristig Fragen der Demokratie, des Friedens, der sozialen Gerechtigkeit und der Verhinderung von Arbeitslosigkeit an der Spitze der Politikbereiche, die den Menschen in Deutschland wichtig sind, liegen, sieht das bei der kurzfristigen Prioritätensetzung (gemessen an Antworten zum „wichtigsten Problem“) auf den ersten Blick völlig anders aus. Hier zeigt sich eine überragende Bedeutung der Bewältigung von Flucht nach Deutschland und Zuwanderung. Auf den zweiten Blick sind diese Ergebnisse freilich miteinander kompatibel. Sowohl die Bewertung von 20 vorgegebenen Politikbereichen (Anfang 2017) als auch die Erhebung von Klartexten zur Frage, was „wichtig im Leben ist“ (2015), zeigt die Bedeutung von Demokratie, des Friedens, der sozialen Gerechtigkeit und der Verhinderung von Arbeitslosigkeit. Fragt man jedoch die Menschen, was derzeit das wichtigste politische Problem in Deutschland ist und gibt den Befragten keine Themen oder Probleme vor, dann steht der Begriff „Flüchtling“ ganz oben. „Ausländer“, „Zuwanderung“ und „Asyl“ werden wie auch „Integration“ ebenfalls sehr häufig genannt. Insgesamt nennen etwa 47% der Befragten ein Problem, das mit Geflüchteten und Migration zusammenhängt. Dabei äußern sich die allermeisten neutral; weniger als 5% belegen den Begriff Flüchtling ausdrücklich negativ (aber noch weniger belegen ihn positiv). In der Nennungsneigung gibt es durchaus Unterschiede, die auch nach sozio-ökonomischem Status und Parteipräferenz strukturiert sind. Dennoch tritt das Thema Migration in allen untersuchten Untergruppen, also status- und parteipräferenzübergreifend, am häufigsten auf.

Fragt man hingegen die Menschen in Deutschland danach, was ihnen wichtig im Leben ist und was Lebensqualität in Deutschland ausmacht, dann spielt bei den Antworten die Begrenzung der Zuwanderung oder die der Zahl Geflüchteter so gut wie keine Rolle. Dies liegt natürlich auch an den beiden Fragen, die nicht auf aktuelle politische Probleme abstellen. Gleichwohl zeigt sich: Die Begrenzung Fluchtmigration ist kein Thema „an sich“. Den Menschen ist in erster Linie (sozialer) Frieden wichtig – und Frieden und soziale Sicherung in Deutschland ist Teil der Lebensqualität. Abgrenzung und Begrenzung sind keineswegs wichtige Ziele für die Menschen – aber sie möchten auch nicht, dass ihnen Nachteile daraus erwachsen. Befragungen zeigen, dass der Mehrheit der Bürger in Deutschland ein menschenwürdiger Umgang mit Geflüchteten wichtig ist. Zugleich möchten sie keinen Missbrauch bei der Aufnahme Geflüchteter. Insofern besteht die politische Kunst darin, die Wähler davon zu überzeugen, dass ihnen aus der Aufnahme Geflüchteter keine Nachteile in den Bereichen, die ihnen besonders wichtig sind (Frieden, Demokratie und Sicherheit), erwachsen.

  • 1 Vgl. für 2017 M. Giesselmann et al.: Politikziele im Spiegel der Bevölkerung: Erhalt der freiheitlich-demokratischen Ordnung weiterhin am wichtigsten, in: Wochenbericht des DIW Berlin, Nr. 9/2017, S. 139-152; J. M. Rohrer, M. Brümmer, G. G. Wagner: Wen interessiert schon Europas Zukunft?, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 27.1.2017, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/regierungsumfrage-gut-leben-in-deutschland-14762320.html; für 2013: M. Giesselmann et al.: Alternative Wohlstandsmessung: neun Indikatoren können das Bruttoinlandsprodukt ergänzen und relativieren, in: Wochenbericht des DIW Berlin, Nr. 9/2013, S. 3-12.
  • 2 W. Jennings, C. Wlezien: Distinguishing between Most Important Problems and Issues?, in: Public Opinion Quarterly, Bd. 75, 2011, S. 545-555.
  • 3 D. E. RePass: Issue Salience and Party Choice, in: American Political Science Review, Bd. 65, 1971, S. 389-400. Diese Daten werden auch vielfach zur Untersuchung von Agenda-Setting-Prozessen von Massenmedien und politischen Akteuren herangezogen, z.B. M. E. McCombs, D. L. Shaw: Agenda-Setting Function of Mass Media, Public Opinion Quarterly, Bd. 36, 1972, S. 176-187; sowie zur Untersuchung des Einflusses der öffentlichen Meinung auf Regierungshandeln, z.B. W. Jennings, P. John: The Dynamics of Political Attention: Public Opinion and the Queen’s Speech in the United Kingdom, in: American Journal of Political Science, Bd. 53, 2009, S. 838-854.
  • 4 Vgl. G. G. Wagner et al.: Dimensions of Quality of Life in Germany: Measured by Plain Text Responses in a Representative Survey (SOEP), SOEPpaper, Nr. 893, Berlin 2017.
  • 5 2015 notierten die Interviewer – wie das die Frage nach dem wichtigsten politischen Problem impliziert – nur einen Politikbereich, während dies 2017 in 165 Fällen zwei und mehr Bereiche waren.
  • 6 Vgl. zur Methode J. M. Rohrer, M. Bruemmer, S. C. Schmukle, J. Goebel, G. G. Wagner: What Else Are You Worried About? – Integrating Textual Responses into Quantitative Social Science Research, Berlin und Leipzig 2017, http://doi.org/10.17605/OSF.IO/KSG7D; für exemplarische Ergebnisse G. G. Wagner, a.a. O.; J. M. Rohrer et al.: Wen interessiert Europas Zukunft?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27.1.2017.
  • 7 Vgl. http://www.forschungsgruppe.de/Umfragen/Politbarometer/Langzeitentwicklung_-_Themen_im_Ueberblick/.
  • 8 Vgl. dazu J. M. Rohrer et al., a.a.O., und G. G. Wagner et al., a.a.O.
  • 9 Diese Ergebnisse decken sich mit anderen Studien, bei denen infratest dimap ebenfalls mit offenen Nennungen arbeitet.
  • 10 Vgl. unter anderem auf Basis der SOEP-Daten R. Schlinkert, B. Raffelhüschen: Deutsche Post Glücksatlas 2016, München 2016.
  • 11 Vgl. R. Köcher: Interessen schlagen Fakten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22.2.2017, http://plus.faz.net/evr-editions/2017-02-22/E9H0rkkTDxXZNJzD2qlXw?GEPC=s3.
  • 12 Die unterschiedlich großen Stichproben 2015 und 2017 haben grundsätzlich Bedeutung für die Zusammensetzung der Schlagwort-Wolken (bei kleinen Stichproben wird die Bedeutung häufiger Worte überschätzt). Sensitivitätsrechnungen haben freilich gezeigt, dass im konkreten Fall die Ergebnisse nicht nennenswert beeinflusst werden.
  • 13 Die Parteipräferenz wurde im Rahmen der Befragung über die sogenannte Sonntagsfrage gemessen: „Welche Partei würden Sie wählen, wenn am kommenden Sonntag Bundestagswahl wäre?“ Aufgrund der relativ geringen Anteile von Personen mit Präferenz für FDP und AfD in unserer Stichprobe liegt die Fallzahl in diesen beiden Kategorien unter 100. Dies relativiert die Belastbarkeit der Ergebnisse in den entsprechenden Kategorien und erklärt, weshalb selbst starke Abweichungen hier häufig keine statistische Signifikanz aufweisen.
  • 14 Vgl. R. Geißler: Die Sozialstruktur Deutschlands, Wiesbaden 2014.
  • 15 Dies gilt insbesondere auch für Jugendliche und junge Menschen. Vgl. Shell Deutschland Holding (Hrsg.): Jugend 2015. Eine pragmatische Generation im Aufbruch, 17. Shell Jugendstudie, Frankfurt 2015.
  • 16 Vgl. J. Gerhards, S. Hans, J. Schupp: Einstellungen der Bürger­Innen in Deutschland zur Aufnahme von Geflüchteten, in: DIW Wochenbericht, Nr. 21, 2016, S. 467-473; P. Eisnecker, J. Schupp: Flüchtlingszuwanderung: Mehrheit der Deutschen befürchtet negative Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft, in: DIW Wochenbericht, Nr. 8, 2016, S. 158-164.
  • 17 Vgl. J. M. Rohrer et al., a.a.O.
  • 18 Vgl. M. Giesselmann et al., 2017, a.a.O.

Title:Refugees Top the List of Urgent Political Priorities

Abstract:Limiting the number of refugees is not an issue “in itself” for registered voters in Germany. Justice, peace, and social harmony are important to people – and peace and social security are part of the overall quality of life in Germany. Limiting and excluding refugees are by no means important goals for the majority of people – but people also do not want to be adversely affected in their own lives.

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DOI: 10.1007/s10273-017-2107-4

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