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Der Auslastungsgrad der gesamtwirtschaftlichen Produktionskapazitäten ist die zentrale Größe der Konjunkturanalyse und der darauf aufsetzenden Stabilisierungspolitik. Ausmaß und Veränderung der Kapazitätsauslastung liegen der Phasenabgrenzung des Konjunkturzyklus zugrunde und bieten unter anderem Anhaltspunkte für die zukünftige Investitionstätigkeit oder Preisentwicklung. Daraus ergibt sich eine wichtige Orientierungshilfe für die Geldpolitik (Einschätzung der heimischen Inflationsdynamik) und Finanzpolitik (Bestimmung des strukturellen Budgetsaldos).

Die gesamtwirtschaftliche Kapazitätsauslastung lässt sich jedoch nicht direkt beobachten und muss daher geschätzt werden. Ein gängiges Maß ist die Produktionslücke (Differenz zwischen realisiertem Bruttoinlandsprodukt und Produktionspotenzial), die auf einer Produktionsfunktion beruht. Ein solcher Ansatz bietet eine ökonomische Fundierung und ermöglicht darüber hinaus, den Beitrag einzelner Komponenten zum Potenzial und seiner Entwicklung zu schätzen. Die zur Trendbestimmung der Komponenten genutzten Filterverfahren unterliegen allerdings dem Endpunktproblem,1 weshalb die Schätzungen für den aktuellen Rand oftmals kräftig revidiert werden, insbesondere in ausgedehnten Hochkonjunktur- oder Schwächephasen.2 Schätzungen für die Produktionslücke 2016 wurden im Laufe des vergangenen Jahres deutlich revidiert, sie unterscheiden sich aber auch von Institution zu Institution (vgl. Abbildung 1). So ging die Europäische Kommission im Verlauf der ersten Jahreshälfte 2016 für Deutschland noch von einer negativen Produktionslücke von rund 0,5% für das Gesamtjahr aus, den jüngsten Angaben der Kommission zufolge ist die Produktionslücke hingegen nahezu geschlossen. Auch die Gemeinschaftsdiagnose revidierte ihre Schätzung merklich nach oben; im Gegensatz zur Kommission rechnete sie aber in ihrem Herbstgutachten mit einer positiven Produktionslücke für 2016.

Abbildung 1
Schätzungen für die Produktionslücke in Deutschland 2016
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Jahresdaten, preisbereinigt. Produktionslücke in % des potenziellen Bruttoinlandsprodukts.

Quelle: Europäische Kommission; Gemeinschaftsdiagnose.

Angesichts der großen Unsicherheit, mit der Schätzungen der Produktionslücke gerade am aktuellen Rand verbunden sind, ist es ratsam, weitere Indikatoren heranzuziehen. Dazu zählen insbesondere Unternehmensbefragungen zur Kapazitätsauslastung. Auch Angaben von Unternehmen zur Nachfrage nach ihren Produkten sind für die Schätzung der Kapazitätsauslastung nützlich, da kurzfristige Schwankungen der Nachfrage typischerweise zu Schwankungen der Kapazitätsauslastung führen. Ein wesentlicher Vorteil dieser umfragebasierten Indikatoren ist, dass sie nicht revidiert werden und zeitnah, also auf Monats- oder Quartalsbasis, vorliegen. Ein Nachteil ist, dass sie auf der subjektiven Einschätzung der Unternehmen beruhen und die Angaben zwischen den Unternehmen nicht unbedingt vergleichbar sind. So kann die normale Kapazitätsauslastung von Unternehmen zu Unternehmen und von Branche zu Branche variieren. Daher werden Angaben zur Kapazitätsauslastung für gewöhnlich in Relation zu ihrem langjährigen Mittel bewertet. Freilich könnte die normale Kapazitätsauslastung auch im Zeitablauf variieren und von diesen Durchschnittswerten abweichen. Ein weiteres wichtiges Maß für die Kapazitätsauslastung ist der Order-Capacity-Index der Deutschen Bundesbank, der Informationen darüber liefert, wieviel Auftragseingänge in Relation zu den Produktionskapazitäten entgegengenommen worden sind. Dieser Indikator ist jedoch nur für das Verarbeitende Gewerbe verfügbar und unterliegt, wie die Schätzungen der Produktionslücke, Revisionen.

Die Unternehmensbefragungen zur Kapazitätsauslastung sprechen dafür, dass diese spürbar über dem Normalniveau liegt (vgl. Abbildung 2). Der Indikator für das Verarbeitende Gewerbe ist bereits seit einigen Jahren deutlich aufwärts gerichtet und befindet sich aktuell mehr als 2 Prozentpunkte oberhalb seines langjährigen Mittels. Auch der Indikator für die Kapazitätsauslastung im Dienstleistungsbereich ist in der Tendenz aufwärts gerichtet und befindet sich oberhalb des Durchschnittswertes. Zwar liegen Angaben zur Kapazitätsauslastung in diesem Bereich erst seit 2011 vor, so dass der Vergleich mit dem langjährigen Mittel noch nicht sehr verlässlich ist. Die laut Befragungen von Dienstleistungsunternehmen überaus günstige Geschäftslage spricht aber dafür, dass die Kapazitäten in diesem Bereich überausgelastet sind. Schließlich rangiert die Kapazitätsauslastung im Bauhauptgewerbe ausweislich der Befragungen nahe ihrem historischen Höchstwert. Gestützt wird diese Einschätzung auch durch den Order-Capacity-Index, demzufolge die Unternehmen bereits seit 2014 mehr Aufträge entgegennehmen als sie abarbeiten können, die Kapazitätsauslastung also aufwärtsgerichtet ist. Im Schlussquartal des Jahres 2016 ist der Indikator sogar sprunghaft gestiegen. Dieses Bild könnte sich freilich durch Revisionen bei den Auftragseingängen oder einer entsprechenden Gegenbewegung im ersten Quartal des laufenden Jahres wieder normalisieren.

Abbildung 2
Unternehmensbefragungen zur Kapazitätsauslastung
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Quartalsdaten, saisonbereinigt; Kapazitätsauslastung: jeweils Abweichung vom historischen Mittelwert.

Quellen: ifo Institut, Konjunkturtest; Deutsche Bundesbank, Monatsbericht.

Auch die Unternehmensbefragungen zur Nachfrage sprechen dafür, dass die Kapazitäten in Deutschland eher überausgelastet sind (vgl. Abbildung 3). So ist der Anteil der Unternehmen im Dienstleistungsbereich, die angeben, ihre Produktion sei durch einen Mangel an Nachfrage beeinträchtigt, auf einem historischen Tiefstand. Auch der Anteil der Unternehmen im Bauhauptgewerbe, die über einen Mangel an Aufträgen klagen, ist sehr niedrig. Schließlich ist der Anteil der Unternehmen im Verarbeitenden Gewerbe, die angeben, dass eine geringe Nachfrage ihre Produktion drückt, kaum höher als in den Jahren 2007 oder 2011, in denen die gesamtwirtschaftliche Kapazitätsauslastung rückblickend wohl deutlich im positiven Bereich war.

Abbildung 3
Unternehmensbefragungen zur Nachfrage
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Quartalsdaten, saisonbereinigt.

Quellen: Europäische Kommission, Generaldirektion Wirtschaft und Finanzen ECFIN; ifo Institut.

Eine Gesamtschau der Schätzungen und Indikatoren spricht somit dafür, dass die Kapazitäten in Deutschland derzeit bereits überausgelastet sind. Insgesamt stützen die Indikatoren die Schätzung der Produktionslücke der Gemeinschaftsdiagnose vom vergangenen Herbst und legen nahe, dass die Kapazitätsauslastung wohl bereits seit 2015 wieder das Normalniveau überschritten hat. Alles in allem dürfte die Überauslastung der Kapazitäten im laufenden Jahr im längerfristigen Vergleich jedoch noch moderat sein. Aufgrund der derzeit recht günstigen konjunkturellen Aussichten wird die Kapazitätsauslastung aber vorerst wohl weiter zunehmen. Diese Einschätzung hat wichtige Implikationen für die Wirtschaftspolitik. So wäre beispielsweise ein expansiverer finanzpolitischer Kurs in Deutschland, wie er mitunter mit der Zielsetzung eines stimulierenden Effekts für den übrigen Euroraum gefordert wird, vor diesem Hintergrund nicht ratsam.

  • 1 Die Filterverfahren beziehen für die Trendschätzung vergangene und zukünftige Werte mit ein. Die Endpunktproblematik ergibt sich dadurch, dass die zukünftigen Werte für Schätzungen der aktuellen Produktionslücke noch nicht vorliegen. Ein weiterer Grund für Revisionen bei der geschätzten Produktionslücke ist, dass auch die der Schätzung zugrundeliegenden Daten zum Teil revidiert werden.
  • 2 Zu den massiven Revisionen der Produktionslückenschätzungen im Zuge der Eurokrise vgl. E. Klär: Potential Economic Variables and Actual Economic Policies in Europe, in: Intereconomics, 48. Jg. (2013), H. 1, S. 33-40.


DOI: 10.1007/s10273-017-2113-6

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