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Dividendenstripping bezeichnet Aktientransaktionen rund um den Dividendenstichtag, bei denen Aktien mit Dividendenanspruch veräußert (cum Dividende) und mit (cum) oder ohne (ex) Dividendenanspruch geliefert werden. Solche Transaktionen werden in Deutschland seit den späten 1970er Jahren getätigt. Cum/Ex-Geschäfte in der Kombination mit Leerverkauf haben bis einschließlich 2011 dazu geführt, dass einmal einbehaltene Kapitalertragsteuer mehrfach bescheinigt und erstattet worden ist. Möglich war dies infolge eines Systembruchs bei der Einbehaltung und der Bescheinigung der Kapitalertragsteuer: Einbehalten und ans Finanzamt abgeführt wurde die Steuer durch die ausschüttende Aktiengesellschaft, die Bescheinigungen stellten sodann die depotführenden Banken aus – eine für den Aktieninhaber und eine zweite (oder sogar mehrere) für den Leerkäufer. Der dadurch entstandene Steuerschaden beläuft sich auf mindestens 10 Mrd. Euro, und das ist eine sehr vorsichtige Schätzung. Seit 2012 funktioniert das nicht mehr, denn die Kapitalertragsteuer wird seitdem von dem depotführenden Kreditinstitut einbehalten, und nur dieses stellt auch die Steuerbescheinigung aus. Es kommt also nicht mehr zum Ausstellen von Steuerbescheinigungen, falls zuvor keine Kapitalertragsteuer einbehalten wurde.

Wie es geschehen konnte, dass Cum/Ex-Geschäfte mit Leerverkauf mehrere Jahrzehnte nicht unterbunden wurden, sollte ein 2016 vom Deutschen Bundestag eingesetzter Untersuchungsausschuss klären. Der am 23. Juni 2017 vorgelegte Abschlussbericht ist aus mehreren Gründen erschütternd. Erstens dokumentieren die Ergebnisse der Ausschussarbeit eindrucksvoll, dass das Nichtaufgreifen dieser Cum/Ex-Geschäfte auf eine überaus bedenkliche Mischung aus einem Desinteresse der politischen Führungsebene, einer nicht vorhandenen Governance im Bundesfinanzministerium (BMF), unsäglichen Verquickungen des BMF mit dem Bundesverband deutscher Banken, fachlichen Fehleinschätzungen des BMF sowie einer mangelhaften Abstimmung zwischen dem BMF und einzelnen Unterbehörden wie etwa mit der Finanzmarktaufsicht und der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin) herrührte.

Das mehrfache Ausstellen von Steuerbescheinigungen bei Cum/Ex-Geschäften mit Leerverkauf war illegal, eine Gesetzeslücke bestand insoweit zu keinem Zeitpunkt. Diese Rechtsauffassung bestätigen mittlerweile auch einschlägige Urteile der Finanzgerichte. Trotz deutlicher Hinweise über Steuerausfälle im Milliardenbereich bereits in den 1990er Jahren blieb die politische Führungsebene im BMF untätig. Zudem vermisst man im BMF eine Governance, wie sie in der Privatwirtschaft seit langem Gang und Gäbe ist. Wie anders konnte es sonst geschehen, dass bei der Initiative zu Gesetzesänderungen, dem Abfassen von Gesetzestexten und deren Auslegung der Bundesverband deutscher Banken und von ihm bezahlte Personen, die im BMF beschäftigt waren, eine maßgebliche Rolle spielten? Hinzu kommt, dass noch 2009 die Steuerabteilung im BMF eine fachliche Fehleinschätzung zu Cum/Ex-Geschäften mit Leerverkauf veröffentlichte, was diese Transaktionen zusätzlich beflügelt hat. Schließlich wäre die Bafin in der Lage gewesen, diese Geschäfte aufzudecken, da sie Kenntnisse über jede einzelne Börsentransaktion hat, sie wurde allerdings mangels Auftrag nicht tätig, weshalb der entstandene Steuerschaden auch von offizieller Seite nicht beziffert werden kann.

Damit nicht genug. Erschütternd ist am Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses außerdem, dass die Ausschussmehrheit aus CDU, CSU und SPD abschließend zu dem Ergebnis kommt, dass dieser Untersuchungsausschuss nicht erforderlich gewesen sei, da man einem kriminellen Netzwerk aus Banken, Beratern und Anwälten ausgeliefert war. Die Aufarbeitung dieses größten Steuerskandals in der Geschichte der Bundesrepublik, in den nachweislich rund 40 deutsche Banken, darunter mehrere Landesbanken, die intensiv mit einigen wenigen ausländischen Großbanken zusammengearbeitet haben, verwickelt waren, will man also der Steuerfahndung, den Staatsanwaltschaften und den Gerichten überlassen. Das kann so nicht sein. Vielmehr ist ein funktionierendes Sicherheitssystem zum Schutz der Steuerzahler zu fordern, und die Führungsebene des BMF hat unverzüglich Früherkennungssysteme gegen Steuerbetrug auf den Weg zu bringen, wozu einschneidende organisatorische und personelle Zuständigkeiten zu schaffen und die Zusammenarbeit von Bundes- und Landessteuerverwaltungen zu regeln sind. Wie sonst will man eigentlich die Wirksamkeit von Maßnahmen gegen Steuertricks und Steuerbetrug evaluieren?

Wer gedacht hätte, dass mit der Vorlage des Cum/Ex-Abschlussberichts sämtliche Skandale rund um das Dividendenstripping auf den Tisch gebracht wurden, wird eines Besseren belehrt. Es geht um den großen Bruder der Cum/Ex-Geschäfte, die sogenannten Cum/Cum-Geschäfte. Cum/Cum-Geschäfte führten zumindest bis 2016 dazu, dass in Deutschland auf Dividenden einbehaltene Kapitalertragsteuer zu Unrecht erstattet worden ist. Dazu übertragen in Deutschland nicht ansässige Personen, in aller Regel in ihren Ansässigkeitsstaaten steuerbefreite Pensions- und/oder Staatsfonds, ihre deutschen Aktien kurz vor dem Dividendenstichtag entweder durch Verkaufsgeschäfte oder in Form einer Wertpapierleihe an deutsche Kreditinstitute. Diese wiederum vereinnahmen die Dividende und begehren die Erstattung der darauf einbehaltenen Kapitalertragsteuer. Die Rückübertragung der Aktien an den ursprünglichen ausländischen Inhaber erfolgt nur kurze Zeit später. Auf diese Weise wird – aus der Sicht der Steuerausländer – eine an sich in Deutschland steuerpflichtige Dividende entweder in einen steuerfreien Veräußerungsgewinn oder eine steuerfreie Wertpapierleihgebühr umgewandelt. Den Erfolg aus der Erstattung der Kapitalertragsteuer teilten sich die Akteure regelmäßig über die Gestaltung des Veräußerungspreises oder der Wertpapierleihgebühr. Schätzungen zufolge beläuft sich der durch Cum/Cum-Geschäfte seit dem Jahr 2001 in Deutschland entstandene Steuerschaden auf rund 50 bis 80 Mrd. Euro, je nachdem, wie hoch die fällige Kapitalertragsteuer ist. Diese Schätzungen werden vom BMF nicht dementiert, mangels Möglichkeit zur Datenabfrage ist das Ministerium dazu auch nicht in der Lage. Vor dem Hintergrund des kollektiven Versagens, das der Cum/Ex-Untersuchungsausschuss zutage gebracht hat, hätte man ein beherztes Vorgehen des BMF und der Länderfinanzverwaltungen erwartet, um diese Geschäfte mit Blick auf die Vergangenheit aufzugreifen und dem Staat dadurch entgangene Steuereinnahmen zu sichern.

Im Gegensatz zu Cum/Ex-Geschäften mit Leerverkauf sind Cum/Cum-Geschäfte per se nicht illegal. Je nach konkreter Ausgestaltung verstoßen sie im Einzelfall jedoch gegen geltendes Recht. Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs ist die Erstattung der Kapitalertragsteuer beim deutschen Kreditinstitut zu versagen, falls das wirtschaftliche Eigentum an den Aktien nicht übergegangen ist. Daneben ist zumindest seit 2001 zusätzlich zu prüfen, ob ein Gestaltungsmissbrauch vorliegt, der dem Geschäft ebenfalls die steuerliche Anerkennung versagt. In der überwiegenden Zahl der Fälle, in die wiederum nachweislich auch Landesbanken in großem Stil verwickelt waren, dürfte dies der Fall sein. Stattdessen glänzt das BMF mit steuerrechtlichen Falschaussagen und hat im November 2016 versucht, mit einem Verwaltungsschreiben Cum/Cum-Geschäfte für die Vergangenheit reinzuwaschen. Es ist einem beherzten Mehrheitsvotum der Länderfinanzministerkonferenz im Dezember 2016 zu verdanken, dass dieses Schreiben zurückgezogen wurde. Auf ein neues Schreiben, das die Finanzverwaltungen endlich anweist, Cum/Cum-Geschäfte nach den Mitteln des Rechtsstaates aufzugreifen, warten wir bis heute.


DOI: 10.1007/s10273-017-2161-y