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Seit langem hat es keine umfassende Reform im deutschen Steuersystem gegeben. Vor der Bundestagswahl und angesichts deutlicher und wohl auch längerfristiger gesamtstaatlicher Überschüsse werden zunehmend Vorschläge zur Entlastung der Steuerzahler gemacht. Dabei sind viele Aspekte zu berücksichtigen: beispielsweise die Frage, welche Einkommensgruppe entlastet werden sollte und welche tatsächlich durch die Vorschläge entlastet würde. Im Wesentlichen beziehen sich die Reformvorschläge auf die Einkommensteuer. Es müssen aber auch die Sozialabgaben und andere Steuerarten wie die Körperschaft-, Vermögen- und Erbschaftsteuer sowie die Energiesteuern in den Blick genommen werden.

Steuerreform: Das ganze Bild betrachten!

Die öffentlichen Haushalte stehen so gut da wie schon lange nicht mehr. Für das vergangene Jahr wurde trotz hoher Mehrausgaben zur Versorgung und Integration von Flüchtlingen ein gesamtstaatlicher Überschuss von 26,4 Mrd. Euro ausgewiesen. Der Arbeitskreis „Steuerschätzungen“ hat seine Prognose vom vergangenen Herbst deutlich nach oben revidiert und geht nun von zusätzlichen Steuereinnahmen in Höhe von rund 54 Mrd. Euro bis zum Jahr 2021 aus.1 Damit werden Rufe nach umfassenden Steuersenkungen lauter, die bereits seit geraumer Zeit zu vernehmen sind. Im Mittelpunkt der Debatte steht dabei aktuell die Besteuerung der Einkommen, auf die sich daher auch dieser Beitrag konzentriert. Aktuelle Vorschläge zielen insbesondere darauf, den sogenannten „Mittelstandsbauch“ abzuflachen und den Solidaritätszuschlag abzuschaffen. In der Debatte darüber, ob Einkommensteuersenkungen jetzt die richtige wirtschaftspolitische Maßnahme sind, sollten zuerst die richtigen Fragen gestellt werden. Sind Steuersenkungen tatsächlich notwendig? Wenn ja, dann warum, für wen und in welchem Umfang? Wichtig ist auch die Frage nach den Opportunitätskosten der Steuersenkungen.

Sind die Steuern zu hoch?

Die Forderung nach Steuersenkungen wird regelmäßig damit begründet, dass die Steuerquote ein recht hohes Niveau erreicht hat.2 Es ist zwar richtig, dass die Steuerquote in den vergangenen Jahren zugenommen hat, da die Höhe der Besteuerung eine politische Frage ist, gibt es jedoch keine objektiv „richtige“ Steuerquote. Zudem folgt der Anstieg der Steuerquote auf einen jahrzehntelangen Abwärtstrend und es ist zu berücksichtigen, dass die Steuerquote im Konjunkturverlauf erheblich schwankt. Angesichts der aktuell günstigen Entwicklung, insbesondere auf dem Arbeitsmarkt, nimmt vor allem das Aufkommen der Lohn- und Einkommensteuer überproportional zu. Im Abschwung kehrt sich diese Wirkung um. Genau das ist gemeint, wenn davon die Rede ist, die automatischen Stabilisatoren wirken zu lassen. Noch 2010 war die Steuerquote infolge der Finanzkrise um 2 Prozentpunkte niedriger.

Aufgrund der Finanzbeziehungen zwischen dem Bund und den Sozialversicherungen ist es zudem sinnvoller, die Abgabenquote insgesamt zu betrachten. In der jüngeren Vergangenheit wurden (insbesondere indirekte) Steuern verstärkt genutzt, um den Bundeszuschuss zu erhöhen und Beiträge zu senken.3 Dabei werden immer noch nicht alle gesamtgesellschaftlichen Aufgaben, die die Sozialversicherungen erfüllen, wie es geboten wäre, aus Steuermitteln finanziert.4 Betrachtet man die Einkommensteuerbelastung für bestimmte Familienkonstellationen und Realeinkommen über die Zeit, so lässt sich feststellen, dass die steuerliche Belastung aufgrund wiederholter deutlicher Steuersenkungen in den meisten Fällen unter der der frühen 1990er Jahre liegt.5 Weitere Anpassungen des Tarifs und der Freibeträge in den vergangenen Jahren sorgen dafür, dass dies bis 2018 so bleibt.

Auch im europäischen Vergleich ist die Belastung durch Steuern und Sozialabgaben hierzulande keineswegs hoch, wenn man die Daten der EU-Kommission heranzieht.6 Sie war 2016 so hoch wie im Durchschnitt der Europäischen Union. Dabei beträgt die Spannweite zwischen dem höchsten und dem niedrigsten Wert über 20% des BIP. Darin zeigt sich schon, dass es hier einen erheblichen Gestaltungsspielraum gibt.

Ist die Steuerlast gerecht verteilt?

Die aktuelle Debatte dreht sich primär um die Höhe der Besteuerung, während die Verteilung der Steuerlast dabei weniger im Fokus liegt. Bei der Frage, ob die Verteilung der Steuerlast „gerecht“ ist, spielen subjektive Werturteile eine zentrale Rolle. Es besteht allerdings ein breiter Konsens darüber, dass die Besteuerung nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip erfolgen soll. Das rechtfertigt eine Steuerprogression, die hierzulande bei den direkten Steuern auch stark ausgeprägt ist. So entfielen 2015 knapp 60% der von Haushalten geleisteten direkten Steuern auf das reichste Zehntel, während die untere Hälfte der Einkommensverteilung fast keine Steuern auf das Einkommen zahlte.7 Berücksichtigt man jedoch auch die indirekten Steuern, die für sich genommen regressiv wirken, so wird die Steuerprogression stark abgeschwächt und verkehrt sich in Teilen der Einkommensverteilung ins Gegenteil. Am unteren Ende ist die gesamte Steuerbelastung dann relativ zum Einkommen höher als für alle übrigen Einkommensgruppen mit Ausnahme des obersten Zehntels.8 Das Steuersystem ist in den untersten drei Dezilen regressiv und wird erst ab dem sechsten Dezil progressiv. Das Leistungsfähigkeitsprinzip ist somit nicht durchgehend verwirklicht.

Die Steuerpolitik hat dabei seit Ende der 1990er Jahre teilweise zu problematischen Verteilungswirkungen geführt. Einerseits wurde die Einkommensteuer in sukzessiven Reformen deutlich gesenkt, wobei insbesondere die Senkung des Spitzensteuersatzes von 53% auf 42% (bzw. 45% einschließlich Reichensteuer) zu einer erheblichen Entlastung bei Beziehern hoher Einkünfte führte, während die Entlastung bei der unteren Hälfte der Einkommensverteilung aufgrund der ohnehin niedrigen Besteuerung entsprechend gering ausfiel. Andererseits trafen die gleichzeitigen Anhebungen indirekter Steuern die unteren Einkommensgruppen aufgrund ihrer hohen Konsumneigung besonders stark. Das führte zu einer Verschiebung der Steuerbelastung zulasten unterer Einkommensgruppen. So war die Steuerlast für das ärmste Zehntel im Jahr 2015 relativ zum Bruttoeinkommen um 5,4 Prozentpunkte höher als noch 1998, bei den ärmsten 5% waren es sogar 6,5 Prozentpunkte. Gleichzeitig verringerte sich die Steuerbelastung für das oberste Dezil um 2,3 Prozentpunkte. Für das reichste Prozent sank die Belastung sogar um 4,8 Prozentpunkte.9 Vor diesem Hintergrund scheinen Forderungen nach einer gezielten Entlastung für untere Einkommensgruppen nachvollziehbar, während sich weitere Steuersenkungen für Besserverdiener damit nicht rechtfertigen lassen.

Steuerentlastungen für mehr Steuergerechtigkeit?

In den vergangenen Wochen hat die steuerpolitische Diskussion noch einmal Fahrt aufgenommen und es wurden verschiedene Vorschläge von der Wissenschaft durchgerechnet.10 Die vorliegenden Konzepte unterscheiden sich in mehrfacher Hinsicht. Modellen mit gezielten Entlastungen für Bezieher niedriger Einkommen und Mehrbelastungen für Bezieher höherer Einkommen stehen Modelle mit spürbaren Entlastungen für alle Steuerzahler gegenüber. Entsprechend unterschiedlich sind die Aufkommenswirkungen. Sie reichen von annähernder Aufkommensneutralität bis zu Mindereinnahmen von über 40 Mrd. Euro.

Das Konzept der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung der CDU/CSU (MIT) strebt explizit eine Entlastung für alle in drei Stufen an. In der ersten Stufe soll 2018 der Arbeitnehmerfreibetrag auf 2000 Euro verdoppelt werden, 2019 soll die zweite Stufe mit einer Tarifanpassung erfolgen, bei der die Progression im mittleren Bereich stark abgeflacht würde und der Spitzensteuersatz erst ab einem zu versteuernden Einkommen von 60 000 Euro greifen würde. Die für 2020 vorgesehene dritte Stufe würde den Kinderfreibetrag auf das Niveau des Freibetrags für Erwachsene anheben und das Kindergeld deutlich erhöhen. Berechnungen des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) zeigen, dass die Tarifänderung für sich genommen Einkommen erheblich oberhalb des Durchschnitts am stärksten entlasten würde. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), nach dessen Daten fast drei Viertel der Entlastungswirkung von 33 Mrd. Euro auf die drei reichsten Dezile entfallen.11 Die Umverteilungswirkung der Einkommensteuer würde folglich verringert. Berücksichtigt man auch die Anpassungen beim Kindergeld, so würden sich in der Maximalvariante insbesondere für Familien mit geringen Einkommen relativ zum Einkommen deutliche Entlastungen ergeben. Allerdings würde das gesamte Modell der MIT mit Mindereinnahmen von rund 40 Mrd. Euro einhergehen.12

Beim sogenannten „Bayern-Tarif“ des bayerischen Finanzministers Söder würde eine Senkung der Progressionswirkung im mittleren Bereich dadurch erreicht, dass die erste Progressionszone erst bei einem zu versteuernden Einkommen von 16 250 Euro bei unverändertem Grenzsteuersatz von 23,97% enden würde. Wenngleich bis auf das ärmste Dezil, das keine Steuern zahlt, alle entlastet würden, würden hier fast zwei Drittel der Entlastungswirkung auf die drei reichsten Dezile entfallen. Mit gut 9 Mrd. Euro wären die Steuerausfälle allerdings deutlich geringer als beim Modell der MIT.

Damit würden diese beiden Konzepte die Steuerpolitik der vergangenen beiden Jahrzehnte zugunsten der Bezieher höherer Einkommen fortsetzen statt sie zu korrigieren. Die Vorschläge des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) und der Partei „Die Linke“ würden die Umverteilungswirkung des Steuersystems hingegen verstärken. Bis auf das ärmste und das reichste Zehntel würden in beiden Konzepten alle Einkommensgruppen geringer besteuert. Allerdings entfällt auch hier der größte Teil der Entlastungen auf die Dezile oberhalb der Mitte. Was die Entlastung relativ zum Einkommen angeht, hat das DGB-Modell jedoch sein Maximum beim fünften Dezil, während die übrigen Modelle höhere Einkommensgruppen auch relativ am stärksten entlasten würden. Für sich genommen würde die Umsetzung des Tarifvorschlags der Partei „Die Linke“ Mindereinnahmen von 28 Mrd. Euro verursachen. Diese sollen durch Mehreinnahmen insbesondere bei vermögensbezogenen Steuern kompensiert werden. Der DGB-Vorschlag, bei dem die Entlastungen deutlich niedriger ausfallen, würde hingegen nur geringe Ausfälle verursachen.

Der kürzlich in die Debatte gebrachte sogenannte „Niedersachsen-Tarif“ propagiert in der Reformoption I die Abschaffung des Solidaritätszuschlags kombiniert mit einer Tarifreform, die untere und mittlere Einkommen entlastet und höhere Einkommen belastet.13 Hier würden die oberen beiden Dezile mehr belastet, während untere Einkommensdezile entlastet werden. Die Mindereinnahmen würden 10,7 Mrd. Euro betragen, wobei es durch die Abschaffung des Solidaritätszuschlags, der dem Bund allein zusteht, bei gleichzeitigen leichten Mehreinnahmen bei der Einkommensteuer zu einer Umverteilung des Aufkommens vom Bund zu den Ländern kommt.

Die reine Abschaffung des Solidaritätszuschlags wäre aus verteilungspolitischer Sicht sehr problematisch. Da der Zuschlag auf die progressive Einkommensteuer erhoben wird, wirkt er selbst stark progressiv. Für Familien wird die progressive Wirkung noch dadurch verstärkt, dass bei der Ermittlung des relevanten zu versteuernden Einkommens einer Familie der Kinderfreibetrag auch dann angesetzt wird, wenn das Kindergeld für die Familie günstiger ist. Dadurch zahlt eine Familie mit zwei Kindern und einem durchschnittlichen Vollzeitverdienst noch überhaupt keinen Solidaritätszuschlag. Das gilt sowohl für das Durchschnittseinkommen als auch für den (niedrigeren) Median.14 Da die Belastung durch den Solidaritätszuschlag mit dem Einkommen stark zunimmt, würde seine Abschaffung auch die Haushalte mit den höchsten Einkommen am stärksten entlasten. Viele Niedrigverdiener würden hingegen nicht profitieren, da sie keinen Solidaritätszuschlag zahlen. Dem Bund würden im Jahr 2020 zudem 20 Mrd. Euro entgehen.

Das ganze Bild

Für die nächste Legislaturperiode geht es nicht allein darum, ob die Einkommensbesteuerung etwas mehr oder etwas weniger gesenkt werden soll. Es geht um die finanzpolitische Gesamtausrichtung. Die fiskalischen Spielräume sollten dabei nicht überschätzt werden. Der positive Finanzierungssaldo des Gesamtstaats von 26,4 Mrd. Euro im vergangenen Jahr entfiel zu einem Drittel auf die Sozialversicherungen. Für 2017 und 2018 rechnen die an der Gemeinschaftsdiagnose beteiligten Institute mit einem spürbaren Rückgang der Überschüsse.15 Berücksichtigt werden müssen auch die Schwächen bei der Konjunkturbereinigung im Rahmen der Fiskalregeln.16

Gleichzeitig bestehen weiterhin erhebliche Mehrbedarfe auf der Ausgabenseite. Das gilt insbesondere für die Beseitigung des seit über einem Jahrzehnt aufgelaufenen Investitionsstaus. Er ist seit geraumer Zeit ein Thema in der wirtschaftspolitischen Debatte, und es fehlt auch nicht an Lippenbekenntnissen der Politik. Dennoch liegt die Bruttoinvestitionsquote des Staates seit 2013 unverändert bei 2,1% des Bruttoinlandsprodukts. Die gesamtstaatlichen Nettoinvestitionen sind weiterhin negativ, was an den nach wie vor deutlich negativen Nettoinvestitionen der Gemeinden liegt. An dem Befund, dass der Staat mittelfristig einen zweistelligen Milliardenbetrag pro Jahr zusätzlich investieren muss, um die Versäumnisse der Vergangenheit nachzuholen und das Entstehen neuer Lücken zu verhindern, hat sich also nichts geändert.17 Zudem ist auch die Beschäftigung im öffentlichen Dienst für die anstehenden Aufgaben unzureichend. Es fehlen 110 000 Stellen vor allem bei der Bildung und Kinderbetreuung, in der Verwaltung und bei der Polizei. Will man hier Abhilfe schaffen, so entstehen Mehrausgaben von 6 Mrd. Euro pro Jahr.18 Da die Bedarfe mit der Integration der Flüchtlinge eher gestiegen als gesunken sind, ist die Annahme von Mehrbedarfen in einer Größenordnung von 20 Mrd. Euro jährlich nicht unrealistisch.

Vor diesem Hintergrund gehen Steuersenkungen zulasten wichtiger Zukunftsinvestitionen. Großzügige Steuersenkungen für alle wie beim Konzept der MIT wären mit erheblichen Steuerausfällen für die öffentliche Hand verbunden. Dies wäre auch in der aktuell günstigen Lage für die öffentlichen Haushalte nicht ohne weiteres zu verkraften. Was die Umsetzung des MIT-Konzepts in Zeiten der Schuldenbremse für den Bundeshaushalt und für die Makroökonomie bedeutet, hat das IMK in einer Simulationsrechnung untersucht.19 Obwohl die Steuersenkung für sich genommen die Konjunktur stimulieren würde, wären ab 2020 spürbare Ausgabenkürzungen mit entsprechend negativen Multiplikatorwirkungen notwendig, um die Schuldenbremse einzuhalten.20 Dennoch würde das Finanzierungsdefizit allein für den Bund vorübergehend auf 10 Mrd. Euro ansteigen und der Schuldenstand wäre 2021 um 50 Mrd. Euro höher als ohne Steuersenkungen. Dass die oben genannten Mehrausgaben noch getätigt werden können, ist dann nahezu ausgeschlossen. Mit großer Wahrscheinlichkeit würden die öffentlichen Investitionen geringer und nicht höher ausfallen. Noch deutlich ungünstiger würde die Entwicklung verlaufen, wenn es in den Jahren 2018 bis 2020 zu einer spürbaren Abschwächung der Konjunktur käme.21

Für weniger umfassende Steuersenkungen wie beispielsweise beim „Bayern-Tarif“ oder beim „Niedersachsen-Tarif“ dürfte der fiskalische Spielraum ausreichen. Allerdings würden auch hier nur begrenzte Mittel für die öffentlichen Investitionen und zusätzliches Personal in wichtigen Bereichen des öffentlichen Dienstes zur Verfügung stehen. Da die Investitionen wie die Personalausgaben aufgrund von Engpässen nur schrittweise angehoben werden können, wären diese Varianten möglicherweise sogar realisierbar. Zu beachten wären dabei die stark unterschiedlichen Verteilungswirkungen, die beim „Niedersachsen-Tarif“ günstiger wären.

Die reine Machbarkeit ist allerdings noch kein ausreichendes Argument, sich für diese Variante zu entscheiden. Es braucht eine klare Zielsetzung. Will man Verteilungsgerechtigkeit und Wachstum miteinander verbinden, so spricht viel für aufkommensneutrale Änderungen des Einkommensteuertarifs in Kombination mit dauerhaften Mehrinvestitionen in Bildung, Integration und Infrastruktur. Einige neuere Forschungsergebnisse zeigen eine signifikant negative Wirkung von Ungleichheit auf das Wachstum.22 Diese Effekte scheinen besonders stark ausgeprägt zu sein, wenn das untere Ende der Einkommensverteilung deutlich abgehängt ist.23 Da die unteren Einkommensgruppen kaum Steuern zahlen, ist allerdings auch das Entlastungspotenzial begrenzt. Das ist ein weiteres Argument für die genannten Maßnahmen auf der Ausgabenseite. Infrastrukturinvestitionen und ein erstklassiges Bildungssystem kommen gerade auch den unteren Einkommensgruppen zugute. Dorthin müssen die Ressourcen gelenkt werden. Die Aussichten, dass dies gelingen kann, sind aktuell sehr günstig. Das Kommunalpanel der Kreditanstalt für Wiederaufbau meldet einen leichten Rückgang des Investitionsstaus am aktuellen Rand.24 Auch die Kassenkredite der Kommunen sind im vergangenen Jahr erstmals seit Jahren deutlich gesunken. Der Bund hat eine Reihe von Maßnahmen auf den Weg gebracht, um gerade auch finanzschwachen Kommunen die Investitionstätigkeit zu erleichtern.25 Diese Chance für eine umfassende Modernisierung des Landes sollte jetzt nicht leichtfertig durch erhebliche Steuersenkungen verspielt werden.

  • 1 Bundesministerium der Finanzen: Anlage 2 zu Pressemitteilung 14 vom 11.5.2017, http://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Pressemitteilungen/Finanzpolitik/2017/05/2017-05-11-pm-anlage2.pdf?__blob=publicationFile&v=3 (23.5.2017).
  • 2 Z.B. Monatsbericht der Deutschen Bundesbank, August 2016, S. 61.
  • 3 K. Rietzler, D. Teichmann, A. Truger: IMK-Steuerschätzung 2014-2018. Mehreinnahmen verantwortungsvoll nutzen – mit Rückschlägen rechnen, IMK Report, Nr. 93, April 2014.
  • 4 Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages: Versicherungsfremde Leistungen in der Gesetzlichen Krankenversicherung sowie in der Sozialen Pflegeversicherung. Dokumentation WD 9 – 3000 – 051/16, Deutscher Bundestag, 2016, Drucksache 18/9513.
  • 5 K. Rietzler, D. Teichmann, A. Truger: Abbau der kalten Progression: nüchterne Analyse geboten, in: Wirtschaftsdienst, 94. Jg. (2014), H. 12, S. 864-871, http://archiv.wirtschaftsdienst.eu/jahr/2014/12/abbau-der-kalten-progression-nuechterne-analyse-geboten/ (8.6.2017).
  • 6 AMECO-Datenbank der Europäischen Kommission, https://ec.europa.eu/info/business-economy-euro/indicators-statistics/economic-databases/macro-economic-database-ameco/download-annual-data-set-macro-economic-database-ameco_en (Mai 2017).
  • 7 S. Bach, M. Beznoska, V. Steiner: Wer trägt die Steuerlast in Deutschland? – Verteilungswirkungen des deutschen Steuer- und Transfersystems, DIW Politikberatung Kompakt, Nr. 114, September 2016, Berlin, S. 61.
  • 8 Ebenda, S. 60.
  • 9 Ebenda, S. 67.
  • 10 S. Bach, H. Buslei: Wie können mittlere Einkommen beim Einkommensteuertarif entlastet werden?, in: DIW Wochenbericht, Nr. 20, 2017, S. 391-399; C. Fuest, S. Gäbler, B. Kauder, L. Lorenz, M. Mosler: Reform der Einkommensteuer: Vorschläge für einen „Niedersachsen-Tarif“, Studie des ifo Instituts im Auftrag des Landes Niedersachsen, München, April 2017; K. Rietzler, B. Scholz, D. Teichmann, A. Truger: IMK-Steuerschätzung 2017-2021. Staatliche Handlungsfähigkeit nicht aufs Spiel setzen, IMK Report, Nr. 126, Mai 2017.
  • 11 S. Bach, H. Buslei, a.a.O., S. 397.
  • 12 K. Rietzler, B. Scholz, D. Teichmann, A. Truger, a.a.O., S. 14 ff.
  • 13 C. Fuest, S. Gäbler, B. Kauder, L. Lorenz, M. Mosler, a.a.O.
  • 14 Nach Berechnungen des IMK dürfte das Durchschnittseinkommen bei einer Vollzeittätigkeit in diesem Jahr knapp 49 915 Euro betragen, während das Medianeinkommen auf 41 742 Euro geschätzt wird. Vgl. K. Rietzler, B. Scholz, D. Teichmann, A. Truger, a.a.O., S. 13.
  • 15 Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose: Aufschwung festigt sich trotz weltwirtschaftlicher Risiken, Frühjahrsgutachten 2017, Berlin April 2017.
  • 16 A. Truger, H. Will: Prozyklisch und gestaltungsanfällig: Die deutsche Schuldenbremse in der Detailanalyse, IMK Working Paper, Nr. 88, 2012.
  • 17 K. Rietzler: Anhaltender Verfall der Infrastruktur. Die Lösung muss bei den Kommunen ansetzen, IMK Report, Nr. 94, Juni 2014.
  • 18 D. Vesper: Aktuelle Entwicklungstendenzen und zukünftiger Personalbedarf im Öffentlichen Dienst, Gutachten erstellt im Auftrag des IMK in der Hans-Böckler-Stiftung, IMK Studies, Nr. 51, 2016.
  • 19 K. Rietzler, B. Scholz, D. Teichmann, A. Truger, a.a.O.
  • 20 Für die Simulation wurde ein Steuermultiplikator von 0,5 und ein Ausgabenmultiplikator von 1 angenommen, vgl. S. Gechert: What fiscal policy is most effective? A meta-regression analysis, in: Oxford Economic Papers, 67. Jg. (2015), H. 3, S. 553-580.
  • 21 K. Rietzler, B. Scholz, D. Teichmann, A. Truger: IMK-Steuerschätzung 2017-2021, a.a.O., S. 16 ff.
  • 22 J. Ostry, A. Berg, C. Tsangarides: Redistribution, Inequality, and Growth, IMF Staff Discussion Note, Nr. SDN/14/02, Washington, Februar 2014.
  • 23 F. Cingano: Trends in Income Inequality and Its Impact on Economic Growth, OECD Social, Employment and Migration Working Papers, Nr. 163, Paris 2014, http://dx.doi.org/10.1787/5jxrjncwxv6j-en (23.5.2017).
  • 24 KfW Bankengruppe (Hrsg.): KfW-Kommunalpanel 2017, Frankfurt a.M., Mai 2017.
  • 25 Bundesministerium der Finanzen: Kommunalfinanzen 2016 im Lichte gesamtstaatlicher Herausforderungen, in: Monatsbericht des BMF, Januar 2017, S. 20-26.

Entlastungen bei der Einkommensteuer möglich

Steuerliche Entlastungen geringer und mittlerer Einkommen stehen gegenwärtig im Zentrum der wirtschaftspolitischen Debatte. Sinnvoll erscheinen solche Entlastungen im Rahmen einer Einkommensteuerreform. Szenarien für mögliche Tarifänderungen zur Abflachung des Mittelstandsbauchs implizieren Steuerentlastungen zwischen 10 Mrd. und 40 Mrd. Euro. Wenn das Konstanthalten der Steuerquote auf dem Niveau des Jahres 2014 als sinnvolle Leitlinie betrachtet wird, wären bis 2020 Entlastungen von bis zu 40 Mrd. Euro möglich. Steuerentlastungen würden weitere öffentliche Investitionen nicht gefährden.

Die Steuerschätzung vom Mai 2017 hat die Diskussion um mögliche Steuersenkungen weiter beflügelt. Bis zum Jahr 2021 könnten Bund, Länder und Gemeinden zusammen 54 Mrd. Euro mehr Steuern einnehmen als noch im letzten Herbst errechnet. Die Steuerschätzer prognostizieren für die kommenden fünf Jahre einen Anstieg der Einnahmen von 732,4 Mrd. Euro 2017 auf 852,2 Mrd. Euro im Jahr 2022.1 Das weckt Begehrlichkeiten im politischen Prozess. Die Rufe nach Steuerentlastungen sind schon in den vergangenen Monaten immer lauter geworden. Andere Politiker halten Steuersenkungen für nicht notwendig oder finanzierbar – einige meinen sogar, dass bei Steuersenkungen keine Mittel mehr für dringend notwendige Investitionen übrig seien und Deutschland so seine Zukunft verspiele.

Kalte Progression und Mittelstandsbauch

Insbesondere die steuerliche Belastung geringer und mittlerer Einkommen wird in der öffentlichen Debatte als Problem angesehen. Geringe Einkommen über dem Grundfreibetrag sehen sich besonders schnell steigenden Grenzsteuersätzen gegenüber. Diese starke Progression wird in der politischen Debatte teils als leistungsfeindlich und ungerecht angesehen. Im oberen Bereich mittlerer Einkommen ist zudem problematisch, dass die Zahl der vom Spitzensteuersatz betroffenen Steuerzahler massiv gestiegen ist. Im Jahr 1960 war beispielsweise noch das Achtzehnfache des Durchschnittseinkommens nötig, um vom Spitzensteuersatz betroffen zu sein, während gegenwärtig das Anderthalbfache genügt. Eine wesentliche Ursache dafür sind „heimliche Steuererhöhungen“ durch die kalte Progression. Die Realeinkommen der Bürger blieben konstant, wenn die Einkommen mit der Inflation steigen würden. Doch basiert der progressive deutsche Einkommensteuertarif auf nominalen Werten und lässt die Realeinkommen schrumpfen (kalte Progression im engeren Sinne). Im Zeitraum 2011 bis 2016 führte diese kalte Progression im engeren Sinne zu Steuermehreinnahmen von ca. 33,5 Mrd. Euro.2 Im Oktober 2016 hat die Bundesregierung beschlossen, künftige Mehrbelastungen auszugleichen, indem die Eckwerte des Einkommensteuertarifs in den Jahren 2017 bzw. 2018 um die erwartete Inflationsrate des jeweiligen Jahres nach rechts verschoben werden.3 Die kalte Progression im weiteren Sinne, die auch steigende Realeinkommen in der Volkswirtschaft berücksichtigt (gegebenenfalls auch ohne Preissteigerungen von Konsumgütern), hatte noch größere Ausmaße: Im Zeitraum 2011 bis 2016 führte sie zu Steuermehreinnahmen von ca. 70,2 Mrd. Euro.4 Der Staat absorbiert somit einen immer größer werdenden Anteil der Wirtschaftsleistung.

Was das richtige Maß an Steuern und Abgaben ist, bleibt eine politische Frage. Eine sinnvolle Leitlinie könnte sein, die Steuerquote (Anteil der Steuereinnahmen am Bruttoinlandsprodukt – BIP) konstant zu halten. Wenn die Steuerquote aus dem Jahr 2014 mit 22% konstant gehalten werden soll, so könnte das Steueraufkommen bis 2020 um knapp 40 Mrd. Euro sinken. Mit dem Ziel einer konstanten Steuerquote obläge es ebenso den politischen Entscheidungsträgern festzulegen, welche Steuern gesenkt werden sollen. Die Steuerschätzungen zeigen jedoch schon seit Längerem, dass insbesondere die Einkommensteuereinnahmen ansteigen. Im Vergleich zu anderen Steuern nimmt ihr Gewicht zu. Will man also auch das Verhältnis aus den Aufkommen der einzelnen Steuern in etwa konstant lassen, so sollte die Einkommensteuer gesenkt werden.

Eine Einkommensteuersenkung verlangt eine Anpassung des Steuertarifs. Schon in den vergangenen Monaten ist öffentlich so intensiv wie selten zuvor diskutiert worden, neben der kalten Progression den Mittelstandsbauch zu beseitigen.5 Der Name Mittelstandsbauch stammt noch aus den 1980er Jahren, da bis zum Jahr 1989 der Anstieg des Einkommensteuertarifs konkav verlief. Die meisten Steuerzahler liegen beim Mittelstandsbauch: Abbildung 1 zeigt, dass sich ein Großteil der Steuerpflichtigen im Bereich niedriger und mittlerer Einkommen mit stark ansteigenden Grenzsteuersätzen befindet. Reformen des Steuertarifs in diesem Bereich würden also viele Bürger betreffen; sie könnten zu deutlichen Steuerentlastungen führen und wären selbstredend mit entsprechenden Steuermindereinnahmen verbunden.

Abbildung 1
Einkommensteuertarif 2016 und Verteilung der Steuerzahler nach zu versteuerndem Einkommen
Einkommensteuertarif 2016 und Verteilung der Steuerzahler nach zu versteuerndem Einkommen

Quelle: eigene Darstellung basierend auf der in das Jahr 2016 fortgeschriebenen faktisch anonymisierten Lohn- und Einkommensteuerstatistik 2010, vgl. Statistische Ämter: Mikrodaten der Lohn- und Einkommensteuerstatistik 2010, 2016, ohne Darstellung der fünften Steuertarifzone. Die Verteilung bezieht sich auf Steuerpflichtige ohne zusammen Veranlagte. Entnommen aus F. Dorn, C. Fuest, F. Häring, B. Kauder, L. Lorenz, M. Mosler: Die Beseitigung des Mittelstandsbauchs – Reformoptionen zur Einkommensteuer und ihre fiskalischen Kosten, in: ifo Schnelldienst, 70. Jg. (2017), H. 9, S. 31-38.

Der Einkommensteuertarif 2016 sieht einen Grundfreibetrag von 8652 Euro vor (vgl. Abbildung 1). Im sich anschließenden Einkommensbereich zwischen 8653 Euro und 13 669 Euro steigt der Grenzsteuersteuersatz schnell von 14% auf ca. 24% an (erste Progressionszone). Der Anstieg des Grenzsteuersatzes in der zweiten Progressionszone für zu versteuernde Einkommen zwischen 13 670 Euro und 53 665 Euro verläuft dagegen bis zum Spitzensteuersatz von 42%6 vergleichsweise langsamer. Die gegenwärtige Gestalt des Einkommensteuertarifs mit zwei linear-progressiven Zonen ähnelt somit eher einer „Mittelstandsecke“ (Bund der Steuerzahler), bzw. wenn man berücksichtigt, dass die Ecke im Einkommensbereich rund um 13 670 Euro liegt, einer „Geringverdienerecke“.

Szenarien für mögliche Tarifänderungen

Simuliert haben wir drei mögliche Reformvorschläge zur Abflachung des Mittelstandsbauchs, die geringe und mittlere Einkommen entlasten würden:7

  1. eine stufenweise Rechtsverschiebung der Einkommenseckwerte zu Beginn der zweiten Progressionszone. Damit verbunden wären Steuerentlastungen im Umfang von ca. 15,7 Mrd. bis 31,4 Mrd. Euro;
  2. eine Rechtsverschiebung der Einkommensschwelle, ab welcher der Spitzensteuersatz greift. Eine moderate Rechtsverschiebung der Einkommensschwelle um 5000 Euro brächte Steuerentlastungen von ca. 3,7 Mrd. Euro, eine starke Rechtsverschiebung der Einkommensschwelle um 25 000 Euro brächte Steuerentlastungen von ca. 14,7 Mrd. Euro;
  3. eine Kombination der ersten beiden Reformoptionen, die die Steuerzahler um 19 Mrd. bis 37 Mrd. Euro entlasten würde.

Eine mögliche Gegenfinanzierung dieser Steuerentlastung ist die Einführung einer neuen linear-progressiven Zone für Einkommen zwischen 53 665 Euro und 254 446 Euro (ab diesem zu versteuernden Einkommen greift der Reichensteuersatz von 45%). Der Grenzsteuersatz würde sich hier graduell von 42% auf 45% erhöhen. Allerdings liegt das zusätzlich zu generierende Steueraufkommen nur zwischen 690 Mio. und 1 Mrd. Euro, sodass sich diese Maßnahme nicht zur Gegenfinanzierung der Abflachung des Mittelstandsbauchs eignet. Würde man zusätzlich den Eckwert, ab dem der Reichensteuersatz von 45% greift, halbieren und bei 125 000 Euro einsetzen lassen, so ließen sich 1,5 Mrd. bis 2 Mrd. Euro zusätzliches Steueraufkommen schaffen. Die oben genannten Steuerausfälle von bis zu 37 Mrd. Euro ließen sich so aber ebenso wenig gegenfinanzieren.

Weitere Varianten zur Tarifanpassung beinhalten neben der Entlastung geringer und mittlerer Einkommen eine stärkere Belastung höherer Einkommen. Fuest et al. haben vier Reform-Szenarien auf Basis des ifo-Einkommensteuer-Simulationsmodells (ifo-ESM) simuliert.8 In allen Szenarien wird unterstellt, dass der Solidaritätszuschlag abgeschafft wird während Grundfreibetrag und Eingangsteuersatz unverändert bleiben. Zudem wird das Ende der zweiten linear-progressiven Zone auf 58 000 Euro bei einem Grenzsteuersatz von 45% erhöht. Daran schließt sich eine neue linear-progressive Zone bis 150 000 Euro an, ab deren Ende der neue Höchststeuersatz von 49% gilt. Die vier Szenarien unterscheiden sich darin, wie sehr die geringen und mittleren Einkommen steuerlich entlastet werden – durch Veränderungen der Grenzsteuersätze und der Grenze zwischen den ersten beiden linear-progressiven Zonen. Im ersten Reform­szenario wird das Ende der ersten Tarifzone von knapp 14 000 Euro auf 25 000 Euro nach rechts verschoben und der Grenzsteuersatz an dieser Grenze von 24% auf 30,5% erhöht. Verteilungsanalysen zeigen, dass bei dieser Reform Einkommensbezieher der obersten beiden Dezile belastet werden. Die Steuerausfälle würden insgesamt 10,7 Mrd. Euro betragen. Im zweiten Reformszenario wird der Grenzsteuersatz am Ende der ersten Tarifzone nicht auf 30,5% erhöht, sondern bei 24% belassen. Das entlastet die geringen und mittleren Einkommen erheblich. Die fiskalischen Kosten dieser Variante liegen bei 39,3 Mrd. Euro. Die wichtige Erkenntnis aller vier Reformszenarien ist, dass Steuerentlastungen geringer und mittlerer Einkommen große fiskalische Wirkungen haben, weil sich eben der Großteil der Steuerpflichtigen im Bereich niedriger und mittlerer Einkommen mit stark ansteigenden Grenzsteuersätzen befindet.

Begrenzung der Staatsausgaben

Eine Hoffnung der Befürworter von Steuersenkungen ist, dass die Steuersenkungen in der kurzen Frist die Konjunktur beflügeln und langfristig sogar einen positiven Effekt auf das Wirtschaftswachstum haben. Wenn die Rechnung aufgeht, finanzieren sich die Steuersenkungen also teilweise selbst. Von einer vollständigen Selbstfinanzierung kann man aber nicht ausgehen. Deshalb stellt sich die Frage der Gegenfinanzierung. Eine steigende Steuerquote bedeutet, dass Steuern ohne Staatsausgabenkürzungen oder neue Schulden gesenkt werden können, sofern der Anteil der Staatsausgaben am Bruttoinlandsprodukt nicht zunimmt. Nach der aktuellen Steuerschätzung vom Mai 2017 wird die Steuerquote bis 2020 auf 23,1% des BIP ansteigen. Wenn man als Leitlinie eine konstante Steuerquote auf dem Niveau des Jahres 2014 anstrebt, ergäbe sich ein Entlastungsvolumen von knapp 40 Mrd. Euro pro Jahr. Wenn die Steuereinnahmen sprudeln, weckt das Begehrlichkeiten, und die Ausgabenwünsche steigen entsprechend an. Grundsätzlich gilt, dass Steuerentlastungen einen Verzicht auf Staatsausgaben bedeuten. Es mag den Landtagswahlen im Saarland, Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen sowie den anstehenden Bundestagswahlen geschuldet sein, dass Ausgabenkürzungen zur Flankierung der Steuersenkungen nahezu gar nicht in der öffentlichen Debatte diskutiert wurden. Das ist höchst problematisch. Eine regelmäßige und kritische Ausgabenüberprüfung ist dringend notwendig, um Handlungsspielräume in den öffentlichen Haushalten zu bewahren und überflüssige Steuerlasten zu vermeiden.

Eine Möglichkeit zur Begrenzung der Staatsausgaben, die bereits zur Finanzierung der staatlichen Mehrausgaben durch die Flüchtlingssituation diskutiert wurde, ist die Rücknahme der Rente mit 63 und insgesamt eine Anhebung des Renteneintrittsalters.9 Der mit Abstand größte Posten konsumtiver Ausgaben im Bundeshaushalt ist mit ca. 80 Mrd. Euro der Bundeszuschuss zur Rentenversicherung. Simulationsrechnungen auf Basis des Modells von Werding haben gezeigt, dass wenn die Rente mit 63 rasch abgeschafft worden wäre, die Rentenausgaben bis zum Jahr 2020 um gut 10 Mrd. Euro und der Bundeszuschuss um 1,5 Mrd. hätten sinken können.10 Eine radikale Heraufsetzung der Altersgrenze bis 2020 auf 68 Jahre hätte sogar Einsparungen bei Renten und Bundesmitteln von rund 50 Mrd. bzw. 6 Mrd. Euro gebracht.11 Eine Erhöhung der Altersgrenze für Beamte von 67 auf 68 Jahre (eine Rente mit 63 gibt es für Beamte nicht), hätte Einsparungen von bis zu 9 Mrd. Euro bringen können, die vor allem Länder und Kommunen entlastet hätten. Vor diesem Hintergrund sehen wir auch gegenwärtig diskutierte Reformmaßnahmen wie beispielsweise die erneute Ausweitung der Mütterrente oder das „Arbeitslosengeld Q“ kritisch.

Einige Politiker meinen, dass es keinen Raum für Steuersenkungen gäbe, weil der Staat wieder mehr investieren müsse. Wir stimmen zu, dass Deutschland wieder mehr öffentliche Investitionen gut täten, doch meinen wir keineswegs, dass durch Steuersenkungen weiteren öffentlichen Investitionen zwangsweise eine Absage erteilt werden würde. Es sind genug Mittel zum Investieren vorhanden, doch liegen mitunter nicht genügend planfestgestellte Projekte vor, oder Investitionen scheitern am Widerstand der Bevölkerung (Stromtrassen) oder an der Unfähigkeit der Verantwortlichen (Flughafen Berlin). Die Politik hat daher bislang andere Prioritäten gesetzt (z.B. in der Rentenpolitik). Darüber hinaus haben Politiker offenbar geringe Anreize, in Erhaltung und Reparaturen zu investieren, weil ihnen das weniger Wählerstimmen bringt als neue Projekte.

  • 1 Bundesministerium der Finanzen: Er­geb­nis­se der 151. Sit­zung des Ar­beits­krei­ses „Steu­er­schät­zun­gen“ vom 9. bis 11. Mai 2017 in Bad Mus­kau, Pressemitteilung vom 11.5.2017, http://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Pressemitteilungen/Finanzpolitik/2017/05/2017-05-11-pm-steuerschaetzung.html (8.6.2017).
  • 2 F. Dorn, C. Fuest, B. Kauder, L. Lorenz, M. Mosler, N. Potrafke: Heimliche Steuererhöhungen – Belastungswirkungen der Kalten Progression und Entlastungswirkungen eines Einkommensteuertarifs auf Rädern, ifo Forschungsberichte, Nr. 76, München 2016; F. Dorn, C. Fuest, B. Kauder, L. Lorenz, M. Mosler, N. Potrafke: Steuererhöhungen durch die Hintertür – fiskalische Aufkommenswirkungen der Kalten Progression, in: ifo Schnelldienst, 70. Jg. (2017), H. 2, S. 51-58.
  • 3 Zum „Tarif auf Rädern“ vgl. ebenda; F. Dorn, C. Fuest, B. Kauder, L. Lorenz, M. Mosler, N. Potrafke: Die Kalte Progression – Verteilungswirkungen eines Einkommensteuertarifs auf Rädern, in: ifo Schnelldienst, 70. Jg. (2017), H. 3, S. 28-39.
  • 4 Erzielt haben wir diese Ergebnisse mithilfe des ifo-Einkommensteuer-Simulationsmodells (ifo-ESM) auf Basis von Mikrodaten der Lohn- und Einkommensteuerstatistik des Erhebungsjahrs 2010. Das ifo-ESM ist ein statisches Modell, das durch die Steuerreformen hervorgerufene fiskalische Multiplikatoreffekte auf das gesamtwirtschaftliche Produktionsniveau sowie dynamische Arbeitsangebotseffekte nicht berücksichtigt.
  • 5 Zum Beispiel C. Fuest: Einkommensteuerentlastungen sind finanzierbar, ifo Standpunkt, Nr. 177, auch erschienen unter dem Titel „Geringere Steuern sind möglich“, Zeit Online, 15.8.2016.
  • 6 Der eigentliche Spitzensteuersatz wäre der „Reichensteuersatz“ von 45%, auf den wir im Folgenden noch eingehen.
  • 7 F. Dorn, C. Fuest, B. Kauder, L. Lorenz, M. Mosler: Die Beseitigung des Mittelstandsbauchs – Varianten und Kosten, ifo Forschungsberichte, Nr. 77, München 2016; F. Dorn, C. Fuest, F. Häring, B. Kauder, L. Lorenz, M. Mosler: Die Beseitigung des Mittelstandsbauchs – Reformoptionen zur Einkommensteuer und ihre fiskalischen Kosten, in: ifo Schnelldienst, 70. Jg. (2017), H. 9, S. 31-38.
  • 8 C. Fuest, S. Gäbler, B. Kauder, L. Lorenz, M. Mosler: Reform der Einkommensteuer: Vorschläge für einen „Niedersachsen-Tarif“, ifo Forschungsberichte, Nr. 82, München 2017.
  • 9 N. Potrafke: Rentenalter wieder erhöhen, in: Die Welt vom 22.9.2015; N. Potrafke, M. Werding: Wir müssen wieder länger arbeiten, in: Wirtschaftswoche vom 13.11.2015.
  • 10 M. Werding: Modell für flexible Simulationen zu den Effekten des demographischen Wandels für die öffentlichen Finanzen in Deutschland bis 2060: Daten, Annahmen und Methoden, Bertelsmann-Stiftung, Gütersloh 2013.
  • 11 N. Potrafke, M. Werding, a.a.O.

Steuerreformen in der nächsten Legislaturperiode: Wie kann die arbeitende Mitte entlastet werden?

Die Steuerpolitik ist ein wichtiges Thema für die anstehende Bundestagswahl und für die nächste Legislaturperiode. Die seit 2013 regierende Große Koalition hat die Steuerpolitik weitgehend ausgeklammert, auch unter der vorangehenden schwarz-gelben Regierung ist in der Steuerpolitik nicht viel passiert. Anders als früher sind die öffentlichen Haushalte derzeit gut bei Kasse. Dank der günstigen Einnahmenentwicklung bei Steuern und Sozialbeiträgen liefen zuletzt beträchtliche Haushaltsüberschüsse auf. Daher werden Entlastungen der Steuerzahler reklamiert, vornehmlich für die mittleren Einkommensgruppen, deren hohe Steuer- und Abgabenlasten beklagt werden. Politiker und Verbände haben hierzu bereits Steuerentlastungen in Größenordnungen von bis zu 40 Mrd. Euro im Jahr vorgeschlagen. Andere wollten mit dem Geld vordringlich mehr öffentliche Leistungen finanzieren oder die Staatsschulden abbauen.

Steuer- und Abgabenlasten: Konzentration in der Mitte

Die kräftig sprudelnden Steuereinnahmen der letzten Jahre lösen in bürgerlich-neoliberalen Kreisen regelmäßig postfaktische Eruptionen aus. „Die Gier des Staates hat kleptokratische Züge angenommen“, hieß es nach der letzten Steuerschätzung. Zwar sind „Rekordsteuereinnahmen“, wie sie von den Medien regelmäßig gemeldet werden, bei nominal steigendem Sozialprodukt nicht sonderlich überraschend. Doch ist auch die gesamtwirtschaftliche Steuerquote – das Steueraufkommen (in Abgrenzung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen – VGR) in Relation zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) – in den letzten Jahren gegenüber ihren historischen Tiefpunkten 2005 und 2010 wieder deutlich gestiegen (vgl. Abbildung 1). Derzeit bewegt sie sich bei knapp 24% des BIP. Hierzu haben vor allem die überproportionalen Einnahmen aus der Einkommensteuer durch die „kalte“ und „warme“ Progression beigetragen, denn der Einkommensteuertarif ist in den letzten Jahren nur wenig zurückgenommen worden.

Abbildung 1
Steuern und Sozialbeiträge in Deutschland
Steuern und Sozialbeiträge in Deutschland

Anmerkung: Die Abgabenquote ergibt sich als Summe aus Steuerquote und Sozialbeitragsquote. Zugrunde gelegt werden empfangene Steuern und Sozialbeiträge des Staatssektors. Ab 1970 Steuereinnahmen einschließlich vermögenswirksamer Steuern und Steuereinnahmen an die EU. Sozialbeiträge einschließlich unterstellter Sozialbeiträge für die Beamtenversorgung, abzüglich der Beiträge des Staates für Empfänger sozialer Leistungen. 1925 bis 1939: Deutsches Reich, Kassenmäßiges Abgabenaufkommen, BIP-Schätzungen von Ritschl und Spoerer, vgl. A. Ritschl, M. Spörer: Das Bruttosozialprodukt in Deutschland nach den amtlichen Volkseinkommens- und Sozialproduktstatistiken 1901-1995, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, 38. Jg. (1997), Nr. 2, S. 27-54. 1950 bis 1969: Früheres Bundesgebiet (bis 1959 ohne Berlin-West und Saarland), VGR-Revision 1991. 1970 bis 1990: Früheres Bundesgebiet, VGR-Revision 2005; 1991 bis 2016: Deutschland, VGR-Revision 2014. 2017 und 2018: Prognose des DIW Berlin.

Quelle: Statistisches Bundesamt: Volkswirtschaftliche Gesamtrechungen; Berechnungen des DIW Berlin.

Allerdings war die gesamtwirtschaftliche Steuerquote schon Ende der 1990er Jahre oder Mitte der 1970er Jahre ähnlich hoch.1 Überhaupt fällt im säkularen Trend auf, dass sie seit Beginn der 1950er Jahre bemerkenswert konstant verlief – sie schwankte seitdem in einer Bandbreite von 21% bis 25%. Deutlich gestiegen sind die Sozialbeiträge. Die sind zwar keine reinen Steuern, da sie grundsätzlich zurechenbare Versicherungsleistungen finanzieren, vor allem bei Rente und Arbeitslosengeld I. Bei Krankenkasse und Pflege wirken sie aber wie Bruttoeinkommensteuern, denn hier bekommt jeder Versicherte die gleichen Leistungen, unabhängig von den Beitragszahlungen.

Innerhalb des Steueraufkommens haben sich die Gewichte im Laufe der letzten Jahrzehnte von den direkten Steuern auf Einkommen und Vermögen hin zu den indirekten Steuern verlagert (vgl. Abbildung 2). Während in den 1960er und 1970er Jahren die Einkommensteuer deutlich ausgeweitet wurde und Verbrauchsteuern sowie sonstige Gütersteuern außer den Energiesteuern an Bedeutung verloren, hat die Steuerpolitik seit den 1990er Jahren die umgekehrte Entwicklung eingeschlagen. Unter den Vorzeichen von hoher Arbeitslosigkeit, Wachstumsschwäche, Globalisierung, Standortwettbewerb und Steuerflucht wurden hohe Einkommen und Vermögen entlastet – durch die Senkung von Einkommensteuer-Spitzensätzen, Unternehmensteuern und Kapitaleinkommensteuern sowie die Abschaffung der Vermögensteuer. Die indirekten Steuern wurden dagegen durch mehrfache Erhöhungen von Mehrwertsteuer und Energiesteuern sowie durch die Umlage nach dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) ausgeweitet.

Abbildung 2
Struktur der Steuereinnahmen in Deutschland
Struktur der Steuereinnahmen in Deutschland

Anmerkung: Zugrunde gelegt werden empfangene Steuereinnahmen des Staatssektors einschließlich vermögenswirksamer Steuern und Steuereinnahmen an die EU. 1950 bis 1969: Früheres Bundesgebiet (bis 1959 ohne Berlin-West und Saarland), VGR-Revision 1991. 1970 bis 1990: Früheres Bundesgebiet, VGR-Revision 2005; 1991 bis 2016: Deutschland, VGR-Revision 2014.

Quelle: Statistisches Bundesamt: Volkswirtschaftliche Gesamtrechungen; Berechnungen des DIW Berlin.

Diese Strukturverschiebungen haben die Steuer- und Abgabenbelastungen stärker auf die mittleren und höheren Einkommen verlagert. Mikrodatenbasierte Analysen zeigen, dass das Steuersystem in Deutschland nur moderat progressiv wirkt.2 Abbildung 3 zeigt die durchschnittlichen Belastungen mit Steuern und Sozialbeiträgen in Relation zum Bruttoeinkommen 2015 nach der Höhe des Bruttoäquivalenzeinkommens.3 Deutlich progressiv sind die Einkommen- und Unternehmensteuern, wie vom Gesetzgeber beabsichtigt. Durch die Abzüge vom Einkommen sowie den Grundfreibetrag bleiben niedrige Einkommen steuerfrei. Bei höheren Einkommen steigen die Belastungen deutlich.

Abbildung 3
Steuern und Sozialbeiträge 20151
Steuern und Sozialbeiträge 2015

1 Werte polynomisch geglättet. 2 Hälftige Aufteilung der Sozialbeiträge. 3 Äquivalenzgewichtet mit der neuen OECD-Skala.

Quelle: Integrierte Datenbasis SOEP und Einkommens- und Verbrauchsstichprobe sowie Einkommensteuerstatistik, fortgeschrieben auf 2015.

Dagegen sind die indirekten Steuern, auf die knapp die Hälfte des Steueraufkommens entfällt, deutlich regressiv, sie belasten ärmere Haushalte relativ stärker als reiche. Dadurch wird die gesamte Steuerbelastung im unteren Einkommensbereich regressiv. Auch bei mittleren Einkommen kompensieren sich progressive Einkommensteuer und regressive indirekte Steuern weitgehend. Die gesamte Steuerbelastung steigt bis in die obersten Einkommensgruppen nur recht moderat. Nimmt man ferner vereinfachend an, dass die Hälfte der Sozialbeiträge den Steuern zuzurechnen ist, erhöhen sich die Steuerbelastungen der mittleren und höheren Einkommen beträchtlich. Bei hohen Einkommen sinkt die relative Belastung durch die Beitragsbemessungsgrenzen wieder. Insgesamt haben Top-Verdiener und Superreiche nur wenig höhere Durchschnittsteuersätze als Mittelschichtbürger, wenn man die indirekten Steuern und Teile der Sozialbeiträge mitrechnet. Und wenn Bezieher von hohen Unternehmens- und Kapitaleinkommen Steuervergünstigungen nutzen, können ihre Steuerbelastungen niedriger liegen als in Abbildung 3 ausgewiesen.

Vom „Tarif auf Rädern“ bis zur Erhöhung der Spitzensteuersätze

Die auf die mittleren und höheren Einkommen gestauchte Progression der Einkommensteuer wurde in den letzten Jahren nur wenig zurückgenommen. Dadurch sind inzwischen erhebliche progressionsbedingte Mehreinnahmen gegenüber der letzten größeren Einkommensteuertarifreform im Jahr 2010 aufgelaufen. Diese werden derzeit auf jährlich 20 Mrd. bis 25 Mrd. Euro geschätzt.4

Um diese den Steuerzahlern zurückzugeben oder künftig zu vermeiden, muss der Einkommensteuertarif „nach rechts“ verschoben werden, indem der Grundfreibetrag und die Einkommensgrenzen der Abschnitte des Einkommensteuertarifs um die aufgelaufenen durchschnittlichen nominalen Einkommenszuwächse je Steuerzahler erhöht werden. Ein „Steuertarif auf Rädern“, also die regelmäßige Anpassung an die Einkommensentwicklung oder zumindest an die Inflationskomponente, ist eine beliebte Forderung.5

Das würde allerdings nicht die Mittelschichten, sondern die Besserverdiener und Hocheinkommensbezieher entlasten. Denn das Einkommensteueraufkommen ist sehr stark auf die oberen Dezile und Perzentile der Einkommensverteilung konzentriert (vgl. auch Abbildung 3). Die reichsten 10% der Bevölkerung zahlen 56% des gesamten Einkommensteueraufkommens, die reichsten 20% knapp zwei Drittel.6 Entsprechend verteilt sind die Entlastungen, wenn man den Steuertarif auf Räder stellt. Politisch und ideologisch ist das völlig in Ordnung – wenn man den derzeitigen Steuertarif für gerecht hält. Eine Entlastung der Mittelschichten sieht aber anders aus.

Die Mutter aller Einkommensteuer-Tarifreformen ist die „Abmagerung“ des „Mittelstandsbauchs“. Der schnelle Anstieg der (Grenz-)Steuersätze im Eingangsbereich des Steuertarifs gilt als ungerecht und leistungsfeindlich. Bevorzugt wird ein durchgängig linear-progressiver Tarif mit konstantem Anstieg der Grenzbelastung über die gesamte Progressionszone. Das sieht auch tarifästhetisch schöner aus. Eine solche Reform würde beim derzeitigen Tarif 35 Mrd. Euro Steuermindereinnahmen im Jahr kosten.7 Da bei ansonsten gleichem Tarifverlauf davon auch die Steuerpflichtigen mit den hohen Einkommen profitieren, fallen bei dieser Reform immer noch 29% der Steuerentlastungen auf die reichsten 10% der Bevölkerung und 53% auf die reichsten 20%. Auch das ist politisch und ideologisch völlig in Ordnung – wenn man einen linear-progressiven Steuertarif mit den heutigen Spitzensteuersätzen für gerecht hält.

Wenn man dagegen stärker die unteren und mittleren Einkommen entlasten und hohe Steuerausfälle vermeiden will, muss man die Steuersätze im oberen Einkommensbereich anheben. Politisch und ideologisch kann man das mit den steuerlichen Entlastungen für hohe Einkommen und Vermögen über die letzten Jahrzehnte sowie der gestiegenen Ungleichheit bei der Einkommens- und Vermögensverteilung begründen.

Eine moderate Anhebung der Spitzensteuersätze erzielt aber nur begrenzte Mehreinnahmen. Würde man beim geltenden Einkommensteuertarif die linear-progressive Grenzsteuersatzfunktion der zweiten Progressionszone über die derzeitige Einkommensgrenze von 54 057 Euro hinaus bis zu einem Spitzensteuersatz von 49% „verlängern“, entstünden gerade einmal Mehreinnahmen von gut 10 Mrd. Euro im Jahr. Eine separate Erhöhung des „Reichensteuersatzes“ würde bei derzeitiger Einkommensgrenze je Prozentpunkt weitere 0,5 Mrd. Euro ergeben.

Ähnliche Vorschläge macht der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) mit seinem Einkommensteuerkonzept. Dabei soll der „Reichensteuersatz“ auf 52% angehoben und bereits bei einem zu versteuernden Einkommen von 125 000 Euro erhoben werden. Die Partei Die Linke ist noch deutlich offensiver: Der erste Spitzensteuersatz soll auf 53% bei einem zu versteuernden Einkommen von 70 000 Euro steigen, ferner ist ein erster „Reichensteuersatz“ von 60% ab 260 532 Euro vorgesehen, sowie ein zweiter „Reichensteuersatz“ von 75% ab 1 Mio. Euro. Das bringt mehr Steuerzahlungen von den obersten Einkommen, erhöht allerdings auch die Gefahren von Ausweichreaktionen.

„Reichensteuern“: Wie kann man es machen, ohne es zu tun?

Im Zuge der sukzessiven „Dualisierung“ der Einkommensteuer wurden in den letzten Jahrzehnten die ausweich- und gestaltungssensitiven Unternehmensgewinne und Kapitaleinkommen aus der progressiven Besteuerung herausgenommen. Insoweit geht wieder mehr beim Spitzensteuersatz. Allerdings bedeutet das auch, dass die Reichen und Superreichen von einer solchen Reform gar nicht betroffen sind und das Einnahmepotenzial entsprechend begrenzt ist. Denn die Superreichen halten ihre Millionenvermögen zumeist in Form von Unternehmen oder Unternehmensbeteiligungen.

Will man die stärker besteuern, muss man sich entweder an die Unternehmensteuern heranwagen oder an die hohen Vermögen. Die Unternehmensteuern wieder anzuheben, erscheint angesichts der aktuellen Trends eines wieder anziehenden Steuersenkungswettlaufs bei den Unternehmensteuern heikel. Das gilt auch für die Wiedererhebung der Vermögensteuer, die im Wesentlichen Unternehmensvermögen betrifft. Allenfalls könnten Elemente der Vermögensbesteuerung in die Einkommensbesteuerung eingebracht werden –, etwa indem man einen Mindestertrag des Vermögens ansetzt, den Nutzungswert („imputed rent“) von hochwertigem selbstgenutzten Wohneigentum oder Luxusgütern berücksichtigt oder die Vermögensteuer für sehr hohe Vermögen als Mindeststeuer erhebt, indem man sie auf die Einkommensteuer anrechnet.8

Die Erbschaftsteuer auf große Vermögen ließe sich deutlich stärken, indem die überbezogenen Steuerprivilegien für Unternehmensübertragungen reduziert werden. Ferner sollten weitere Vergünstigungen für große Vermögen eingeschränkt werden, etwa die Möglichkeiten zur mehrfachen Nutzung der persönlichen Freibeträge nach Ablauf der Zehn-Jahres-Frist oder die Begünstigungen für Spenden und Beiträge an Stiftungen. Bei der letzten Erbschaftsteuerreform im Jahr 2016 wurde diese Chance vertan.

Generell ist der Widerstand aus der Wirtschaft gegen jede Form höherer Spitzensteuersätze, Unternehmensteuern oder Vermögensteuern sehr stark und kaum zu überwinden. Vor allem die einflussreichen Familienunternehmen und Mittelständler verstehen es blendend, sich als „Rückgrat“ und „Jobmotor“ der deutschen Wirtschaft in Szene zu setzen. Bei höheren Steuern drohen sie mit Investitionszurückhaltung, Abwanderung ins Ausland oder Verkauf an Finanzinvestoren. Die hohe Kunst der „Reichenbesteuerung“ besteht hier darin, es zu machen, ohne es zu tun.

Sozialbeitrags-Bonus: Entlastung für Geringverdiener

Vor allem die SPD tut sich erkennbar schwer mit Steuerentlastungen für die arbeitende Mitte. Dem Thema kann sie in Öffentlichkeit und Mediendiskurs kaum ausweichen. Die einschlägigen Einkommensteuer-Tarifreformen entlasten die unteren und mittleren Einkommen aber nur wenig und von den großen Steuerausfällen profitieren vor allem Besserverdiener, wenn man sich nicht traut, die Spitzensteuersätze deutlich anzuheben, wie es etwa der DGB und vor allem die Partei Die Linke vorschlagen.

Die Alternative ist eine Entlastung bei den hohen Sozialbeiträgen. Die setzen jenseits der Midi-Job-Zone ab 850 Euro Bruttolohn im Monat ungebremst ein und belasten damit auch Vollzeit-Arbeitnehmer im Niedriglohnbereich. Entlastungen bei den Sozialbeiträgen selbst sind wegen der Architektur der sozialen Sicherung in Deutschland heikel – Stichwort „Äquivalenz“ zwischen Beiträgen und Leistungen der Sozialversicherung. Oder die Bundeszuschüsse an die Sozialversicherung müssten erhöht werden.

Dagegen besteht eine pragmatische Lösung darin, die Arbeitnehmerbeiträge teilweise auf die Einkommensteuer anzurechnen und auch bei negativer Steuerbelastung zu erstatten. Begrenzt man einen solchen Sozialbeitrags-Bonus auf Niedrigverdiener, wie es in Österreich seit einigen Jahren praktiziert wird,9 halten sich auch die Einnahmenausfälle in Grenzen. Allerdings wird das Steuerrecht dadurch nicht einfacher und transparenter. Ferner stellt sich die Frage, ob auch Niedrigverdiener, die nur teilzeiterwerbstätig sind oder mit höher verdienenden Partnern zusammen leben, entlastet werden sollen.

Entlastungen bei der Mehrwertsteuer?

Die Analysen zur Steuerlastverteilung zeigen ferner, dass Haushalte mit geringen und mittleren Einkommen neben den Sozialbeiträgen vor allem mit indirekten Steuern belastet werden. Mit den Verbrauchsteuern auf Energie, Tabak und Alkohol werden auch Lenkungsziele verfolgt, die durch Entlastungen konterkariert würden. Bei der Mehrwertsteuer könnte man den ermäßigten Steuersatz auf Lebensmittel oder öffentlichen Nahverkehr auf 5% senken. Die Europäischen Regelungen zum harmonisierten Mehrwertsteuersystem erlauben keine weitere Senkung, nur für wenige weitere Güter des lebensnotwendigen Bedarfs könnte der ermäßigte Steuersatz angewendet werden. Zudem müssen die Steuersenkungen von den steuerpflichtigen Unternehmen über niedrige Preise an die Endverbraucher weitergegeben werden. Dies kann in Zeiten guter Verbrauchskonjunktur unter Umständen länger dauern. Eine umfassende Entlastung des Existenzminimums von den indirekten Steuern könnte durch eine Bonuszahlung realisiert werden, also einen neuen Sozialtransfer an jeden Bürger in Höhe der Mehrwertsteuer und der Verbrauchsteuern in Höhe des lebensnotwendigen Verbrauchs. Das ist aber steuertechnisch aufwändig.10

Fazit

Steuerstrukturreformen sind nicht leicht zu erreichen, selbst wenn der Fiskus wie derzeit in der ebenso seltenen wie glücklichen Lage ist, dass die Kassen gut gefüllt sind. Seit jeher gilt für die Staatsfinanzen: „Die Masse füllt die Kasse.“ Nennenswerte Entlastungen breiter Bevölkerungsschichten reißen schnell große Löcher in die öffentlichen Haushalte. Zudem sind die Entlastungsspielräume begrenzt, wenn die „schwarze Null“ dauerhaft gehalten werden soll. Die strukturellen Budgetüberschüsse werden in den nächsten Jahren voraussichtlich gegen Null sinken.11 Steuer- und Abgabenentlastungen konkurrieren zudem mit „Zukunftsinvestitionen“ in Infrastruktur, Digitalisierung, Betreuung, Bildung und Forschung. Die Spielräume für „Reichensteuern“ auf hohe Einkommen und Vermögen sind im Hinblick auf mögliche wirtschaftliche Nachteile und die politischen Durchsetzungsmöglichkeiten eher begrenzt.

Über Einsparmöglichkeiten in den öffentlichen Haushalten redet seit Jahren kaum noch jemand ernsthaft, auch nicht die Bürgerlichen oder Neoliberalen. Mittelfristig lässt sich das ohnehin nur durch Kürzungen bei Sozialtransfers und Subventionen oder bei den öffentlichen Investitionen realisieren. Das hat zumeist unerwünschte Verteilungswirkungen zur Folge, zumindest kurz- bis mittelfristig, und kann längerfristig teilweise auch wirtschaftliche Nachteile auslösen. Zudem wird bei Infrastruktur oder im Bildungsbereich größerer Nachholbedarf ausgemacht. Wissensgesellschaft und Industrie 4.0, demografischer und sozialräumlicher Wandel, Zuwanderung sowie Energiewende und Klimaschutz bedeuten längerfristig neue Herausforderungen für Staat und öffentliche Finanzen. Daher werden die Steuer- und Abgabenbelastungen der Mittelschichten nicht wesentlich sinken – ganz gleich, wer demnächst regiert.

 

Zeit für Reformen – nicht nur der Steuern

Die Abgabenbelastung in Deutschland hat in den vergangenen Jahren wieder deutlich zugenommen. Dazu hat insbesondere die Entwicklung der Steuern beigetragen. Die jüngste Steuerschätzung lässt erwarten, dass die Abgabenquote, also die Summe der Steuern und Nettosozialbeiträge in Relation zum Bruttoinlandsprodukt (BIP), im Jahr 2018 40,2% erreichen wird. Die Steuerquote wird entsprechend in Relation zum BIP bis 2021 – unveränderte Steuergesetze vorausgesetzt – auf über 24% steigen.1 Dabei erfasst die Abgabenquote das Ausmaß, in dem der Staat in die Einkommensverwendung des privaten Sektors eingreift, nicht einmal vollständig.

Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass Deutschland bei der individuellen Belastung durch Steuern und Abgaben im internationalen Vergleich weit oben liegt. Dies zeigen aktuelle Vergleichsrechnungen, welche die OECD für ausgewählte Musterhaushalte angestellt hat. So weist etwa für durchschnittlich verdienende Alleinstehende ohne Kinder unter den OECD-Ländern nur Belgien eine höhere Belastung auf.2 Bei Ehepaaren mit zwei Kindern liegt die Belastung ebenfalls deutlich über dem Durchschnitt der OECD- wie auch der EU-Länder. Diese Rechnungen beziehen sich freilich nur auf die Belastung mit der Einkommensteuer und den Sozialabgaben.

In diesem Beitrag wird ein umfassenderes Bild der Abgabenbelastung in Deutschland gezeichnet. Nicht nur ist die Abgabenbelastung im Zeitablauf spürbar gestiegen, sie erweist sich im Hinblick auf ihre Verteilungswirkung über Haushalte mit unterschiedlichem Einkommen sogar als leicht regressiv. Zudem liegt in den meisten Einkommensklassen die Durchschnittsbelastung bereits bei nahezu der Hälfte der Bruttoeinkommen. Es wäre daher recht ignorant, die Belastung am oberen Ende der Einkommensverteilung zu erhöhen. Vernünftig scheint es stattdessen, die Belastung in den unteren und vor allem den mittleren Einkommensklassen zu senken.

Steuer- und Abgabenlast insgesamt

Steuern und Sozialabgaben stellen gemeinsam den gewichtigsten Teil der Maßnahmen dar, mit denen der Staat in die Einkommensverwendung des privaten Sektors eingreift. Üblicherweise wird die Abgabenbelastung einer Volkswirtschaft daher in den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (VGR) aus der Summe der Steuer- und Sozialabgaben ermittelt. Zusammengenommen betrug sie 2016 rund 1250 Mrd. Euro, dies waren 40,0% in Relation zum BIP (vgl. Abbildung 1). Die Einnahmen des Staates insgesamt (45,1% in Relation zum BIP) überstiegen die Summe der Steuern und Sozialabgaben um rund 160 Mrd. Euro.

Abbildung 1
Staatseinnahmen, Abgaben1, Steuern und Sozialbeiträge in Relation zum BIP
Staatseinnahmen, Abgaben1, Steuern und Sozialbeiträge in Relation zum BIP

1 Summe aus Steuern und Nettosozialbeiträgen.

Quelle: eigene Berechnungen nach Angaben des Statistischen Bundesamtes: Fachserie 18: Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen.

Blickt man weiter zurück, so hatte die Belastung durch Steuern und Sozialabgaben 1999 mit 41,4% in Relation zum BIP einen Höchstwert erreicht. Danach war sie bis 2009 zwar auf 38,2% gesunken, sie ist seitdem jedoch stetig gestiegen. Dies liegt vor allem am Anstieg der Steuerquote, die 2016 mit 23,3% einen neuen Rekordwert erreicht hat. Ähnlich hoch war sie zuletzt vor der großen „Steuerreform 2000“ der Regierung Schröder gewesen. Die kräftigen Entlastungen bei der Einkommen- und der Körperschaftsteuer hatten sie aber bis 2004 auf 20,6% sinken lassen.

Das in den VGR ausgewiesene Steueraufkommen umfasst Steuern und steuerähnliche Abgaben, denen keine unmittelbare Gegenleistung an die Abgabepflichtigen gegenübersteht.3 Der Anstieg der Steuerquote seit 2010 wird zum einen von der Einschränkung von Steuervergünstigungen, von Steuererhöhungen und der Einführung neuer Steuern getragen. Zum anderen führten reale Einkommenssteigerungen und die kalte Progression zu erheblichen Mehreinnahmen bei der Lohn- und Einkommensteuer. Bleibt eine Steuerreform aus, dann wird das Steueraufkommen in den kommenden Jahren wohl weiterhin rascher steigen als das nominale BIP.

Die Sozialversicherungsbeiträge sind nach den Steuern die bedeutsamste Einnahmeart des Staates. Die VGR erfasst die Zwangsabgaben der sozialversicherungspflichtig beschäftigten Arbeiter und Angestellten an die Renten-, Arbeitslosen-, Kranken- und Pflegeversicherung, unterstellte Sozialbeiträge des Staates für die Altersversorgung der Beamten sowie Beiträge des Staates für Empfänger sozialer Leistungen.4 Die Sozialbeitragsquote, die 1997 einen Höchstwert von 19,0% erreicht hatte, war bis 2008 auf 16,1% gesunken. Nach einem kräftigen, allerdings konjunkturbedingten Anstieg 2009 war sie in den Folgejahren nur leicht aufwärts gerichtet. Ab etwa 2020 ist ein deutlicher Anstieg der Rentenbeiträge zu erwarten.

Das Wachstum des Volumens der staatlichen Einnahmen ist somit zu einem erheblichen Teil mit dem Anstieg der Steuer- und Abgabenquote verknüpft. Wäre diese Quote auf dem Niveau des Jahres 2005 geblieben, dann hätten die Steuern und Sozialabgaben 2016 um knapp 75 Mrd. Euro unter dem beobachteten Wert gelegen. Zum Vergleich: Der staatliche Budgetüberschuss betrug in diesem Jahr (in der Abgrenzung der VGR) 24 Mrd. Euro.

Eine bereinigte Steuer- und Abgabenquote

Der Staat greift nicht nur über Steuern und Sozialabgaben, sondern auch durch andere Maßnahmen in die Einkommensverwendung des privaten Sektors ein. Weitere Zahlungsverpflichtungen entstehen durch Gebühren und Beiträge für öffentliche Leistungen sowie durch staatliche Regulierungen:5

  • Der Staat erhebt Gebühren oder Beiträge, die über die direkte Gegenleistung hinausgehen und so zur Finanzierung allgemeiner staatlicher Aufgaben dienen.6
  • Der private Sektor wird bisweilen per Gesetz in die Lage versetzt, Abgaben oder Gebühren zu erheben, wie es bei den Umlagen nach dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) der Fall ist.
  • Die Bürger werden durch Vorschriften zu bestimmten Aufgaben und damit zu Zahlungen verpflichtet, wie etwa bei der Feuerstättenschau.

Die tatsächliche Abgabenbelastung der Bürger lässt sich daher nicht allein aus der in den VGR ausgewiesenen Steuer- und Abgabenquote ablesen. Um ein vollständiges Bild zu erhalten, müssen vielmehr die in den VGR nicht erfassten Belastungen über entsprechende Zuschläge berücksichtigt werden. Bei der Berechnung einer bereinigten Steuer- und Abgabenquote sind allerdings Abwägungsentscheidungen zu treffen.7 Insbesondere ist oft unklar, inwieweit staatliche Verkäufe den Charakter einer Steuer haben. So wird etwa die Lkw-Maut in den VGR den Verkäufen des Staates zugeordnet, sie weist aber einen deutlichen Steuercharakter auf.

Das in den VGR gebuchte Steueraufkommen umfasst keine gesetzlich veranlassten Zahlungen innerhalb des Privatsektors. So werden die EEG-Umlagen als Bestandteil des Strompreises interpretiert, obwohl sie wie eine zusätzliche Stromsteuer auf die Stromverbraucher überwälzt werden.8 Auch die vom Dualen System Deutschland erhobenen Lizenzgebühren haben steuerähnlichen Charakter.

Allerdings müssen bei der Berechnung der bereinigten Abgabenquote diejenigen Abgaben zum Abzug gebracht werden, die der Staat an sich selbst zahlt. Dies sind vor allem die vom Staat gezahlte Mehrwertsteuer auf staatliche Vor- und Sachleistungen und Bruttoanlageinvestitionen, die vom Staat gezahlten Energie- und Verbrauchsteuern und die Sozialbeiträge des Staates für Empfänger sozialer Leistungen. Die Berücksichtigung dieser Größen vermindert für sich genommen die Abgabenquote 2015 um 2,2 Prozentpunkte.

Selbst unter Berücksichtigung dieser Abzüge ergibt sich für 2015 eine bereinigte Steuer- und Abgabenquote, die mit 41,3% um nicht weniger als 1,7 Prozentpunkte höher ausfällt als die aus den VGR ermittelte Quote.9 Quantitativ spielt dabei die Zurechnung der Beiträge an die privaten Schutzsysteme (2015: 71,4 Mrd. Euro) die größte Rolle; sie sollten allerdings als Pendant zu den Beiträgen der gesetzlichen Sozialversicherungen berücksichtigt werden. Bedeutend ist zudem die EEG-Umlage (2015: 24,2 Mrd. Euro). Dies entspricht einer zusätzlichen Belastung von 0,8 Prozentpunkten des BIP.10

Modellgestützte Verteilungsanalyse auf Haushaltsebene

Private Haushalte werden in Abhängigkeit von ihrem Einkommen in unterschiedlicher Weise durch direkte und indirekte Steuern, durch Sozialbeiträge und durch steuerähnliche Abgaben belastet. Diese Belastungsunterschiede werden in Abbildung 2 für 20 Einkommensklassen mit einer Spannbreite von jeweils 10 000 Euro abgebildet. Diesen werden Haushalte entsprechend ihres jährlichen Bruttoeinkommens zugeordnet.11

Abbildung 2
Absolute Zahlungen von Steuern und Abgaben
Einkommensklassen nach Haushaltsbruttoeinkommen
Absolute Zahlungen von Steuern und Abgaben

Quellen: eigene Berechnungen mithilfe des RWI-Einkommensteuer-Mikrosimulationsmodells, vgl. P. Bechara, T. Kasten, S. Schaffner: Dokumentation des RWI-Einkommensteuer-Mikrosimulationsmodells (EMSIM), RWI-Materialien, Nr. 86, Essen 2015; und des RWI-Umsatzsteuer-Mikrosimulationsmodells, vgl. L. H. R. Siemers: A General Microsimulation Model for the EU VAT with a specific Application to Germany, in: International Journal of Microsimulation, 7. Jg. (2014), H. 2, S. 40-93.

Zur Analyse werden das RWI-Einkommensteuer-Mikrosimulationsmodell und das RWI-Umsatzsteuer-Mikrosimulationsmodell genutzt. Die Modelle basieren auf den bis 2015 fortgschriebenen Daten der faktisch anonymisierten Lohn- und Einkommensteuerstatistik (2007) bzw. der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (2008). Hieraus werden die Belastungen durch die Einkommensteuer einschließlich Solidaritätszuschlag und durch die Sozialabgaben sowie durch die Umsatzsteuer, die Energiesteuer und weitere indirekte Steuern abgeleitet. Zudem werden die Belastungen aus staatlichen Zahlungsverpflichtungen berücksichtigt, insbesondere die EEG-Umlage.12

Betrachtet man die privaten Haushalte insgesamt, so steigen die Steuerzahlungen mit dem Bruttoeinkommen deutlich (vgl. Abbildung 2). Bei einem durchschnittlichen Einkommen von knapp 36 000 Euro betragen die im Durchschnitt zu entrichtenden Steuern und Abgaben rund 16 700 Euro, und sie steigen bis zur Einkommensklasse von 190 000 Euro bis 200 000 Euro auf knapp 85 000 Euro. Lediglich in der untersten Einkommensklasse dominieren die indirekten Steuern. Die Sozialversicherungsbeiträge machen bis zum durchschnittlichen Einkommen den größten Teil der Abgaben aus. Ihre relative Bedeutung nimmt jedoch aufgrund der Beitragsbemessungsgrenzen mit steigendem Einkommen ab. Das Gewicht der Einkommensteuer steigt hingegen aufgrund des progressiven Tarifs mit zunehmendem Einkommen deutlich.

Hinsichtlich der relativen Belastungen des Bruttoeinkommens liegt ab der Einkommensklasse von 40 000 Euro bis 50 000 Euro die Belastung durch Steuern und Abgaben nahezu konstant bei knapp 45% (vgl. Abbildung 3). Lediglich in den drei untersten Einkommensklassen fällt die Belastung deutlich schwächer aus. Dass das Steuer- und Abgabensystem insgesamt nicht progressiv wirkt, reflektiert vor allem zwei Aspekte: Mit steigendem Einkommen nimmt zum einen die Sparquote zu, so dass anteilig weniger indirekte Steuern anfallen. Zum anderen werden die Beiträge zu den Sozialversicherungen durch Bemessungsgrenzen gedeckelt.

Abbildung 3
Relative Belastung des Bruttoeinkommens durch einzelne Steuern und Abgaben
Einkommensklassen nach Haushaltsbruttoeinkommen
Relative Belastung des Bruttoeinkommens durch einzelne Steuern und Abgaben

Quellen: eigene Berechnungen mithilfe des RWI-Einkommensteuer-Mikrosimulationsmodells, vgl. P. Bechara, T. Kasten, S. Schaffner: Dokumentation des RWI-Einkommensteuer-Mikrosimulationsmodells (EMSIM), RWI-Materialien, Nr. 86, Essen 2015; und des RWI-Umsatzsteuer-Mikrosimulationsmodells, vgl. L. H. R. Siemers: A General Microsimulation Model for the EU VAT with a specific Application to Germany, in: International Journal of Microsimulation, 7. Jg. (2014), H. 2, S. 40-93.

Allerdings ist die hinter diesen Berechnungen stehende Grundgesamtheit aller Haushalte recht heterogen. Daher lohnt der Blick auf die homogenere Gruppe der Arbeitnehmerhaushalte, die ihre steuerpflichtigen Einkünfte hauptsächlich aus nicht-selbstständiger Arbeit beziehen und voll der Sozialversicherungspflicht unterliegen. Auch bei ihnen liegt oberhalb des durchschnittlichen (steuerlich relevanten) Bruttoeinkommens (von etwa 35 700 Euro) die Belastung konstant deutlich über 45% (vgl. Abbildung 3). Am höchsten ist sie bei Haushalten, deren Einkommen zwischen 40 000 Euro und 80 000 Euro liegt; hier beträgt die Belastungsquote rund 48%. Bei den darüber liegenden Einkommen geht die Belastung leicht zurück, weil die Zahlungen von Sozialabgaben, indirekten Steuern und anderen Abgaben unterproportional zum Einkommen steigen. Auch Einkommen zwischen 20 000 Euro und 30 000 Euro werden mit mehr als 45% belastet. Lediglich bei den niedrigsten Einkommen fällt die Belastung teils spürbar schwächer aus.13

Sinnvolle Senkung der Abgabenbelastung

Die regressive Abgabenbelastung ließe sich zwar durch eine Erhöhung der Belastung am oberen Ende der Einkommensverteilung korrigieren, etwa durch eine komplette Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenzen. Doch dies dürfte angesichts des bereits erreichten Belastungsniveaus keine sinnvolle Option darstellen, und würde zudem Ansprüche der Bezieher hoher Einkommen an die Rentenversicherung begründen, und so zu höheren Staatsausgaben führen. Vielmehr scheint es vernünftig, nach Wegen zu suchen, die Belastung in den unteren und vor allem den mittleren Einkommensklassen zu senken. Dabei sollten langfristig wirksame Strukturreformen den Vorzug vor kurzfristig wirkenden Erleichterungen erhalten.

Eine Option ist die nachhaltige Abschaffung der kalten Progression bei der Einkommensteuer. Angesichts der robusten konjunkturellen Entwicklungen und niedriger Inflationserwartungen könnte ein inflationsausgleichender Tarif auf Rädern aktuell vergleichsweise einfach umgesetzt werden. Ebenso erscheint der Solidaritätszuschlag nicht mehr zeitgemäß, sodass diese Abgabe auslaufen könnte. Eine weitere überlegenswerte Option ist die Beseitigung des „Mittelstandsbauches“, der die Progressionszone zwischen Grundfreibetrag und Spitzensteuersatz in zwei Abschnitte teilt, wenngleich damit erhebliche Mindereinnahmen verbunden wären.

Gerade die unteren und mittleren Einkommen (bis etwa 40 000 Euro) würden allerdings durch Reformen der einkommensabhängigen Steuern nur bedingt entlastet. Die größte Einzelbelastung in diesem Einkommensbereich stellen die Abgaben für die Sozialversicherungen dar. Kurzfristig umsetzbar wären hier zwei Änderungen: Erstens könnten die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung um etwa 0,3 Prozentpunkte gesenkt werden. Zweitens sollten versicherungsfremde Leistungen wie etwa die Mütterrente nicht aus dem Beitragsaufkommen der Rentenversicherung gezahlt, sondern vom Steuerzahler getragen werden.

Auf mittlere Sicht sind Maßnahmen nötig, die künftige Beitragserhöhungen begrenzen. In den kommenden Jahren werden Beiträge zur Kranken- und insbesondere zur Rentenversicherung aus demografischen Gründen beträchtlich steigen.14 Die Bundesregierung selbst geht von einem Anstieg der Rentenbeiträge von aktuell 18,7% auf 22,7% im Jahr 2030 aus.15 Diese Beitragserhöhungen werden vor allem die Gesamtbelastung der Bezieher mittlerer Einkommen erhöhen. Diese Einkommensgruppen könnten langfristig nur durch eine nachhaltige Ausgestaltung der Sozialversicherungen – insbesondere der Rentenpolitik – vor spürbaren Mehrbelastungen bewahrt werden.

  • 1 Vgl. Bundesministerium der Finanzen: Ergebnis der 151. Sitzung des Arbeitskreises „Steuerschätzungen“ vom 9.-11.5.2017 in Bad Muskau. Die Steuerschätzung weist die Steuerquote in finanzstatistischer Abgrenzung aus. Danach lag sie 2016 um etwa 0,8 Prozentpunkte unter der Steuerquote in der Abgrenzung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (VGR). Zum Unterschied zwischen beiden Quoten vgl. RWI: Steuer- und Abgabenlast in Deutschland – Eine Untersuchung auf Makro- und Mikroebene, RWI Projektbericht, Essen 2017.
  • 2 OECD: Taxing Wages 2015-2016, Paris 2017.
  • 3 Im Gegensatz zur Finanzstatistik werden in den VGR Bruttobuchungen vorgenommen. Zulagen wie beispielsweise die Eigenheimzulage werden nicht mit dem Steueraufkommen verrechnet, sondern als staatliche Vermögenstransfers gebucht, während z.B. die Erbschaftsteuer nicht als Steueraufkommen, sondern als empfangener Vermögenstransfer des Staates erfasst wird.
  • 4 In den VGR werden die Beiträge für die private Kranken- und die private Pflegeversicherung jedoch nicht im Staatskonto gebucht.
  • 5 Weitere Belastungen können dann entstehen, wenn der Staat in Form von Gebührenordnungen in die Preisbildung eingreift. Da jedoch typischerweise Referenzpreise fehlen, bleibt dieser Aspekt im Folgenden völlig ausgeblendet.
  • 6 In den VGR werden – anders als in der Finanzstatistik – staatliche Gebühren in manchen Fällen als Steuern gebucht, z.B. wenn die Gebühr über dem Verwaltungsaufwand liegt.
  • 7 Diese Abwägungen sind ausführlich dokumentiert, vgl. RWI, a.a.O.
  • 8 Würden die VGR die Erneuerbare-Energien-Umlage in den Abgaben erfassen, würden ihr aufgrund der ansonsten üblichen Bruttobuchung entsprechende Subventionen an die Stromerzeuger aus erneuerbaren Energien entgegenstehen.
  • 9 Vergleichsrechnungen zeigen für das Jahr 2010 weitgehend das gleiche Bild, vgl. RWI, a.a.O.
  • 10 Hier bleibt zudem aufgrund der erheblichen Berechnungsprobleme unberücksichtigt, dass Verkäufe des Staates häufig neben den Kosten der staatlichen Leistung einen Beitrag zur Finanzierung öffentlicher Haushalte enthalten und somit einen steuerähnlichen Charakter aufweisen.
  • 11 Betrachtet werden Haushalte mit einem Bruttoeinkommen bis zu 200 000 Euro. Jenseits dieser Grenze lassen sich keine repräsentativen Aussagen ermitteln.
  • 12 Die beiden Datensätze werden über die Einkommensklassen, nicht auf der Ebene individueller Haushalte verknüpft, da sie unterschiedlichen Einkommenskonzepten folgen, vgl. RWI, a.a.O.
  • 13 Analysen der Steuer- und Abgabenbelastungen unterteilt nach verschiedenen Haushaltstypen zeigen in Abhängigkeit vom Einkommen sehr ähnliche Belastungsprofile, vgl. RWI, a.a.o.
  • 14 Sachverständigenrat zur Begutachtung der Gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Herausforderungen des demografischen Wandels, Expertise im Auftrag der Bundesregierung, 2011; ders.: Zeit für Reformen, Jahresgutachten 2016/17, Nr. 2016/17; Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose: Aufschwung festigt sich trotz weltwirtschaftlicher Risiken, Gemeinschaftsdiagnose Frühjahr 2017, Halle 2017.
  • 15 Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Rentenversicherungsbericht 2016, Berlin 2016.

* Wir sind Heinz Gebhardt und Philipp Jäger dankbar für ihre konstruktiven Kommentare und Anregungen.

Ökosoziale Abgabenstrukturreform

Die gut 54 Mrd. Euro an Mehreinnahmen, die die jüngste Steuerschätzung vom Mai 2017 gegenüber jener vom vorangegangenen November bis 2021 prognostiziert, rufen bei den wahlkämpfenden Parteien unterschiedliche Reaktionen hervor. Auf der einen Seite leiten weder SPD noch Grüne oder Die Linke aus dem reichlicheren Sprudeln der Steuerquellen unmittelbar die Notwendigkeit einer Reduktion der Gesamtsteuerlast ab. Sie tendieren eher – mit je unterschiedlichen Schwerpunkten – zu einer Umverteilung der Abgabenbelastung, während die zusätzlich erwarteten Einnahmen auch für Investitionen bzw. die Ausweitung von Sozialleistungen verwendet werden sollen. Auf der anderen Seite sieht die CDU wachsenden Spielraum für Steuerentlastungen. Für CSU und FDP sind umfangreiche Steuersenkungen sogar das Gebot der Stunde: mit der Zielsetzung einer deutlichen Nettoentlastung, die sich auch in einer Rückführung der Steuerquote niederschlägt.

Unabhängig von der Frage der Verwendung der zusätzlichen Steuereinnahmen weisen alle bisher verlautbarten steuerpolitischen Vorstellungen der Parteien im Falle einer Regierungsbeteiligung eine Gemeinsamkeit auf: Sie zielen lediglich auf punktuelle Reformen im Rahmen des bestehenden Steuer- und Abgabensystems ab. So wollen CDU/CSU den Solidaritätszuschlag senken, die Spitzeneinkommensgrenze erhöhen und den „Mittelstandsbauch“ sowie die kalte Progression beseitigen: ebenso die FDP, die allerdings ein deutlich höheres Entlastungsvolumen anstrebt. Zentrales Anliegen der SPD ist es dagegen, kleine und mittlere Einkommen geringer, hohe Einkommen und Vermögen dafür stärker zu belasten: ähnlich Die Linke, die sich allerdings schon auf Vermögen- und Erbschaftsteuer sowie Kapitalertragsbesteuerung als konkrete Ansatzpunkte geeinigt hat, die in der SPD noch umstritten sind. Auch die Grünen wollen Vermögen und hohe Einkommen stärker besteuern. Sie wollen zudem die Entlastungswirkung des Ehegattensplittings deutlich einschränken und mit den erzielten Mehreinnahmen Familien im unteren und mittleren Einkommensbereich entlasten.

In der Tat gibt es Korrekturbedarf an einigen Stellen des deutschen Steuer- und Abgabensystems, der auch von der Fachwelt angemahnt wird. So sieht der Sachverständigenrat für Wirtschaft1 in seinem letzten Jahresgutachten mehrere Ansatzpunkte für effizienzfördernde steuerliche Maßnahmen: etwa eine reformierte Erbschaftsteuer mit breiteren Bemessungsgrundlagen und geringeren Steuersätzen, die Modernisierung der Grundsteuer oder die Beseitigung der kalten Progression. Dorn et al. analysieren verschiedene Optionen zum Abbau des „Mittelstandsbauchs“ als eines der wichtigsten Themen in der aktuellen steuerpolitischen Debatte.2 Für eine stärker umverteilende Wirkung der Einkommensteuer plädierte jüngst Bert Rürup,3 während Marcel Fratzscher vorschlägt, die unteren Einkommen durch eine Mehrwertsteuersenkung zu entlasten4 – vor dem Hintergrund, dass das deutsche Gesamtabgabensystem insgesamt kaum umverteilt.5 Auf die positiven Arbeitsanreizeffekte einer Ersetzung des Ehegattensplittings durch ein Individualsteuersystem weisen Hermann Buslei und Katharina Wrohlich hin.6

Insgesamt aber teilen die meisten Beiträge aus der Fachwelt mit den steuerpolitischen Vorschlägen der Parteien die Fokussierung auf Einzelvorschläge, die sich auf einen Anpassungsbedarf bei einzelnen Steuern beschränken, aber nicht die Gesamtstruktur des Abgabensystems in den Blick nehmen. Es fehlt die Perspektive eines fundamentalen Umbaus des Steuer- und Abgabensystems, der einen substanziellen Beitrag zur Bewältigung der langfristigen Herausforderungen leisten kann, denen die Wirtschaftspolitik im Allgemeinen und die Steuerpolitik im Besonderen allenthalben gegenüberstehen. Diese großen Herausforderungen umfassen insbesondere den Klimawandel und die Bewältigung der Energiewende; den demografischen Wandel sowie die Digitalisierung und ihre Implikationen für die langfristige Finanzierbarkeit der sozialen Sicherung; die wachsende Ungleichheit von Einkommen und Vermögen; und die anhaltenden Defizite bei der Gleichstellung von Frauen und Männern im Erwerbsleben.

Aus Abbildung 1 ist zu ersehen, dass die deutsche Abgabenquote im Jahr 2016 mit 39,3% des BIP nahezu identisch mit dem Wert des Jahres 1995 (39,2% des BIP) war. Sie liegt damit seit 2004 unter dem EU15- bzw. dem EU28-Durchschnitt. Es zeigt sich auch, dass ein gewisser Abtausch zwischen Steuern und Sozialbeiträgen stattgefunden hat: Die Steuerquote ist seit 1995 von 22,3% auf 23,8% des BIP gestiegen, während die Sozialbeitragsquote von 16,8% auf 15,6% gefallen ist.

Abbildung 1
Abgaben-, Steuer- und Sozialbeitragsquote, Deutschland und EU
Abgaben-, Steuer- und Sozialbeitragsquote, Deutschland und EU

Quelle: Europäische Kommission: AMECO-Datenbank, Frühjahrsprognose, 2017; gewichtete Durchschnitte.

Fundamentale Ungleichgewichte

Die Europäische Kommission hält in ihrer jüngsten Bewertung der Steuerpolitiken in den EU-Mitgliedstaaten, die sie regelmäßig im Rahmen des Europäischen Semesters durchführt, zum wiederholten Male ausdrücklich fest, dass es keine optimale Höhe der Steuer- und Abgabenquote gebe: zumal keine starke empirische Evidenz für einen Einfluss der Höhe der Abgabenquote auf das Wirtschaftswachstum vorliege.7 Als vordringlich gegenüber einer Senkung der (in Deutschland ohnehin unter dem EU-Durchschnitt liegenden) Abgabenquote stellt sich somit eine grundlegende Reform der Gesamtarchitektur des Abgabensystems dar. Über die in der aktuellen steuerpolitischen Debatte in Deutschland genannten punktuellen Reformbereiche und -maßnahmen hinaus sind im deutschen Abgabensystem nämlich einige fundamentale Ungleichgewichte zu konstatieren:

  • Erstens ist der Beitrag der Abgaben auf die Arbeit (Lohnsteuer und Sozialbeiträge) zum Gesamtabgabenaufkommen im Jahr 2014 gegenüber 2002 zwar zurückgegangen. Er liegt aber mit 56,7% immer noch deutlich über dem Durchschnitt der EU15 (49,9%) bzw. der EU28 (47%) (vgl. Abbildung 2). Entsprechend überdurchschnittlich hoch ist die effektive Gesamtabgabenbelastung der Bruttolohn- und Gehaltssumme, die nach Berechnungen der Europäischen Kommission in Deutschland im Jahr 2014 37,5% erreichte: gegenüber 36,5% in der EU15 und 34,5% in der EU28.8
Abbildung 2
Einzelne Abgabenkategorien und Gesamtabgaben­aufkommen in Deutschland und der EU
Einzelne Abgabenkategorien und Gesamtabgaben­aufkommen in Deutschland und der EU

Quelle: Europäische Kommission: Taxation Trends, 2016; eigene Berechnungen; arithmetische Mittel.

Für Bezieher eines Durchschnittseinkommens (alleinstehende Person ohne Kinder) ergibt sich nach Berechnungen der OECD ein Durchschnittsabgabensatz von 39,7% des Bruttoverdienstes (vgl. Tabelle 1): deutlich über dem Durchschnitt der EU15 (29,5%) bzw. der OECD (25,5%). Schon wenn der Bruttoverdienst zwei Drittel des Durchschnittsverdienstes erreicht, wird über ein Drittel des Bruttoverdienstes in Form von Lohnsteuer und Sozialversicherungsbeiträgen abgezogen – wiederum deutlich mehr als im EU- oder OECD-Durchschnitt. Ebenso merklich über den internationalen Durchschnitten ist die Grenzbelastung, die in Deutschland bereits bei einem Einkommen von zwei Dritteln des Durchschnittseinkommens 47% beträgt, um für ein Durchschnittseinkommen auf 52,4% anzusteigen. Gerade in den unteren und mittleren Einkommensbereichen, wo die Entscheidung über die Arbeitsmarktpartizipation (Durchschnittsabgabensatz) bzw. die Zahl der gearbeiteten Stunden (Grenzabgabensatz) besonders sensibel auf die Höhe des (auch durch die Besteuerung beeinflussten) Nettolohnes reagiert, ist also in Deutschland die Abgabenbelastung relativ hoch – und kann damit als beschäftigungshemmend betrachtet werden. Dies ist besonders problematisch für das Arbeitsangebot von Frauen, das – zumindest wenn es sich um Mütter handelt – besonders elastisch ist, problematisch. Tabelle 1 zeigt auch, dass sowohl Grenz- als auch Durchschnittsabgabensatz in allen betrachteten Einkommensbereichen zwischen 2000 und 2016 gesunken sind. Besonders stark ist die Reduktion allerdings in den vergleichsweise unelastischen oberen Einkommensbereichen ausgefallen.

Tabelle 1
Persönliche Grenz- und Durchschnittsabgabensätze nach der Einkommenshöhe
Alleinstehende ohne Kinder in %
Bruttoverdienst1 in % des Durchschnitts
  67 100 133 167 67 100 133 167
  2016 Veränderung 2000/2016
  Persönlicher Abgabensatz2 in % des Bruttoverdienstes Prozentpunkte
Grenzabgabensatz
Deutschland 47,0 52,4 52,5 44,3 -6,0 -6,9 -5,4 -7,2
EU15 39,4 43,0 48,0 48,4 1,4 -2,1 0,5 0,6
OECD 32,1 35,6 39,0 39,9 0,4 -2,1 -0,9 -0,9
Durchschnittsabgabensatz
Deutschland 34,7 39,7 42,4 43,9 -2,1 -3,5 -4,6 -4,9
EU15 23,8 29,5 33,7 36,8 -1,9 -1,0 -0,7 -0,3
OECD 21,2 25,5 28,6 30,8 -1,0 -0,5 -0,8 -0,8

1 Durchschnittliche Vollzeit-Bruttolöhne bzw. -gehälter von Arbeitnehmern in der Privatwirtschaft. 2 Arbeitnehmerabgaben (Lohnsteuer und Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung).

Quelle: OECD, 2017 (Taxing Wages).

Aus Gleichstellungssicht ist auch auf den ausgeprägten Zuverdiener-Bias hinzuweisen, den das Ehegattensplitting verursacht. Berechnungen der Europäischen Kommission9 zeigen, dass die Abgabenbelastung von zusätzlichem Einkommen, das von einem vorher nicht erwerbstätigen Partner erwirtschaftet wird, in Deutschland besonders hoch ist, woraus steuerlich bedingte negative Erwerbsanreize für Zuverdienende – in der Regel Frauen – resultieren.

  • Eine zweite Dimension des Ungleichgewichts im deutschen Abgabensystem besteht in der sinkenden Bedeutung von Umweltsteuern. Abbildung 2 ist zu entnehmen, dass der Anteil der Umweltsteuern am Gesamtabgabenaufkommen zwischen 2002 und 2014 von 6,6% auf 5,2% gesunken ist. Dieser Anteil ist zwar auch im EU-Durchschnitt rückläufig, allerdings ausgehend von einem höheren Niveau als in Deutschland. Entsprechend hat in Deutschland der effektive makroökonomische Steuersatz auf Energie gegen den EU-Trend seit 2002 abgenommen. Er liegt 2014 mit 220 Euro pro Tonne Erdöläquivalent deutlich unter dem EU15-Durchschnitt (242 Euro).
  • Drittens hat sich zwar der Anteil der vermögensbezogenen Steuern am Gesamtabgabenaufkommen zwischen 2002 und 2014 in Deutschland leicht erhöht. Mit 2,5% unterschreitet er jedoch deutlich den – ebenfalls gestiegenen – EU15-Durchschnitt (5,8%) bzw. EU28-Durchschnitt (4,3%).

Die Beseitigung dieser Ungleichgewichte würde die Nachhaltigkeitsorientierung des deutschen Abgabensystems deutlich stärken. Sie braucht allerdings einen gesamthaften Ansatz, der sich nicht auf Einzelmaßnahmen beschränkt, sondern im Sinne einer umfassenden „ökosozialen“ Abgabenstrukturreform umfangreiche Umschichtungen zwischen einzelnen Steuerbasen vornimmt.10 Zumindest ansatzweise lag eine solche umfassendere Perspektive den unter der rot-grünen Bundesregierung umgesetzten Steuerreformen zugrunde: Sie setzte mit der ab 1999 in mehreren Etappen umgesetzten ökologischen Steuerreform, die die zusätzlichen Einnahmen aus der schrittweisen Erhöhung von Ökosteuern zur Senkung des Rentenversicherungsbeitrages verwendete, erste Schritte in Richtung eines fundamentalen Umbaus. Allerdings folgten diesen ersten keine weiteren Schritte mehr. Seit der Unternehmensteuerreform 2008 und der Einführung der Abgeltungsteuer 2009 gab es keine größeren Reformen mehr im deutschen Steuersystem.

Eckpunkte eines nachhaltigkeitsorientierten Abgabensystems für Deutschland

Die erste Säule eines fundamentalen Umbaus wäre eine deutliche Reduktion der Abgaben auf die Arbeit, vor allem für die unteren Einkommen, deren Arbeitsangebot besonders auf die (Veränderung der) Abgabenbelastung reagiert. Dies betrifft zunächst das Einkommensteuersystem; in Form einer gewissen „Verschlankung“ des „Mittelstandsbauches“, eventuell auch einer Anhebung des Grundfreibetrages. Um allerdings die unteren Einkommen zu entlasten und damit nicht nur die Progressivität, sondern auch die Beschäftigungsverträglichkeit des Abgabensystems zu erhöhen, ist eine Reduktion der Sozialbeiträge die einzige Möglichkeit, da in diesen Einkommensbereichen keine oder nur wenig Lohnsteuer anfällt. Solchermaßen würde auch der Zuverdiener-Bias etwas entschärft; eine Einschränkung des Ehegattensplittings – etwa in Richtung eines Realsplittings – würde die Zuverdiener-Problematik noch weiter abmildern.

Die mit der vorgeschlagenen Senkung der Abgaben auf die Arbeit verbundenen beträchtlichen Einnahmenausfälle wären einerseits durch die stärkere Ausschöpfung von Umweltsteuern zu kompensieren, als zweite Säule einer nachhaltigkeitsorientierten Abgabenstrukturreform. Dazu gehört zunächst die schrittweise Anhebung und konsequente Orientierung der Energiesteuern auf CO2-Emissionsintensität und Energiegehalt. Auch die Einführung einer CO2-Steuer wäre zu erwägen. Schließlich sollten sämtliche umweltkontraproduktiven steuerlichen Begünstigungen auf den Prüfstand, mit der Zielsetzung einer radikalen Einschränkung: etwa das Dieselsteuerprivileg oder das Dienst- und Firmenwagenprivileg.

Die dritte Säule einer zukunftsorientierten Architektur des Abgabensystems wäre die Stärkung von Steuern auf Vermögen und Vermögenserträge. So könnte eine Reform der Erbschaftsteuer, die Ausnahmen weitestgehend abschafft, auch mit moderaten Steuersätzen und hohen persönlichen Freibeträgen ein langfristig stabiles und steigendes Aufkommen erbringen.11 Eine Modernisierung der Grundsteuer in Form der Annäherung der veralteten Einheitswerte an die tatsächlichen Verkehrswerte könnte ebenfalls in Mehreinnahmen resultieren. Sowohl Erbschaftsteuer als auch Grundsteuer gehören nach der von einigen jüngeren empirischen Analysen nahegelegten „Steuer-Wachstums-Hierarchie“12 zu den wachstumsverträglichsten Abgabenarten und könnten gleichzeitig die Progressivität des Steuersystems stärken. Schließlich ist auch die Erhöhung der Kapitaleinkommensteuersätze von ihrem derzeitigen Niveau von 25% diskussionswürdig, auch als gewisser Ersatz für eine Vermögensteuer.13

Insgesamt geht es also um den (Wieder-)Einstieg in eine stärkere Steuerfinanzierung der sozialen Sicherung. Natürlich kann ein solcher fundamentaler Umbau, der beträchtliche Volumina bewegt, nur im Rahmen eines längerfristig angelegten Stufenplanes erfolgen. Er erscheint aber unerlässlich, um das Abgabensystem zukunftsfest zu machen. Und so radikal er erscheint: Der skizzierte Umbau würde lediglich auf die seit längerem bestehenden langfristigen Herausforderungen reagieren. Gleichzeitig ist es dringend an der Zeit, eine Diskussion über die Implikationen von sich abzeichnenden künftigen Entwicklungen, etwa der Digitalisierung, für die Finanzierung der sozialen Sicherung zu beginnen.

  • 1 Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Zeit für Reformen, Jahresgutachten 2016/17, Wiesbaden 2016.
  • 2 Vgl. F. Dorn, C. Fuest, F. Häring, B. Kauder, L. Lorenz, M. Mosler: Die Beseitigung des Mittelstandsbauchs – Reformoptionen zur Einkommensteuer und ihre fiskalischen Kosten, in: ifo Schnelldienst, 70. Jg. (2017), Nr. 9, S. 31-38.
  • 3 Vgl. B. Rürup: Schwarz-rot-grün-gelbe Steuerreformen, in: Handelsblatt vom 13.3.2017.
  • 4 Vgl. M. Fratzscher: Senkt die Mehrwertsteuer!, ZEIT Online vom 26.5.2017.
  • 5 Vgl. dazu S. Bach, M. Beznoska, V. Steiner: Wer trägt die Steuerlast in Deutschland? Steuerbelastung nur schwach progressiv, in: DIW Wochenbericht, 83. Jg. (2016), Nr. 51/52, S. 1207-1216.
  • 6 Vgl. H. Buslei, K. Wrohlich: Besteuerung von Paaren: Das Ehegattensplitting und seine Alternativen, DIW Roundup, Nr. 21, Berlin 2014.
  • 7 Vgl. European Commission: Tax Policies in the European Union – 2016 Survey, Brüssel 2016.
  • 8 Gemeint ist der makroökonomische implizite effektive Steuersatz; vgl. European Commission: Taxation Trends in the European Union 2016, Brüssel 2016.
  • 9 Vgl. European Commission: Tax Policies in the European Union, a.a.O.
  • 10 Für solch einen gesamthaften Ansatz vgl. auch H. Eichel: Ökologische Finanzreform, in: Handelsblatt vom 28.4.-1.5.2017; vgl. aus österreichischer Perspektive A. Köppl, M. Schratzenstaller: Das österreichische Abgabensystem: Reformperspektiven, in: WIFO-Monatsberichte, 88. Jg. (2015), Nr. 2, S. 127-135.
  • 11 Vgl. S. Bach, A. Thiemann: Hohe Erbschaftswelle, niedriges Erbschaftsteueraufkommen, in: DIW Wochenbericht, 83. Jg. (2016), Nr. 3, S. 63-71.
  • 12 Vgl. S. Acosta-Ormaechea, J. Yoo: Tax Composition and Growth: A Broad Cross-Country Perspective, IMF Working Paper, Nr. WP/12/257, 2012; J. M. Arnold, B. Brys, C. Heady, A. Johansson, C. Schwellnus, L. Vartia: Tax Policy for Economic Recovery and Growth, in: The Economic Journal, 121. Jg. (2011), H. 550, S. 59-80.
  • 13 Vgl. M. Schratzenstaller: Gute Gründe für eine substanzielle Kapitalbesteuerung, in: Wirtschaftsdienst, 96. Jg. (2016), H. 2, S. 91-94.

Title:How Should the German Tax Regime Be Reformed?

Abstract:Some authors focus on the fact that Germany shows one of the highest tax burdens among the OECD countries. Based on their analysis, they suggest approaches to reduce the tax burden in particular for lower and medium incomes. These tax reliefs are possible, and would not compromise new public investment. But decreases in personal income tax rates mainly relieve higher income earners and are accompanied by high tax losses if the top tax rates are not increased. Alternatives are relief for social contributions or VAT. Other researchers do not look at the tax burden this way: as the income tax burden in Germany is not high from a historical perspective or by international standards, there is no case for massive tax cuts, as this would jeopardise the government’s ability to act and fail to correct past shifts of the tax burden at the expense of households with low incomes. Any tax cuts should be targeted at the bottom half of the income distribution without creating any revenue shortfalls. Instead, the government would be well advised to increase its efforts to overcome the public investment backlog and ensure a well­functioning civil service. Furthermore, sustainability­oriented tax reforms should focus on a shift of the tax burden from taxes on labour towards environmental and wealth­based taxes.


DOI: 10.1007/s10273-017-2150-1

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