Ein Service der

Artikel als PDF herunterladen

Nach der Wahl vom Juni 2017 in Großbritannien sind die Verhandlungen mit der EU nicht einfacher geworden. Die ersten beiden Verhandlungsrunden haben noch keine Ergebnisse gebracht. Es wird bis Ende März 2019, dem vom EU-Recht vorgegebenen Austrittszeitpunkt Großbritanniens, vor allem um die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die Rechnung der EU über die britischen Verpflichtungen und die Gestaltung seiner Handelsbeziehungen zur EU gehen. Ob ein sogenannter harter Brexit wahrscheinlicher ist und was der Brexit für die EU und Großbritannien ökonomisch bedeutet, diskutieren die Autoren des Zeitgesprächs.

Vorzeitige Wahlen in Großbritannien: Brexit-Instabilität und Europa

Der für März 2019 von der britischen Regierung geplante EU-Austritt bringt für Großbritannien1 ernste Schwierigkeiten. Die dem Referendumsverlierer Cameron folgende Premierministerin May hat im April 2017 vorzeitige Wahlen ausgerufen, um sich mit Blick auf die Brexit-Verhandlungen mit der EU eine breitere Mehrheit zu sichern. Die Wahl vom 8. Juni 2017 hat zu einer Minderheitsregierung geführt, die nun die historische Herausforderung eines britischen EU-Austritts nach 45 Jahren bewältigen soll. Frau May hat Ende 2016 dargelegt, dass sie eine starke Legitimität des Brexit sehe. Hier gibt es aber große Zweifel mit Blick auf die Informationspolitik von Cameron beim Referendum.

Vom Cameron-Wahlsieg 2015 ausgehend über das EU-Referendumsergebnis 2016, steht Großbritannien nun mit der dritten Wahl in drei Jahren vor einer nochmals veränderten politischen Landschaft: Premier May ist auf die Unterstützung der nordirischen Democratic Unionist Party (DUP) angewiesen. In Nordirland aber stimmte eine Mehrheit von 56% beim Referendum für einen Verbleib in der EU. Interesse an einer harten Grenze zwischen Nordirland und Irland hat die DUP nicht. Damit ist die bisherige Strategie eines harten Brexit von Theresa May vermutlich beendet. Die DUP hat bereits die Aufhebung geplanter Rentenkürzungen erreicht, was die Staatsausgaben erhöht und dazu beiträgt, Großbritannien weiter mit dem Problem hoher Defizite zu konfrontieren. Für expansive Fiskalpolitik im Fall einer Rezession bleibt wenig Raum.

Premier May kann nicht sicher sein, dass sie das für spätestens zum März 2019 erwartete Verhandlungsergebnis zu den Austrittskosten bzw. zum künftigen Zugang zum EU-Binnenmarkt im Unterhaus durchbringen wird: Denn bei wenig Stimmenvorsprung im Unterhaus kann auch eine kleine Gruppe innerparteilicher Gegner in der konservativen Fraktion einen Sturz der Regierung May herbeiführen. Ein weicher Brexit bedeutet, dass man zumindest eine Zollunion oder ein breites Freihandelsabkommen zwischen der EU und Großbritannien hätte; allerdings auch mit faktischen Beitragszahlungen von Großbritannien an die EU. In einer Zollunion mit der EU könnte Großbritannien keine eigene Handelspolitik verwirklichen, bei fortgesetzter Mitwirkung im EU-Binnenmarkt gäbe es keine Möglichkeit für eine selektive Einwanderungspolitik. Gerade auf die europäische Arbeitnehmerfreizügigkeit zu verzichten, war aber Hauptziel der Brexit-Befürworter.

Konsequenzen aus makroökonomischer Sicht

Es kommen Jahre politischer Unsicherheit auf Großbritannien und letztlich damit auch auf Europa insgesamt zu. Die Konsequenzen der vorzeitigen Wahl 2017 bzw. des EU-Referendums sind aus makroökonomischer Sicht negativ für Großbritannien, wie auch in der Woche nach dem 8. Juni 2017 rasch erkennbar wurde, als das Pfund um 2% abwertete:

  • Das britische Pfund wird weiter unter Druck geraten, neue Währungsabwertungen werden zu erhöhter Inflation und einer Senkung des realen Einkommensanstiegs führen; Großbritannien droht Stagflation. Lohnzuwächse werden wohl die Inflation, die 2017 schon nahe 3% liegt, nicht kompensieren. Die realen Konsumausgaben dürften nur noch langsam wachsen, das Wachstum der Konsumgüterimporte bzw. von Vorleistungen aus der EU27 wird zurückgehen – das trifft auch die Importe von Investitionsgütern aus Deutschland. Aus Sicht der Eurozone ergibt sich eine nominale und reale Aufwertung des Euro, wobei letzteres die Exporte Richtung Großbritanniens dämpft.
  • Ausländische Investoren werden noch leichter als bisher britische Firmen übernehmen können; je höher der Anteil des Kapitalbestands in Großbritannien in der Hand von Auslandsinvestoren ist, desto höher der Anteil des Bruttoinlandsprodukts, der über die Tochterunternehmen ausländischer multinationaler Unternehmen bzw. ausländischer Beteiligungen an britischen Firmen als Gewinnabführung ins Ausland geht. Das Wachstum des britischen Nationaleinkommens wird damit stärker geschwächt als das ohnehin beim Brexit sinkende Wachstum des Bruttoinlandsprodukts.
  • Der globale Anteil Großbritanniens am Welteinkommen sinkt weiter; schon zwischen dem 23. Juni 2016, als das EU-Referendum stattfand, und Mai 2017 sank etwa der britische Anteil am EU28-Bruttoinlandsprodukt um rund 15% und auch der Anteil am Welteinkommen verminderte sich. Bei internationalen Verhandlungen ist dieser Anteilswert für das politische Verhandlungsgewicht wesentlich; für Großbritannien ein Nachteil.
  • Die britische Exportdynamik wird – trotz Abwertung – wegen ausbleibender Modernisierungsinvestitionen im Exportsektor geschwächt, was Jobs und Wachstum kostet; auch weil bei Fortsetzung der bisherigen May-Linie kein guter EU-Binnenmarktzugang zu erwarten ist. Langfristig bringt im QUEST-Modell der EU-Kommission eine Abwertung ohnehin eine Output-Dämpfung wegen verteuerter importierter Vorprodukte, die unter anderem für die Exportdynamik wichtig sind.2

Das ifo Institut erwartet kaum 1,5% Einkommensschrumpfung beim Brexit, was indes eine Unterschätzung sein dürfte.3 Der Brexit bedeutet bei alleinigem Betrachten von Handelsimpulsen eine Unterschätzung der Effekte. Relevant ist die Verbindung von Handels-, Direktinvestitions- und Innovationseffekten: ähnlich wie etwa bei der Analyse des gestoppten TTIP-Freihandelsabkommens.4 Hinzu kommen für Großbritannien wie für die EU27-Länder Verluste aus der Beschädigung des institutionellen Kapitals der EU sowie für letztere die Verminderung an globalem Verhandlungsgewicht, da die EU27 – auf Basis von Daten bzw. Wechselkursen für 2016 – einen Rückgang von einem Fünftel des Bruttoinlandsprodukts gegenüber der EU28 in Kauf nehmen muss. Im Kern ist von folgender Effektenkette auszugehen:

  • Handelsschrumpfung für Großbritannien wegen künftig vermindertem Zugang zum EU-Binnenmarkt,
  • Direktinvestitionsschrumpfung bzw. Rückgang der Greenfield-Direktinvestitionen in Großbritannien (weniger Errichtung neuer Betriebsstätten durch ausländische Investoren), was das Wachstum des Produktionspotenzials vermindert.
  • Minderung der Aufwendungen für Forschung und Entwicklung (auch in Töchtern von ausländischen multinationalen Unternehmens in Großbritannien) und daher verlangsamte Innovationsdynamik in der britischen Industrie: Das bedeutet Dämpfungseffekte beim Wissensinput in der makroökonomischen Produktionsfunktion.

Ein sinkendes Niveau des Produktionspotenzials ist bei einem harten Brexit für Großbritannien zu erwarten. Bei einem weichen Brexit werden die Effekte ökonomisch weniger dramatisch sein. Ob es ein weiteres EU-Referendum geben wird, bleibt abzuwarten.

Insgesamt steht die konservative Tory-Partei mit dem informationspolitisch nicht korrekt durchgeführten EU-Referendum vom 23. Juni 2016 für Schritte hin zu einer Schwächung Großbritanniens – bis hin zu einer Wirtschafts- und Staatskrise in Großbritannien. Premier Cameron hatte in der 16-seitigen Infobroschüre für die Wähler, versandt an alle Haushalte, den Wählern den vom Finanzministerium in einer Studie vom April 2016 errechneten 10%igen-Einkommensverlust infolge des Brexits verschwiegen. Wäre dieser wichtige Sachverhalt erwähnt worden, wäre – so kann man auf Basis von britischen Popularitätsfunktionen errechnen – das Referendumsergebnis 52,1% für EU-Verbleib gewesen.5 Premierministerin May, als Camerons Innenministerin über Jahre für Einwanderungsfragen zuständig, ist im Übrigen während des Referendums-Wahlkampfes der kontrafaktischen Anti-EU-Einwanderungsrhetorik von Cameron gefolgt, wonach die EU-Zuwanderer eine große Bürde darstellten. Die OECD zeigte jedoch früh, dass Zuwanderer für das britische Budget einen Netto-Einnahmeneffekt bringen.6 Als Premierministerin hat May ihre sonderbare Position in einem White Paper im Frühjahr 2017 bekräftigt. Zuwanderer dienten schon bei Cameron als Sündenbock für die massiven regierungsseitigen Streichungen bei den Mitteltransfers an die Kommunen, die lokale öffentliche Dienste kürzten.

Seitens des Europäischen Parlaments ergibt sich vor dem Hintergrund „disorderly EU referendum in the UK“ die Aufgabe, Mindeststandards für EU-Referenden in EU-Ländern als Empfehlung zu formulieren. Ein nationales EU-Referendum ist Sache des jeweiligen Landes, aber auch die EU-Partnerländer sind davon betroffen.

Nach dem Rücktritt von Cameron und der von May initiierten Wahl 2017 gilt: Die Beschädigung der eigenen Glaubwürdigkeit ist für britische Regierungen nun zum ernsten Problem geworden. Die neue Global-Britain-Strategie von Premierministerin May kann im Übrigen nicht funktionieren, da nur mit den USA und Japan nennenswerte Freihandelsverträge möglich sein werden und die USA zudem die Welthandelsorganisation unter der Trump-Administration – mit sichtbarem Protektionismus – erkennbar unterminieren.

Für Deutschland bzw. die EU27 wird ein Rückgang des britischen Realeinkommens um etwa 6% einen Einkommensdämpfungseffekt von 1% bedeuten. Zu diesem Effekt droht langfristig aus dem Zusammenspiel von US-Deregulierungspolitik im Bankenbereich unter der Trump-Administration und ähnlicher absehbarer britischer Politik ab 2019 ein neuer Instabilitätsimpuls für ganz Europa. In Großbritannien wird man versuchen, der mit dem Brexit verbundenen Wachstumsabschwächung und der Abwanderung ausländischer Banken aus London – Richtung EU27 – entgegenzuwirken.

Eine Gefährdung geht vom Brexit für die EU27 im Bereich der Finanzmärkte zudem davon aus, dass bisher von London aus für Firmen in EU27-Ländern erbrachte spezielle Finanzdienstleistungen ab Frühjahr 2019 nicht mehr länger verfügbar sein könnten; es sei denn, dass die entsprechenden Banken die relevanten Geschäftsfelder in die Eurozone verlagern, wovon nicht ohne weiteres auszugehen ist. Da der Aufbau spezieller Finanzdienste Zeit braucht, ist es Aufgabe der Politik in Deutschland und anderen EU-Ländern rechtzeitig noch im Jahr 2017 Anreize für den Aufbau „eigenständiger“ Finanzdienste in der EU27 anzubieten.

EU droht neue Bankenderegulierungswelle

Die britische Regierung wird bei vermindertem Wirtschaftswachstum stärker noch als bisher geplant auf eine neue Bankenderegulierung setzen. Damit wird die Stärkung von Bankenregulierungen in den westlichen OECD-Ländern ab 2019 auf breiter Front rückgängig gemacht: Wenn Großbritannien aus der EU austritt, dann kann Großbritannien eigenständig rasch eine Bankenderegulierung durchsetzen; schon die Cameron-Regierung hatte sich gegen die von EU-Seite beschlossene Begrenzung der Bonuszahlungen bei Bankern wehren wollen, entschied jedoch schließlich, von einer Klage beim Europäischen Gerichtshof Abstand zu nehmen. Da auch die Trump-Administration eine Bankenderegulierung in den USA seit Sommer 2017 umsetzt, kommt in Verbindung mit einer Großbritannien-Bankenderegulierung auf die OECD-Länder eine neue Deregulierungswelle zu.7 Wenn die USA und Großbritannien gleichzeitig Bankenderegulierung betreiben, setzt das die Banken in der EU27 enorm unter Druck, denn Bankenderegulierung bedeutet steigende Bankaktienkurse in den USA und Großbritannien. Dann aber lassen sich Übernahmen von Banken in der EU27 leichter finanzieren, da bei Übernahmen und Beteiligungen mit eigenen Aktien meist zumindest ein Teil des Übernahmepreises bezahlt wird; mit Abstrichen gilt das für britische Banken, deren Übernahmefähigkeit in der Eurozone durch die Euro-Aufwertung gegenüber dem Pfund etwas reduziert wird.

Der erhöhte Übernahmedruck aus den USA und Großbritannien wird dann auch die Großbanken in den EU27-Ländern lauter nach Deregulierung des Bankensektors rufen lassen. Das Ergebnis könnte längerfristig eine verstärkte, überzogene Banken- bzw. Finanzmarktderegulierung sein; zumal die USA das vor Jahren noch einhellig seitens der OECD-Länder angestrebte Basel-III-Regulierungspaket zu unterminieren scheinen. Gemeinschaftliche Standards bei der Bankenaufsicht in den USA, Großbritannien und der EU27 sowie der Schweiz und anderen Ländern wären dann illusorisch. Ein internationaler Deregulierungswettlauf im Westen wäre zu erwarten; mit der möglichen Folge einer neuen Bankenkrise.

Wichtige Verschärfungen bei der Bankenaufsicht nach der transatlantischen Bankenkrise 2007 bis 2009 werden bei einer neuen Deregulierung in Teilen aufgehoben: Es droht dann mittelfristig die nächste Bankenkrise in den USA und Europa; hiergegen sollte sich die EU27 wappnen, wobei dies eine stabilitätspolitisch sehr ernste Herausforderung ist. Die Verwerfungen aus der transatlantischen Bankenkrise lasten auch eine Dekade später noch deutlich auf den Staatshaushalten vieler OECD-Länder.

Perspektiven der EU

Wie auch immer die Brexit-Politik in Großbritannien weitergeht, die EU wird gut beraten sein, sich zu reformieren. Im Übrigen könnte man vom Europäischen Parlament eine kritische Debatte zum sonderbaren EU-Referendum in Großbritannien erwarten. Ein Mangel an politischer Führung in den USA, Großbritannien und der EU droht den Westen zu destabilisieren. Die Forschungsgruppe Wahlen hat zum Wahlverhalten in Deutschland bei den Europa-Wahlen aufgezeigt, dass die Wählerschaft – weil sie die Politikrolle der EU anders als etwa die Rolle der Parteien bei nationalen Wahlen oder bei Landtagswahlen nicht versteht – eine Neigung hat, kleine radikale Parteien zu wählen. Das dürfte in Großbritannien, Frankreich etc. kaum anders sein; bei den Europa-Wahlen 2014 waren UKIP bzw. Front National gar Wahlgewinner in den beiden genannten Ländern. Ohne eine budgetmäßig größere EU, für die es von der Theorie des fiskalischen Föderalismus durchaus gute Argumente gibt, wird sich Europa von Brüssel her – über die Europa-Wahlen – langfristig radikalisieren und dann auch zerfallen. Die üblichen statischen Subsidiaritätsargumente gegen ein größeres EU-Budget sind von daher verfehlt. Wenn Infrastruktur- und Verteidigungsausgaben auf EU-Ebene verankert wären – plus die ersten sechs Monate Arbeitslosenversicherung (ohne Jugendarbeitslosigkeit, für die die EU-Länder mit nationaler Mindestlohnregelung die Hauptverantwortung tragen) –, so könnte man eine größere politische Wettbewerbsintensität in der EU und von daher auch eine bessere EU-Politik erwarten. Der Abbau von Überregulierung ist in Brüssel zudem wünschenswert.

Deutschland gehört seit vielen Jahren zu den EU-Ländern, die keine Stärkung der EU-Politik unterstützt haben. So kann die EU als Integrationsclub keinen ausreichenden Nutzen im Zeitalter der Globalisierung liefern. Mit dem Brexit stellen sich die Fragen nach der vertikalen politischen Aufgaben- bzw. Ausgabenverteilung neu. Die Präsidentschaft von Macron setzt in Frankreich neue Pro-EU-Akzente und offenbar wird man neue deutsch-französische EU-Initiativen erwarten können. Ein Mehr an Verteidigungspolitik in Brüssel ist denkbar – hiergegen hatte Großbritannien sich stets gesperrt.

Osteuropäische EU-Länder, die sich bislang politisch an Großbritannien anlehnten, werden stark unter Druck kommen, der Eurozone beizutreten, um nicht politisch ins Abseits zu geraten. Das wäre nur sinnvoll, wenn es zuvor Reformen der Eurozone gibt. Zudem ist die schwierige Situation in Griechenland zu lösen, wobei eine Verfassungsreform dort wünschenswert ist, um die Institutionenqualität zu verbessern – auch als Basis für einen Schuldenschnitt.

Eine supranationale Staatsverbrauchsquote von etwa 5% wird ausreichen, eine effektive EU-Konjunkturpolitik zu betreiben; Effizienzgewinne – etwa bei supranationalen Rüstungsbeschaffungsprogrammen – könnten dann auch eine Absenkung der Gesamtsteuerquote ermöglichen: über alle Politikebenen gerechnet. Es gäbe bei Gründung eines Euro-Parlamentes gegebenenfalls eine supranationale Einkommenssteuer und natürlich auch Eurobonds – mit Staatsvermögen besichert –, allerdings nur sofern es auch eine EU-Schuldenbremse gibt. Mit klugen nationalen und EU-Reformen könnte die EU27 höhere Wachstumsraten als Großbritannien erzielen. Eine Modernisierung der EU wird wohl nur auf Basis einer neuen deutsch-französischen Initiative erfolgen können.

  • 1 Aus Gründen der sprachlichen Vereinfachung steht die Bezeichnung „Großbritannien“ im Folgenden für das gesamte Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland.
  • 2 Zur „Mechanik“ des Modells vgl. grundlegend L. Vogel: The Impact of Structural Policies on External Accounts in Infinite-horizon and Finite-horizon Models, DG European Economy Economic Paper, Nr. 474, 2013.
  • 3 G. Felbermayr, J. Gröschl, I. Heiland, M. Braml, M. Steininger, F. Teti: Ökonomische Effekte eines Brexit auf die deutsche und europäische Wirtschaft, Studie des ifo Instituts – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung für das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, München 2017.
  • 4 A. Jungmittag, P. J. J. Welfens: Beyond EU-US Trade Dynamics: TTIP Effects Related to Foreign Direct Investment and Innovation, Europäische Institut für Internationale Wirtschaftsbeziehungen (EIIW), Discussion Paper, Nr. 212, 2016, http://www.eiiw.eu/fileadmin/eiiw/Daten/Publikationen/Gelbe_Reihe/disbei212.pdf (8.8.2017).
  • 5 P. J. J. Welfens: BREXIT aus Versehen, Heidelberg 2017.
  • 6 OECD: International Migration Outlook 2013, Paris 2013, S. 147, Abb. 3.2.
  • 7 P. J. J. Welfens: An Accidental Brexit, London 2017.

Jedes Abkommen ist besser als keins

Das Brexit-Referendum hat einiges in der britischen Wirtschaft bewegt: Besonders auffällig ist der über 10%ige Wertverlust des britischen Pfunds gegenüber dem Euro. Nichts deutet derzeit darauf hin, dass der Prozess sich umkehren würde. Vielmehr ist zu beobachten, dass sich die Abwertung mit einer Inflationsrate von knapp 3% im britischen Preisniveau niederschlägt. Schon werden deshalb Stimmen laut, die eine entsprechende Zinserhöhung fordern. Doch das wiederum würde die Refinanzierung von privaten Haushalten und Unternehmen erschweren sowie den Staatshaushalt belasten. Keine einfache Entscheidung für die Zentralbanker, auch weil der günstige Wechselkurs die britischen Exporte stabilisiert. Was sich positiv auf die britische Handelsbilanz auswirkt, spiegelt auf der anderen Seite den Kaufkraftverlust der Briten, die sich teure ausländische Konsumgüter und Investitionsgüter nicht mehr wie zuvor leisten können. Diese schwierige Situation zeigt sich in niedrigen Konsumausgaben und dem schwachen BIP-Anstieg von gerade einmal 0,2% im ersten Quartal 2017, einem der niedrigsten in der EU.

Die aktuelle Hängepartie schadet den Briten, obwohl sich technisch an der institutionellen Verbindung des Landes mit der EU bis Frühjahr 2019, dem Ende der zweijährigen Verhandlungsfrist, nichts ändern wird. Der EU-Verhandlungsführer Michel Barnier forderte zuletzt eine Einigung bis Herbst 2018, sodass die nationalen Parlamente der EU27 bis zum 28. März 2019 genug Zeit haben, ihre Zustimmung zu geben. Diese wird notwendig, sollte es sich um ein gemischtes Abkommen handeln, das neben der Austrittsregelung auch ein Freihandelsabkommen umfassen würde.

Es ist unwahrscheinlich, dass in den Verhandlungen schnell Einigkeit erzielt werden kann.1 Das darauffolgende Ausloten der Handelsbeziehungen – die britische Regierung hat der sukzessiven Verhandlung zugestimmt2 – wird Jahre in Anspruch nehmen. Deshalb haben verschiedene britische Regierungsmitglieder eine Übergangsperiode ins Spiel gebracht, in der nach Verstreichen der zwei Jahre die Handelsbeziehungen zwischen der EU und Großbritannien3 institutionell identisch bleiben.4 Medienberichten zufolge haben einige Minister auch zugestimmt, die Personenfreizügigkeit während der kommenden zwei bis vier Jahre beizubehalten.5 Theresa May hat dem bereits widersprochen.

Mit dem Great Repeal Act soll die europäische Gesetzgebung in britisches Recht übertragen werden, um der mit dem Erlöschen des europäischen Rechtsrahmens eintretenden Rechtsunsicherheit vorzugreifen. Dass die wieder zu erlangende juristische Autonomie einerseits fast märchenhaft verklärt und andererseits der Repeal Act von der Opposition wie den Regierungen für Schottland und Wales politisch bekämpft wird, sind zwei der vielen Kuriositäten der britischen Verhandlungsposition.6 Zuletzt wurde auch der Verbleib in der EU-Zollunion ausgeschlossen, wobei trotzdem gleiches Recht beibehalten werden soll: „The same rules and laws will apply on the day after Brexit as they did before.“7 Theresa May mäandert zwischen Widersprüchen und Unklarheiten, ihre Strategie folgt dem historischen Muster des „trial and error“. Das und ihre seit der Unterhauswahl arg geschwächte Position im Lande macht eine Einigung schwierig.

Keine Lösung ist diesmal keine Lösung

Sollten sich beide Seiten auf keinen Kompromiss einigen können und die Frist verstreichen lassen, käme es hart auf hart. Großbritannien würde aus der EU ausscheiden und verschiedene rechtliche Hürden nehmen müssen, um dieselben Rechte wie ein EU-WTO-Mitglied wahrnehmen zu können.8 Ein ungewollter WTO-Austritt hätte verheerende Folgen für den Handel mit Großbritannien, an dem keine der Parteien ein politisches Interesse haben kann. Aber auch wenn die Briten mittelfristig ein Freihandelsabkommen mit der EU abschließen, ist das noch lange kein „back to normal“.

Nach Abschluss eines entsprechenden Freihandelsabkommens würden die für den Güterverkehr bedeutsamen Zölle wegfallen, der Weg für Exporte der europäischen Industrie nach Großbritannien wäre frei.9 Dieses Argument wirkt asymmetrisch, wird der Handel mit Vorleistungsgütern berücksichtigt: Während mehr als die Hälfte der Vorleistungsexporte aus zehn wichtigen Branchen aus Großbritannien in einem EU-Land weiterverarbeitet werden, liegt der Anteil der Vorleistungsexporte deutscher Sektoren nach Großbritannien mit der Ausnahme der Pharmabranche im (meist mittleren) einstelligen Bereich.10 Schlechte Aussichten für die britische Handelsbilanz.

Britische Exporte in die Union werden von Finanzdienstleistungen dominiert. Zwar bestehen in der EU Interessen, den Handel mit Dienstleistungen zu liberalisieren, doch selbst moderne Freihandelsabkommen wie das Comprehensive Economic and Trade Agreement CETA lassen den Bankensektor außen vor.11 Damit steht Großbritannien vor einem doppelten Problem: Einerseits wächst die EU mit Blick auf die finanzielle Integration weiter zusammen, was die EU-Kommission über die Kapitalmarktunion anstrebt. Andererseits würden für britische Finanzdienstleister, die weiterhin auf dem Kontinent ihre Dienstleistungen verkaufen wollen, hohe Regulierungskosten fällig. Sie müssten in der Union eine Tochtergesellschaft gründen, um sich um einen EU-Finanzpass zu bewerben, und sich gleichermaßen der britischen und der EU-Regulierung beugen.12

Verhandlungen drehen sich um unterschiedlich komplexe Aspekte

Die EU hat die Sequenzialisierung zur Grundvoraussetzung der Verhandlungen gemacht. Erst nachdem signifikante Fortschritte bei den Scheidungsgesprächen erzielt worden sind, soll die Diskussion um die weitere Ausgestaltung der EU-Beziehungen zu Großbritannien beginnen. Auf dem Tisch sind damit in erster Linie die Verhandlungen über die vier Grundfreiheiten. Von Seiten der EU sind diese untrennbar miteinander verbunden und nicht gegeneinander aufzuwiegen. Hinzu kommen Forderungen in Höhe von bis zu 100 Mrd. Euro an Großbritannien für in der Vergangenheit eingegangene Verpflichtungen.

Von britischer Seite sind die Linien weniger klar abgesteckt – insbesondere nach dem Ausgang der Parlamentswahlen: Ursprünglich hatte die britische Regierung die EU-Verhandlungslinie zum Ausgangspunkt ihrer harten Brexit-Strategie gemacht. Die Kooperation zwischen der nordirischen DUP und den Tories im britischen Unterhaus könnte dies nun aufweichen, sind die Nordiren doch stark an einer „weichen“ Grenze (für Güter und Personen) mit Irland interessiert. Eine Ausnahmeregelung für langjährige EU-Bürger wurde zudem von Premierministerin May ins Spiel gebracht.13

85% der Wähler haben für Pro-Brexit-Parteien gestimmt und damit den Ausgang des Referendums bestätigt.14 Erstaunlicherweise drehte sich der Wahlkampf kaum um die Austrittsmodalitäten aus der EU, stattdessen standen Themen der Innen-, Wirtschafts- und Sozialpolitik im Mittelpunkt. Der Brexit fand lediglich am Rande Beachtung, was belegt, dass das Austrittsvotum vor allem innenpolitisch motiviert war.15 So signalisieren die Wähler grundsätzlich Zustimmung zum Austritt, zugleich Desinteresse an der entscheidenden Frage, ob für sie gilt: „no deal is better than a bad deal“, wie zunächst von Außenminister Boris Johnson keck formuliert und dann von Theresa May monoton wiederholt wurde.

Eine bisher meist vernachlässigte Unwägbarkeit verbindet sich mit internationalen Schiedsgerichten zum Investorenschutz. Es stellt sich die Frage, ob beispielsweise der Verlust der Passporting-Rechte für ausländische Finanzunternehmen eine Verletzung legitimer Investoren-Erwartungen bedeutet. Dann wäre es möglich, dass Banken vor einem Schiedsgericht im Fall eines harten Brexits Schadensersatz einklagen. Selbst bei geringen Erfolgsaussichten mag aufgrund des politischen Drucks ein attraktiver Vergleich herausspringen.16 Was ein solches Schauspiel bei der Umsetzung des demokratisch beschlossenen Austritts aus der EU für Proteste auslösen würde, kann man sich als weitere Problemverschlingung vorstellen.

Es bleiben nicht viele Optionen

Während des Referendums hatten die Brexiteers noch die Hoffnung verbreitet, Zugang zum Binnenmarkt zu bekommen, ohne EU-Bürgern Personenfreizügigkeit gewähren zu müssen. Damit würden sie in der Abbildung 1 von oben rechts nach oben links wandern – ein krasser Widerspruch zum Prinzip der Reziprozität, das die Verhandlungen unweigerlich prägen wird. Alle Kooperationsmodelle zwischen EU- und Nicht-EU-Staaten sind durch ein Geben und Nehmen bestimmt. So akzeptiert Norwegen die Rechtsharmonisierung, bezahlt fast 600 Mio. Euro in den EU-Haushalt (2014 und 2015) und erhält dafür vollen Zugang zum EU-Binnenmarkt.17

Zwar zeigt eine spieltheoretische Analyse, dass die „Norwegen-Lösung“ langfristig für die EU und Großbritannien von einer ökonomischen Warte die optimale Lösung wäre, wenn beide Seiten den existenziellen Charakter der Linie für die Verhandlungen der EU – hier der Fortbestand der Union, dort die Eindämmung der Personenfreizügigkeit – ernst nehmen.18 Mit ihrem harten – angesichts des Austritts aus der Zollunion gar extremen – Brexit-Kurs hat Theresa May jedoch alle Hoffnungen auf eine solche Lösung begraben. Der Kern der britischen Verhandlungsstrategie scheint das wahllose Kappen aller institutionellen Verbindungen zur EU zu sein.

Abbildung 1
Mögliche Kooperationsmodelle
Mögliche Kooperationsmodelle

Quelle: J. Matthes, B. Busch: Was kommt nach dem Brexit? Erwägungen zum künftigen Verhältnis zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich, IW Report, Nr. 37/2016.

Die Brexiteer-Regierung um Theresa May hat mit ihrem Kurs des ultraharten Brexits zwar die reziproke Verhandlungstaktik akzeptiert, die verbleibende Lösung nach Abschluss des Austrittsabkommens und WTO-Mitgliedschaft der Briten wird damit jedoch nur die eines WTO-Staates sein können. Mittel- und langfristig würde der Abschluss eines Freihandelsabkommens dazu führen können, dass die EU-Wirtschaftsbeziehungen zu Großbritannien sich denen mit Kanada annähern. Eine institutionelle Verbindung der beiden Wirtschaftsräume, wie historisch über bilaterale Verträge mit der Schweiz gewachsen, wird es hingegen schon wegen der Komplexität dieser vertraglichen Strukturen kaum geben. Zugeständnisse an wichtige Branchen von Großbritannien würden der EU den Vorwurf des Rosinenpickens einhandeln. Das kann und sollte sie sich gerade mit Blick auf die verbliebenen 27 Mitgliedstaaten nicht leisten.

Starke Konkurrenz oder bemitleidenswerte Nachbarn?

Der Zugang zum EU-Binnenmarkt wird für in Großbritannien ansässige Unternehmen im Vergleich zum Status quo unweigerlich erschwert werden. Um weiterhin Investitionen und Arbeitsplätze zu attrahieren, werden zum Teil radikale Steuersenkungen diskutiert. Bereits heute liegen die Steuern auf Unternehmensgewinne in Großbritannien unter denen in Kontinentaleuropa. Zudem macht sich die Regierung frei von der sogenannten Beihilfekontrolle aus Brüssel und wird zu einem Zeitpunkt flexibler, zu dem andere Niedrigsteuerländer wie Irland besonders kritisch beäugt werden. Der Effekt für ausländische Investoren, die darauf angewiesen sind, in Großbritannien realisierte Gewinne wieder in andere Währungen zurückzutauschen, ist jedoch keinesfalls eindeutig.

Großbritannien bräuchte eine umfassende Re-Industrialisierungsstrategie. Gerade Innovationen aus dem Dienstleistungssektor werden zu wenig in der britischen Industrie genutzt: Die Wertschöpfung des britischen Industrie-Dienstleistungsverbunds beträgt 3,5% (in Deutschland 8,6%), auch ist der Industrieanteil mit 11,2% erschreckend gering (in Deutschland 23,1%).19 Mit dem extremen Fokus auf die Finanzindustrie fehlen den Briten starke Cluster- und Netzwerkeffekte. Hier werden gemeinsame Forschungsprojekte angeregt, Innovationen geschaffen und Investitionen angestoßen. Wie schwierig eine Umkehr des säkularen Bedeutungsverlustes des britischen Verarbeitenden Gewerbes ist, bestätigt eine für die britische Regierung erstellte Szenario-Analyse.20 Von den einstigen Re-Industrialisierungsideen Gordon Browns scheint wenig geblieben zu sein. Die industriepolitische Strategie der jetzigen Regierung bleibt vage,21 und das aktuelle Green Paper der Regierung ignoriert den kommenden EU-Austritt praktisch gänzlich.22

Alles in allem kann angesichts des Strategiedefizits und der politischen Unübersichtlichkeit in Großbritannien sowie der zunehmenden wirtschaftlichen Belastungen nicht ausgeschlossen werden, dass am Ende der Exit vom Brexit steht. Auch dem würde britische Argumentationskunst nicht entgegenstehen.

  • 1 Vgl. V. Miller: Brexit: red lines and starting principles, in: House of Commons Library, Briefing Paper, Nr. 7938, London 21.6.2017; und P. Carl: How To (Br)Exit: A Guide For Decision Makers, in: Policy Briefings Friends of Europe, März 2017, für eine Übersicht über die zu verhandelnden Streitpunkte.
  • 2 V. Miller, a.a.O., S. 16.
  • 3 Aus Gründen der sprachlichen Vereinfachung steht die Bezeichnung „Großbritannien“ im Folgenden für das gesamte Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland.
  • 4 Nach Art. 50 Abs. 3 des Vertrags über die Europäische Union wäre auch eine Verlängerung der Verhandlungsperiode möglich: „(3) Die Verträge finden auf den betroffenen Staat ab dem Tag des Inkrafttretens des Austrittsabkommens oder andernfalls zwei Jahre nach der in Absatz 2 genannten Mitteilung keine Anwendung mehr, es sei denn, der Europäische Rat beschließt im Einvernehmen mit dem betroffenen Mitgliedstaat einstimmig, diese Frist zu verlängern.“
  • 5 O.V.: Barnier calls for „greater clarification“ from the UK on its proposal for a financial settlement, Open Europe vom 21.7.2017, http://openeurope.org.uk/daily-shakeup/barnier-greater-clarification-uk-proposals-financial-settlement/ (26.7.2017).
  • 6 J. Caird: Legislating for Brexit: the Great Repeal Bill, House of Commons Library, Briefing Paper, Nr. 7793, London, 2.5.2017; Prime Minister’s Office: The Queen’s Speech 2017, London, 21.6.2017, S. 17 f.
  • 7 T. May: The government negotiation objectives for exiting the EU: PM speech, London, 17.1.2017, https://www.gov.uk/government/speeches/the-governments-negotiating-objectives-for-exiting-the-eu-pm-speech (28.6.2017).
  • 8 C. Tietje: Öffentliche Anhörung des Ausschusses des Deutschen Bundestages für die Angelegenheiten der Europäischen Union am 24.4.2017 – Statusfragen und wirtschaftliche Aspekte, Ausschussdrucksache, Nr. 18(21)102, 83. Sitzung, 24.4.2017, S. 5 f.
  • 9 Vgl. B. Busch: Produktions- und Lieferverflechtungen zwischen Branchen, der EU und Deutschland, in: IW Trends, 44. Jg. (2017), Nr. 2, S. 61-82.
  • 10 Ebenda.
  • 11 Vgl. M. Cremades, P. Novak: Brexit and the European Union: General Institutional and Legal Considerations, in: Study for AFCO Committee, European Parliament, 2017.
  • 12 Das Wegfallen der City of London als Hauptfinancier der EU kann kurzfristig nicht substituiert werden und stellt die Mitgliedstaaten vor eine große Herausforderung. Vgl. M. Demary: The Future of the European Financial System after Brexit, in: Banking and Financial Policy Report, im Erscheinen. Allerdings steigt auch der Druck, die gemeinsame Kapitalmarktunion weiter voranzutreiben.
  • 13 O.V.: EU-Bürger dürfen nach Brexit in Großbritannien bleiben, vgl. Zeit online, 22.6.2017, http://www.zeit.de/politik/ausland/2017-06/grossbritannien-will-nach-brexit-keinen-eu-buerger-ausweisen (3.7.2017).
  • 14 A. Bongardt, F. Torres: Nach der Wahl: Brexit und die EU, in: Wirtschaftsdienst, 97. Jg. (2017) H. 6, S. 378-379, https://archiv.wirtschaftsdienst.eu/jahr/2017/6/nach-der-wahl-brexit-und-die-eu/ (8.8.2017).
  • 15 P. Schnapper: The British General Election will be decided more on domestic issues rather than the Brexit, European Interview, Nr. 94, 6.5.2017, http://www.robert-schuman.eu/en/european-interviews/0094-the-british-general-election-will-be-decided-more-on-domestic-issues-rather-than-the-brexit (29.6.2017).
  • 16 I. Glinavos: Brexit Lawsuits. But Not As You Know Them, 9.5.2017, http://verfassungsblog.de/brexit-lawsuits-but-not-as-you-know-them/ (29.6.2017).
  • 17 Z. Darvas: Single market access from outside the EU: three key prerequisites, 19.7.2016, http://bruegel.org/2016/07/single-market-access-from-outside-the-eu-three-key-prerequisites/ (18.7.2017).
  • 18 B. Busch, M. Diermeier, H. Goecke, M. Hüther: Brexit und die Zukunft Europas – eine spieltheoretische Einordnung, in: Wirtschaftsdienst, 96. Jg. (2016), H. 12, S. 883-890.
  • 19 M. Hüther: Versuche, die Robustheit der deutschen Volkswirtschaft zu verstehen, in: Wirtschaftsdienst, 97. Jg. (2017), H. 7, S. 490-498.
  • 20 R. Rowthort, K. Coutts: Re-industrialisation – a commentary, in: Future of Manufacturing Project: Evidence Paper, Nr. 32, 2013, Foresight, Government Office for Science.
  • 21 C. Rhodes: Industrial strategy, Briefing Paper House of Commons Library, Nr. 07682, London, 11.8.2016.
  • 22 F. Mor: Industrial Strategy, House of Commons Library, Briefing Paper, Nr. 07682, London, 31.1.2017.
 

Brexit durch die Linse eines „neuen“ quantitativen Handelsmodells

Die ökonomischen Effekte des britischen Ausscheidens aus der EU sind nach wie vor nur durch Szenario-Rechnungen abzuschätzen. Ob es zu einem harten oder weichen Brexit kommt, wie die neuen wirtschaftlichen Beziehungen ausgestaltet werden, und welche finanziellen Regelungen kommen, steht noch nicht einmal ansatzweise fest. Dennoch ist es wichtig, dass die Wirtschaftssubjekte und die Politik die Struktur der Problemlage möglichst gut verstehen, einerseits, um für die Verhandlungen gut vorbereitet zu sein, andererseits um entsprechende vorbeugende Maßnahmen treffen zu können. Dieser Beitrag verwendet ein sogenanntes „neues“ quantitatives Handelsmodell, um mögliche Folgen verschiedener Brexit-Szenarien zu analysieren. Im Unterschied zu existierenden Studien basiert die Ex-ante-Simulation ökonomischer Effekte auf einer ökonometrischen Ex-post-Evaluierung der unterschiedlichen in der Vergangenheit erfolgten europäischen Integrationsschritte.

Wir untersuchen drei Szenarien:

  • In einem WTO-Szenario verliert Großbritannien1 die Vorteile einer Mitgliedschaft im EU-Binnenmarkt und in der Zollunion sowie der existierenden präferenziellen Abkommen der EU mit Drittstaaten.
  • In einem Global-Britain-Szenario schließt Großbritannien nach erfolgtem Brexit tiefe Handelsabkommen mit ausgewählten Drittstaaten.
  • In einem dritten Szenario wird untersucht, was passiert, wenn Großbritannien nach erfolgtem Brexit mit den EU27-Ländern ein neues, tiefes Freihandelsabkommen schließt. Ein Freihandelsabkommen kann nur ein teilweiser Ersatz für die EU-Vollmitgliedschaft sein, weil zur Inanspruchnahme von Zollpräferenzen komplexe Ursprungsnachweise geführt werden müssen, und weil der EU-Binnenmarkt bei der Konvergenz nicht-tarifärer Handelsbarrieren deutlich weiter geht.

Zum Brexit gibt es bereits eine Reihe von quantitativen Studien, die Emerson et al. vergleichend diskutieren.2 Bisher wurden die Szenarien nicht an der Ex-post-Evaluierung konkreter EU-Integrationsschritte ausgerichtet, sondern von den Autoren relativ ad hoc vorgegeben. Außerdem wurden bisher wenige oder keine sektoralen Differenzierungen vorgenommen. Schließlich wurden relativ alte Basisdaten (2007 oder 2011) zur Kalibration verwendet. Felbermayr et al. haben im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie im Frühjahr 2017 eine Studie vorgelegt, die diese Defizite bereinigt. Dieser Aufsatz stützt sich auf die dort erarbeiteten Ergebnisse.3

EU und Großbritannien: gegenseitige Abhängigkeiten

Die EU27-Länder sind der mit Abstand wichtigste Handelspartner für Großbritannien. Auch zwischen Deutschland und Großbritannien bestehen enge Handelsverflechtungen. So ist Großbritannien drittwichtigstes Zielland für deutsche Exporte. Im Jahr 2016 erzielte die Bundesrepublik mit keinem anderen Land einen größeren bilateralen Überschuss im Güterhandel. Dieser betrug ca. 51 Mrd. Euro und hat sich seit 2008 mehr als verdoppelt (vgl. Abbildung 1). Der Überschuss macht ca. 1,7% des deutschen Bruttoinlandsprodukts (BIP) aus.

Für den deutschen Export am wichtigsten ist der Kfz-Sektor. Im Jahr 2016 entfielen auf diesen Sektor fast 27 Mrd. Euro; das sind 31% der deutschen Exporte nach Großbritannien, 12% der gesamten Sektorexporte und 2% der deutschen Gesamtexporte. An zweiter Stelle stehen medizinische und pharmazeutische Erzeugnisse, auf die ca. 6 Mrd. Euro entfielen. Auf den 3. und 4. Platz kommen Maschinen unterschiedlicher Art mit jeweils ungefähr 4 Mrd. Euro.4 Ca. 15% der deutschen Güterimporte aus Großbritannien entfallen allein auf den Kfz-Sektor. Das sind 5,4 Mrd. Euro. Der Sektor ist für 15% der deutschen Importe aus Großbritannien verantwortlich. Der Maschinenbauimporte (SITC-Sektoren 70-77) kommen auf insgesamt 6,8 Mrd. Euro.

Im Dienstleistungshandel mit Großbritannien hat Deutschland seit 2010 ein Defizit, das sich 2014 auf knapp 3 Mrd. Euro belief.5 Unter den deutschen Dienstleistungsexporten kommt mit fast 4 Mrd. Euro an erster Stelle der Großhandel, gefolgt von Dienstleistungen der Verwaltung und Serviceunterstützung (knapp 2 Mrd. Euro) und Finanzdienstleistungen (1,4 Mrd. Euro). Auf der Importseite dominieren ebenfalls Dienstleistungen des Großhandels; gefolgt von Finanzdienstleistungen. Letztere machten 2014 knapp 2 Mrd. Euro aus, bzw. 4% der Gesamtimporte (Güter- und Dienstleistungsimporte) und Importe von Versicherungsdienstleistungen ca. 0,5 Mrd. Euro. Im Bereich unternehmensnaher Dienstleistungen (Ingenieurswesen, Rechtsberatung, IT) importierte Deutschland mehr als 3,5 Mrd. Euro.

Abbildung 1
Deutscher Güterhandel mit Großbritannien
Deutscher Güterhandel mit Großbritannien

Quelle: Destatis; Berechnungen des ifo Instituts.

Tabelle 1
Exportwertschöpfung
in % der gesamten jeweiligen Wertschöpfung
Jahr Deutsche Exporte nach Großbritannien Britische Exporte nach Deutschland Britische Exporte in die EU27
2000 1,5 1,4 6,8
2005 1,7 1,2 6,3
2010 1,5 1,3 6,1
2014 1,7 1,0 5,0

Anteil deutscher (bzw. britischer oder EU27-) Wertschöpfung an den direkten deutschen (britischen, EU27-) Exporten nach Großbritannien (bzw. Deutschland, EU27), unabhängig davon, ob diese am Ende in Großbritannien (bzw. Deutschland, EU27) oder in Drittländern konsumiert werden.

Quelle: World Input Output Table, 2017; Berechnungen des ifo Instituts.

Die amtliche Handelsstatistik informiert nicht über die heimische Wertschöpfung, die im Handel mit Großbritannien erzielt wurde. Sie ist aber die eigentlich volkswirtschaftlich relevante Größe. Tabelle 1 zeigt, dass der Anteil der deutschen Exporte nach Großbritannien an der deutschen Wertschöpfung von gut 1,5% (2000) auf 1,7% (2014) gestiegen ist. Gleichzeitig machen die britischen Exporte nach Deutschland einen abnehmenden Anteil der dortigen Wertschöpfung aus. Von gut 1,4% im Jahr 2000 sank dieser Anteil kontinuierlich auf weniger als 1,0% am aktuellen Rand. Dieser abnehmende Trend ist ebenfalls für die britischen EU-Exporte zu sehen: Deren Wert verringerte sich über die Zeit relativ zur Wertschöpfung von 6,8% auf 5,0%.

Effekte der europäischen Integration: Ex-post-Betrachtung

Welche Vorteile, die mit dem Brexit zur Disposition stehen, haben Großbritannien und die EU27 aus der EU-Mitgliedschaft Großbritanniens gezogen? Für eine empirische Beantwortung dieser Frage müssen andere Determinanten des Handels, die nicht mit der europäischen Integration zu tun haben, herausgerechnet werden. Dazu verwenden wir ein ökonometrisches Gravitationsmodell des internationalen Handels. Mit seiner Hilfe und mit detaillierten bilateralen sektoralen Handelsdaten, die das World-Input-Output-Database-Projekt für den Zeitraum 2000 bis 2014 zur Verfügung stellt, schätzen wir, wie die europäische Integration auf die bilateralen Exporte von 43 Ländern gewirkt hat. Das Modell folgt dabei den aktuellen Standards.6 Die Identifikation der Effekte beruht auf zwischen 2000 und 2014 neu in die EU, in die Eurozone oder in den Schengenraum beigetretene Länder, bzw. auf neu abgeschlossene Freihandelsabkommen.7

Die Ergebnisse sind in Tabelle 2 dargestellt.8 Die Schätzung zeigt, dass der Handel zwischen den EU27-Staaten im Durchschnitt deutlich angestiegen sind: für Güter bzw. Dienstleistungen finden wir Koeffizienten von 0,49 bzw. 0,52, d.h., die Exporte sind um ca. 62% bzw. 68% angestiegen.9 Ganz ähnliche Effekte sind für die Exporte der EU27-Länder nach Großbritannien festzustellen. Im Gegensatz dazu hat die EU-Mitgliedschaft Großbritanniens seine Güterexporte in die EU27 lediglich um (statistisch nicht signifikante) 18% erhöht. Im Dienstleistungshandel aber ist ein Effekt von ca. 60% zu verzeichnen. Großbritannien hat also im Güterhandel relativ wenig, im Dienstleistungshandel aber deutlich von seiner EU-Mitgliedschaft profitiert.

Tabelle 2
Europäische Integration und Exporte (2000 bis 2014)
Abhängige Variable Bilaterale Exporte
  Waren Dienstleistungen
Beide EU27 0,49*** 0,52***
(0,07) (0,07)
EU27 –> Großbritannien 0,50** 0,63**
(0,12) (0,17)
Großbritannien–> EU27 0,17 0,47**
(0,10) (0,17)
Beide Euro 0,08** 0,15**
(0,04) (0,06)
Schengen 0,09*** 0,06***
(0,01) (0,02)
EU – Korea 0,31** 0,35**
(0,06) (0,07)
Weitere regionale Handelsabkommen 0,11* 0,01
(0,06) (0,06)

Hinweis: *** p<0,01, ** p<0,05, * p<0,1. Alle Regressionen durch Poisson-Pseudo-Maximum-Likelihood-Methoden geschätzt. Alle Regressionen enthalten zeitvariante Importe und Exporte, sowie bilaterale fixe Effekte.

Quelle: eigene Berechnungen des ifo Instituts.

Tritt Großbritannien aus der EU aus, verliert es auch die Freihandelsabkommen, die die EU bisher abgeschlossen hat. Das bisher ambitionierteste ist jenes mit Korea. Es hat im Durchschnitt über alle Handelspartner zu einem Handelswachstum von 37% bei Gütern und 41% bei Dienstleistungen geführt. Diese Vorteile könnten Großbritannien verloren gehen. Auch die positiven Effekte anderer Abkommen würden für Großbritannien verschwinden.

Effekte eines Brexits: Ex-ante-Betrachtung

Wir nehmen nun an, dass der Brexit langfristig eine Rückabwicklung der im obigen Abschnitt quantifizierten Integrationsschritte bedeutet. Wir betrachten drei Szenarien.

  • Szenario 1: WTO. In diesem Szenario verlässt Großbritannien den EU-Binnenmarkt und die Zollunion, und es kommt zu keinem neuen Freihandelsabkommen. Zwischen der EU und Großbritannien werden die Most-Favoured-Nation-Zölle (MFN-Zölle) eingeführt, die derzeit in der EU für Importe aus Drittstaaten gelten. Großbritannien verliert auch alle tarifären und nicht-tarifären Vorteile, die es derzeit noch gegenüber Ländern hat, mit denen die EU Handelsabkommen geschlossen hat. Außerdem kommt es zu einer Wiedereinführung der nicht-tarifären Barrieren.
  • Szenario 2: Global Britain. Wie Szenario 1; nun wird aber unterstellt, dass Großbritannien mit den USA, Kanada und Japan ambitionierte Freihandelsabkommen schließt. Es wird angenommen, dass diese Abkommen die Zölle zwischen den Partnerländern vollständig eliminieren und die nicht-tarifären Handelskosten so abgesenkt werden wie zwischen der EU und Korea.
  • Szenario 3: Ambitioniertes Freihandelsabkommen. Wie in Szenario 1, Großbritannien verhandelt nun aber zusätzlich ein modernes Freihandelsabkommen mit der EU, das neben der Abwesenheit von Zöllen auch die üblichen nicht-tarifären Themen umfasst. Dabei werden die geschätzten handelskostensenkenden Effekte aus dem EU-Korea-Abkommen verwendet.

Die Ergebnisse der Ex-post-Analyse werden genutzt, um diese Szenarien in das ifo-Handelsmodell zu implementieren.10 Dabei werden die in den Handelseffekten impliziten Handelskosteneffekte als exogene Schocks eingesetzt. Das Modell ist ein „neues“ quantitatives Handelsmodell mit 43 Ländern und 50 Sektoren, in dem die Sektoren über Input-Output-Verknüpfungen verbunden sind, und die technologische Beschreibung stochastisch ist.11 Das Modell ist mit Daten des World-Input-Output-Data-Projekts kalibriert. Die Basissituation beschreibt das Jahr 2014. Das Modell unterstellt perfekten Wettbewerb und konstante Beschäftigung.

Handelseffekte

Höhere Handelskosten – nicht-tarifäre Handelshemmnisse und Zölle – erhöhen die Preise britischer Exporte in die EU27-Länder und der EU27-Exporte nach Großbritannien. Dies führt zum einen zu Handelszerstörung, zum anderen aber auch zu Handelsumlenkung (in Drittstaaten), und zwar sowohl bei der privaten Konsumnachfrage als auch bei den Beschaffungsentscheidungen der Unternehmen.

Die Simulationsergebnisse zeigen, dass der Brexit in der Tat langfristig zu einer erheblichen Schrumpfung des Handels zwischen Großbritannien und EU27 führen würde. Im WTO-Szenario würden die Exporte Großbritanniens nach Deutschland um ca. 50% fallen; ähnlich im Global-Britain-Szenario. Und selbst wenn es zu einem tiefen Freihandelsabkommen zwischen der EU27 und Großbritannien kommen würde, müssten die Exporte Großbritanniens nach Deutschland um 24% fallen. Hier schlagen jeweils die Dienstleistungsexporte am stärksten zu Buche. Die Handelseffekte im WTO-Szenario (Freihandelsabkommen-Szenario) für die anderen EU-Länder sind ganz ähnlich; sie liegen zwischen -53% (-28%) für Litauen und -22% (-6%) für Luxemburg. Die deutschen Exporte nach Großbritannien würden im WTO-Szenario um 33% und im Freihandelsabkommen-Szenario um 9% fallen.

Abbildung 2 und Abbildung 3 zeigen die Effekte auf Sektorebene. Die prozentual stärksten Effekte für die Exporte Großbritanniens nach Deutschland treten in den Bereichen Finanzdienstleistungen und Großhandel auf. Selbst wenn die EU-Vollmitgliedschaft Großbritanniens durch ein Abkommen des Typs EU-Korea ersetzt würde, würden die Exporte Großbritanniens nach Deutschland um etwas mehr als 50% einbrechen. Der Großhandel dominiert, was die absoluten Zahlen angeht, weil das Ausgangsniveau mit ca. 5 Mrd. Euro etwa doppelt so hoch ist wie bei Finanzdienstleistungen. Auch der Fahrzeugsektor hat höhere absolute Status-quo-Exporte nach Deutschland; sie würden selbst im Freihandelsabkommen-Szenario um ein Viertel einbrechen.

Abbildung 2
Effekte auf die sektoralen britischen Exporte nach Deutschland
Effekte auf die sektoralen britischen Exporte nach Deutschland

Quelle: eigene Berechnungen des ifo Instituts. Die Abbildung zeigt die zehn am stärksten negativ betroffenen britischen Sektoren.

Abbildung 3
Effekte auf die sektoralen deutschen Exporte nach Großbritannien
Effekte auf die sektoralen deutschen Exporte nach Großbritannien

Quelle: eigene Berechnungen des ifo Instituts. Die Abbildung zeigt die zehn am stärksten negativ betroffenen deutschen Sektoren.

In Deutschland ist die prozentual stärkste Vernichtung von Handelsvolumen im Großhandel zu erwarten (vgl. Abbildung 3); hier sind negative Effekte von über 50% sowohl im WTO- als auch im Freihandelsabkommen-Szenario zu erwarten. Ansonsten sind aus deutscher Sicht aber die Gütersektoren am stärksten betroffen: vor allem Pharma, Maschinenbau und Fahrzeugbau weisen relativ hohe Exportvolumen nach Großbritannien auf (4,4 Mrd. Euro, 7,1 Mrd. Euro und 18,9 Mrd. Euro), wobei der Pharmabereich sogar im Freihandelsabkommen-Fall noch 17% weniger exportiert. Im Gegensatz dazu würde die Automobilbranche mit einem Freihandelsabkommen fast glatt gestellt.

Sektorale Wertschöpfungseffekte

Bei der Bestimmung der Wertschöpfungseffekte sind allgemeine Gleichgewichtseffekte, insbesondere die Handelsumlenkung, von großer Bedeutung. Im WTO-Szenario kommt es zu Wertschöpfungsverlusten in Deutschland von 4,5 Mrd. Euro in den Industriesektoren und von 1,6 Mrd. Euro bei den Dienstleistungen. Abbildung 4a. zeigt die realen Wertschöpfungseffekte des WTO-Szenarios für die am stärksten betroffenen zwölf deutschen Industriesektoren. Der deutsche Sektor, der die größten Einbußen verzeichnen könnte, ist der Fahrzeugsektor mit etwa 1,1 Mrd. Euro. Auf ihn entfällt also ca. ein Sechstel der gesamtwirtschaftlichen Kosten des Brexits. Der Pharmasektor würde ca. 600 Mio. Euro an Wertschöpfung einbüßen, der Maschinenbau 560 Mio. Euro.

Abbildung 4b. betrachtet die fünf am stärksten hinzugewinnenden und die fünf am stärksten verlierenden deutschen Dienstleistungsbranchen unter Szenario 1 (WTO). Wie oft in der Debatte betont, gibt es hier durchaus Chancen; der Finanzsektor könnte durch den Brexit um knapp 300 Mio. Euro wachsen; ebenfalls gäbe es Wachstumschancen in beratenden Bereichen, z.B. im IT-Bereich (340 Mio. Euro), in der Rechtsberatung und Buchhaltung (160 Mio. Euro) und im Architektur- und Ingenieurwesen (130 Mio. Euro). Auch der Großhandel könnte profitieren. In all diesen Bereichen sind die zusätzlich zu erwartenden Kostenzuwächse durch nicht-tarifäre Handelshemmnisse relativ ausgeglichen. Im Immobilienwesen könnten deutsche Unternehmen 890 Mio. Euro an Wertschöpfung einbüßen, die Bereiche Gesundheits- und Sozialwesen, Baugewerbe und die öffentliche Verwaltung jeweils ca. 400 Mio. Euro. Letztere ist durch neue Handelsbarrieren nicht direkt, sondern durch einen Rückgang der Wirtschaftsleistung in Deutschland indirekt negativ betroffen. Das gilt auch für die anderen Sektoren; dort aber kommt dazu, dass das Großbritannien-Geschäft deutscher Unternehmen durch den Aufbau neuer Barrieren negativ beeinflusst wird.

Abbildung 4
Wertschöpfungseffekte im WTO-Szenario
Wertschöpfungseffekte im WTO-Szenario

NTB = Nicht-tarifäre Handelshemmnisse, Veränderungen in %. MFN = Most Favoured Nation, durchschnittliche MFN-Zölle in %.

Quelle: eigene Berechnungen des ifo Instituts; Abbildung 4a. zeigt die zwölf am stärksten negativ betroffenen deutschen Industriesektoren. Abbildung 4b. betrachtet die fünf am stärksten hinzugewinnenden und die fünf am stärksten verlierenden deutschen Dienstleistungsbranchen unter Szenario 1 (WTO).

Die Veränderung der sektoralen Wertschöpfung stellt sich in Szenario 1 (WTO) in Großbritannien ganz anders dar als in Deutschland. Der wichtigste Punkt ist, dass dort der Dienstleistungsbereich mit ca. 22 Mrd. Euro negativ zu Buche schlagen könnte, während der Güterbereich einen Verlust von 6,3 Mrd. Euro verkraften müsste. Der Dienstleistungssektor hat also in Großbritannien mit mindestens drei Mal so negativen Konsequenzen wie der Industriebereich zu rechnen, dabei kommen auf den Finanzbereich Wertschöpfungseinbußen von 850 Mio. Euro; diese dominieren das gesamtwirtschaftliche Bild aber nicht. Der Grund liegt darin, dass die Absenkung der nicht-tarifären Handelshemmnisse in diesem Bereich durch die EU für Großbritannien zwar messbar, aber nicht besonders groß ist, sodass auch die Verluste nicht so enorm ausfallen können. Dazu kommt der sehr stark ausgeprägte komparative Vorteil Großbritanniens in diesem Bereich. Der deutlich kleinere Versicherungssektor steuert ca. 660 Mio. Euro zu den Gesamtverlusten bei. Viel wichtiger sind aber die Verluste in anderen Dienstleistungsbereichen, wie z.B. im Großhandel (ca. 4,4 Mrd. Euro), im Architektur- und Ingenieurwesen (2,7 Mrd. Euro) und in der Rechtsberatung und Buchhaltung (1,2 Mrd. Euro). Die Simulationen suggerieren, dass einzelne Transportbranchen durch den Brexit gewinnen könnten; diese Gewinne sind aber sehr klein.

Im Güterbereich sind der Elektroniksektor mit 1,6 Mrd. Euro, der Chemiebereich mit 1,4 Mrd. Euro, der Bereich „Andere Beförderungsmittel“ mit 1,2 Mrd. Euro, Grundmetalle und Maschinenbau mit jeweils 1 Mrd. Euro und der Fahrzeugbau mit 850 Mio. Euro am stärksten negativ betroffen. Zu den Gewinnern gehören vor allem der Bereich Nahrung, Getränkte und Tabak mit ca. 1,4 Mrd. Euro, der Bergbau mit 950 Mio. Euro, sowie landwirtschaftliche und forstwirtschaftliche Rohstoffe.

In allen Sektoren gilt: Wenn auch die aggregierten Effekte eines Sektors positive oder negative Vorzeichen tragen, wird es immer innerhalb eines Sektors Unternehmen geben, die durch den Brexit besonders stark negativ oder auch positiv betroffen sind. So können exportorientierte Getränkehersteller (z.B. Whiskey) verlieren, während die Nahrungsindustrie insgesamt gewinnt, weil Großbritannien hier nach dem Brexit Importe durch eigene Produktion ersetzen muss.

Makroökonomische Ergebnisse

In Abbildung 5 zeigt sich, dass Großbritannien im WTO- Szenario ca. 1,4% der Wirtschaftsleistung verlieren würde. Könnte es mit den USA, Japan und Kanada ambitionierte Freihandelsabkommen schließen, so würde der Verlust auf 1,1% des Status-quo-Einkommens fallen. Die Vorstellung, mit einigen wenigen neuen Freihandelsabkommen könnten die Brexit-Verluste kompensiert werden, erscheint also als irrig. In separaten Berechnungen haben wir festgestellt, dass eine noch aggressivere Politik, Handelsabkommen mit Dritten zu schließen, ebenfalls keine Chance hat, die Verluste des Brexits zu kompensieren. Das Problem für Großbritannien liegt darin, dass der Handel mit geografisch und kulturell weit entfernten Ländern deutlich höhere Transaktionskosten mit sich bringt als der Handel mit dem nahen Europa.

Abbildung 5
Effekte auf die langfristigen jährlichen realen Bruttorealeinkommen pro Kopf
in % des Status-quo-Einkommens
Effekte auf die langfristigen jährlichen realen Bruttorealeinkommen pro Kopf in % des Status-quo-Einkommens

Quelle: eigene Berechnungen des ifo Instituts und eigene Darstellung. Relativ zum Status quo, 2016. Diese Effekte enthalten keine Nettotransfers an die EU.

Allerdings ist Großbritannien nicht der größte Verlierer. Irland, Luxemburg und Malta leiden prozentuell stärker als Großbritannien, jedenfalls in den Szenarien 1 und 2. Der Grund liegt in der hohen Bedeutung Großbritanniens als Absatz- oder Beschaffungsmarkt für diese Länder in Wirtschaftssektoren, die vom Brexit stark betroffen sind und in denen es hohe Wertschöpfungsanteile gibt. Das sind neben dem Agrifood-Bereich, der besonders für Irland wichtig ist, Dienstleistungssektoren wie Finanzen oder maritimer Transport. Die allermeisten EU-Staaten haben aber deutlich geringere Verluste als Großbritannien. So haben die Niederlande, das Land mit dem fünftgrößten prozentualen Schaden, nur etwa ein Drittel des britischen Verlustes zu ertragen. Über alle EU27-Staaten hinweg beträgt der Verlust bei den realen Bruttoeinkommen 0,40%. In Deutschland beläuft er sich im WTO-Szenario auf 0,24%; in Frankreich auf 0,17% und in Spanien auf 0,14%. Die Benelux-Länder und Skandinavien sowie Polen und Ungarn sind stärker negativ betroffen; die Länder Südosteuropas weniger stark. Für die EU27-Länder gilt, dass sie durch eine aggressive Global-Britain-Politik kaum betroffen wären.

Ein ambitioniertes Freihandelsabkommen würde allen Beteiligten helfen; vor allem Luxemburg könnte seine Verluste erheblich reduzieren, weil die Friktionen in wichtigen Dienstleistungsbranchen so deutlich kleiner blieben. Weiterhin würde aber Irland mehr verlieren als Großbritannien, das ca. 0,6% seines realen Pro-Kopf-Einkommens einbüßen würde. Für Deutschland würde der Verlust auf 0,1% absinken. Im Durchschnitt verlieren die EU27-Länder im WTO-Szenario 0,25% und im Freihandelsabkommen-Szenario 0,12% ihrer Wirtschaftsleistung. Es gibt also starke Asymmetrien zwischen den relativen Effekten in Großbritannien und im Rest Europas.

Tabelle 3
Effekte auf Bruttorealeinkommen und maximale fiskalische Kosten
in Mrd. Euro
  Bruttorealeinkommen Maximale fiskalische Kosten
  1: WTO 2: Global Britain 3: Freihandelsabkommen
Irland 4,08 4,06 1,85 0,19
Luxemburg 0,87 0,90 0,25 0,05
Malta 0,12 0,12 0,05 0,01
Großbritannien 30,21 24,88 12,66 -11,52
Niederlande 3,12 3,05 1,52 0,65
Zypern 0,08 0,08 0,04 0,02
Belgien 1,77 1,77 0,80 0,40
EU27 29,56 29,76 23,45 13,49
Slowakei 0,27 0,26 0,19 0,07
Dänemark 0,77 0,77 0,41 0,25
Polen 1,07 1,07 0,54 0,40
Ungarn 0,25 0,25 0,09 0,10
Schweden 1,03 1,03 0,52 0,42
Deutschland 6,71 7,00 2,62 2,87
Tschechien 0,36 0,36 0,12 0,15
Litauen 0,08 0,08 0,04 0,04
Estland 0,04 0,04 0,02 0,02
Lettland 0,05 0,05 0,02 0,02
Bulgarien 0,08 0,08 0,05 0,04
Frankreich 3,63 3,63 1,92 2,10
Finnland 0,33 0,33 0,14 0,20
Portugal 0,28 0,26 0,14 0,17
Spanien 1,48 1,48 0,74 1,04
Italien 2,26 2,26 0,97 1,59
Griechenland 0,21 0,21 0,13 0,18
Rumänien 0,18 0,18 0,09 0,15
Slowenien 0,04 0,04 0,02 0,04
Österreich 0,36 0,36 0,16 0,32
Kroatien 0,04 0,04 0,03 0,04

Quelle: Wertschöpfungseffekte, eigene Berechnungen des ifo Instituts. Maximale fiskalische Kosten: Umlegung des entfallenden Nettobeitrages Großbritanniens zum EU-Budget gemäß BIP-Anteilen der einzelnen EU-Mitglieder.

Tabelle 3 fügt den Effekten auf die Bruttorealeinkommen die fiskalischen Effekte hinzu. So hätte ein Brexit im WTO-Szenario für die EU27 Bruttorealeinkommenskosten von etwa 29,6 Mrd. Euro pro Jahr – davon 7 Mrd. Euro für Deutschland; für Großbritannien von 30,2 Mrd. Euro. Absolut gesehen verliert die EU also etwa genau so viel wie Großbritannien. Die fiskalischen Kosten sind zum gegenwärtigen Zeitpunkt kaum quantifizierbar, weil sie Gegenstand von Verhandlungen sind. Im Jahr 2015 leistete Großbritannien zum Budget der EU einen Nettobeitrag von ca. 11,5 Mrd. Euro, oder 0,46% des Bruttonationalprodukts.12 Selbst wenn das Land diese Kosten komplett sparen kann, wäre selbst unter der Annahme eines ambitionierten Freihandelsabkommens mit der EU die Bilanz nicht positiv. Im Gegenteil, gerade für diesen Fall müsste das Land mit weiteren Transfers nach Brüssel rechnen.

Für die EU27-Länder kämen aber fiskalische Kosten hinzu. Unter der Annahme, dass die Ausgabenstruktur der EU nicht angepasst wird, und die fiskalische Lücke anteilig zum BIP geschlossen wird, müsste etwa Deutschland ca. 2,9 Mrd. Euro mehr zum EU-Budget beitragen und Frankreich 2,1 Mrd. Euro.13 Nettoempfängerländer würden geringere Transfers erhalten; diese machen beispielsweise in Polen 0,4% des BIP aus. Unter Berücksichtigung der fiskalischen Kosten wird die Bilanz für Großbritannien besser, jene für die EU27 aber schlechter. Im unwahrscheinlichen Fall, dass Großbritannien keinerlei Nettozahlungen mehr leistet, kommt Deutschland im WTO-Szenario auf einen Nettoeinkommensverlust von ca. 10 Mrd. Euro und die EU insgesamt von ca. 41 Mrd. Euro.

Für die EU machen die maximalen fiskalischen Kosten des Brexits ca. 29% der maximalen Gesamtkosten aus. Aber es gibt in dieser Hinsicht ein hohes Ausmaß an Heterogenität: Länder im unteren Teil der Tabelle 3 sollten stärker an der Beibehaltung fiskalischer Transfers aus Großbritannien interessiert sein als an einem neuen tiefen Freihandelsabkommen; Länder im oberen Bereich haben die entgegengesetzten Interessen.

Schlussfolgerungen

Die Ergebnisse führen zu folgenden wirtschaftspolitischen Schlussfolgerungen.

  • Durch den Brexit – egal wie er nun endgültig ausgestaltet werden sollte – verlieren alle gegenwärtigen EU-Mitglieder an Einkommen. Auch ein tiefes Freihandelsabkommen ändert die Vorzeichen nicht; auch dann nicht, wenn Großbritannien keinerlei Nettozahlungen an Brüssel mehr leistet.
  • Klassische Freihandelsabkommen haben gegenüber der EU-Zollunion den Nachteil, dass für die Gewährung von Zollpräferenzen der Warenursprung nachgewiesen werden muss – eine bürokratische und teure Hürde. Dazu kommt eine weniger weitreichende Konvergenz bei der Regulierung, für die ein gemeinsamer institutioneller Rahmen unerlässlich ist. Daher kommt es auch bei einem solchen weichen Brexit (unser Szenario 2, Freihandelsabkommen) zu Verlusten. Der wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie hat daher kürzlich empfohlen, auf Ursprungsnachweise zu verzichten, wenn die Zölle der EU27 und Großbritanniens gegenüber Drittstaaten ähnlich sind.14 Damit können die negativen Folgen für die filigranen Wertschöpfungsketten abgemildert und die makroökonomischen Kosten minimiert werden.

Durch den Brexit kann es zu erheblichen Produktionsverlagerungen von Großbritannien nach Europa und hier vor allem nach Deutschland kommen. Aber auch durch sie wird es nicht möglich sein, den wirtschaftlichen Schaden des Brexits in einen Vorteil zu verkehren. Wertschöpfungsgewinnen von bis zu 300 Mio. Euro stehen deutlich höhere Verluste in anderen Sektoren gegenüber. Verlagerungen führen tendenziell zu höheren Kosten, was nachfragende Sektoren belastet.

Die makroökonomischen Belastungen durch den Brexit unterscheiden sich stark zwischen den EU-Mitgliedern. Länder, die kulturell oder geografisch näher an Großbritannien liegen, haben relativ höhere Verluste zu tragen. Relativ gesehen sind für diese Länder die fiskalischen Konsequenzen – höhere Nettobeiträge nach Brüssel – wenig bedeutend; für die Mitgliedstaaten im Südosten der EU gilt das Gegenteil. Die Länder haben also unterschiedliche Präferenzen in Hinblick auf die Schwerpunktsetzung bei den Brexit-Gesprächen. Für die EU wird es eine erhebliche Herausforderung sein, gemeinsame Positionen durchzuhalten.

Bei den Berechnungen in der gesamten Brexit-Literatur gibt es große Unsicherheiten. Gleichwohl aber gilt, dass die geschätzten Effekte den wahren langfristigen Schaden des Brexits eher unterschätzen, weil dynamische Anpassungsprozesse nicht modelliert, und auch andere Kanäle – z.B. durch Migration oder Technologietransfer – nicht betrachtet werden.

  • 1 Aus Gründen der sprachlichen Vereinfachung steht die Bezeichnung „Großbritannien“ im Folgenden für das gesamte Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland.
  • 2 M. Emerson, M. Busse, M. Di Salvo, D. Gros, J. Pelkmans: An Assessment of the Economic Impact of Brexit on the EU 27, In-Depth Study for the EU Parliament, IP/A/IMCO/2016-13, 2017, http://www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/STUD/2017/595374/IPOL_STU(2017)595374_EN.pdf (9.8.2017).
  • 3 G. Felbermayr, J. Gröschl, I. Heiland, M. Braml, M. Steininger: Ökonomische Effekte eines Brexit auf die deutsche und europäische Wirtschaft, ifo-Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie (BMWi), 1.6.2017, http://www.cesifo-group.de/DocDL/Studie-2017-Felbermayr-etal-Brexit-79843.pdf (9.8.2017).
  • 4 Insgesamt entfallen auf die Maschinenbausektoren (SITC 70-77) Exporte von 17,2 Mrd. Euro.
  • 5 Hierfür verwenden wir Daten, die im World-Input-Output-Database-Projekt zur Verfügung gestellt werden; vgl. http://www.wiod.org (9.8.2017).
  • 6 K. Head, T. Mayer: Gravity Equations: Workhorse, Toolkit, and Cookbook, in: G. Gopinath, E. Helpman, K. Rogoff (Hrsg.): Handbook of International Economics, Bd. 4, 2014, S. 131-195.
  • 7 Zu Details der Schätzung vgl. G. Felbermayr, J. Gröschl, I. Heiland, M. Braml, M. Steininger, a.a.O.
  • 8 Wir unterscheiden grob zwischen Waren und Dienstleistungen; in G. Felbermayr, J. Gröschl, I. Heiland, M. Braml, M. Steininger, a.a.O., werden detaillierte sektorale Effekte berechnet, die aber die Eindrücke aus der aggregierten Betrachtung bestätigen. Diese werden in der Simulationsrechnung verwendet.
  • 9 Diese Steigerungsraten sind mit der Formel [exp(b)-1]x100% aus den Schätzkoeffizienten b ermittelt.
  • 10 R. Aichele, G. Felbermayr, I. Heiland: Going Deep: The Trade and Welfare Effects of TTIP Revised, ifo Working Paper, Nr. 219, 2016.
  • 11 Wie bei J. Eaton, S. Kortum: Technology, Geography, and Trade, in: Econometrica, 70. Jg. (2002), H. 5, S. 1741-1779; und L. Caliendo, F. Parro: Estimates of the Trade and Welfare Effects of NAFTA, in: Review of Economic Studies, 82. Jg. (2015), H. 1, S. 1-44. Details werden in G. Felbermayr, J. Gröschl, I. Heiland, M. Braml, M. Steininger, a.a.O., erklärt. Eine ausgezeichnete Beschreibung „neuer“ quantitativer Handelsmodelle findet sich in B. Jung, W. Kohler: Wie vorteilhaft ist internationaler Handel? Ein neuer Ansatz zur Vermessung, in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik, 18. Jg. (2017), H. 1, S. 32-55.
  • 12 Europäische Kommission.
  • 13 C. Fuest, D. Stöhlker: Brexit: Budgetary Issues, ifo Institut, mimeo 2017.
  • 14 Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi): Brief des wissenschaftlichen Beirats zur Neugestaltung der wirtschaftlichen Beziehungen mit Großbritannien, 28.4.2017, http://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Publikationen/Ministerium/Veroeffentlichung-Wissenschaftlicher-Beirat/brief-neugestaltung-wirtschaftsbeziehung-mit-grossbritannien.html (9.8.2017).
 

Post-supranationale Ordnungsstrukturen für die britischen Wirtschaftsbeziehungen zur EU nach dem Brexit

Der Brexit hat bedauerlicherweise das Potenzial zu trennen, was – nicht allein, aber gerade auch – aus ökonomischer Perspektive zusammengehört, weil es insbesondere seit dem Beitritt Großbritanniens1 zur damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft in den vergangenen vier Jahrzehnten immer mehr zusammengewachsen ist. Die sehr engen wirtschaftlichen Verbindungen zwischen Großbritannien und der EU27 sowie die daraus erwachsenden beiderseitigen Wohlfahrtsgewinne sind denn auch aus gegebenem Anlass seit dem europäischen Sommeralbtraum 2016 – wenig überraschend, aber gleichwohl zu Recht – verschiedentlich hervorgehoben worden. Erhebliche wohlfahrtsfördernde Effekte ergeben sich dabei sowohl aus dem in jeder Hinsicht beachtlichen Handelsvolumen im Bereich des Waren- und Dienstleistungsverkehrs als auch aufgrund der ebenfalls bedeutenden wechselseitigen Investitionstätigkeit.2

Aber an dieser Stelle – und zu diesem Zeitpunkt – sei natürlich auch noch einmal in Erinnerung gerufen, dass die Erhaltung und Intensivierung grenzüberschreitender Wirtschaftsaktivitäten regelmäßig nicht ausschließlich auf ökonomischen Gesichtspunkten beruht. Vielmehr spielen häufig gerade auch übergreifende außen- und sicherheitspolitische Überlegungen und weitere nichtökonomische Erwägungen eine Rolle, die in ihrer Gesamtheit auf die friedensstabilisierende Ordnungsfunktion zwischenstaatlicher Handelsbeziehungen abzielen. So hat bekanntermaßen bereits Immanuel Kant in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“ aus dem Jahre 1795 auf die politischen Stabilisierungseffekte grenzüberschreitender Wirtschaftsbeziehungen hingewiesen.3 Und nicht zuletzt die Ursprünge und Motive der europäischen Integrationsprozesse nach dem Zweiten Weltkrieg bilden in diesem Zusammenhang zweifelsohne ein eindrückliches und erfolgreiches Praxisbeispiel.

In der ersten Verhandlungsphase, die am 19. Juni 2017 offiziell eingeleitet worden ist und – nach der vergleichsweise optimistischen Vorstellung der Verhandlungspartner – bereits Mitte Oktober 2017 abgeschlossen sein soll, stehen zunächst andere Themen auf der Tagesordnung. Hierbei handelt es sich zum einen um offensichtlich überragend wichtige Fragestellungen wie den zukünftigen Status der derzeit in Großbritannien lebenden Unionsbürger, die entsprechende Rechtsstellung von britischen Staatsangehörigen in der EU27 sowie die Ausgestaltung der neuen EU-Außengrenze auf der irischen Insel.4 Zum anderen geht es derzeit um die aus juristischer Perspektive gewiss interessante und auch politisch ausgesprochen sensible Frage nach der Höhe der Brexit-Bill, also den durch den Austritt bedingten bzw. trotz desselben temporär fortbestehenden finanziellen Verpflichtungen Großbritanniens gegenüber der EU.5 Diese Frage weist allerdings im Endeffekt – und insbesondere im Vergleich zum Handels- und Investitionsvolumen – doch wohl eher eine primär symbolische Bedeutung auf.

Die Priorisierung anderer Themenbereiche ist im Prinzip sinnvoll und in gewisser Weise auch durch Art. 50 Abs. 2 EUV vorgegeben. Die gegenwärtig sehr engen und auf beiden Seiten wohlfahrtsfördernden, ökonomischen Verbindungen zeigen aber in aller Deutlichkeit, dass zumindest in einer zweiten Verhandlungsphase die gemeinsame Suche nach normativen Ordnungsstrukturen für die zukünftigen Wirtschaftsbeziehungen zwischen Großbritannien und der EU zu den zentralen Herausforderungen des Brexits gehören. Verbunden damit ist auch die Entwicklung von gleichsam post-supranationalen – wahrscheinlich wie bereits vor dem Beitritt Großbritanniens 1973, exklusiv völkerrechtlichen – Wirtschaftsbeziehungen.

Auffangfunktion des WTO-Rechts: Nutzen und Herausforderungen

Sollte diese gemeinsame Suche nach spezifischen normativen Ordnungsstrukturen nicht von Erfolg gekrönt sein – und ein solches Szenario kann ja derzeit mitnichten vollständig ausgeschlossen werden – hätte dies natürlich keinesfalls zur Folge, dass sich die britischen Handelsbeziehungen zur EU nach Vollzug des Brexits im März 2019 in einem allein durch einzelstaatliche Souveränität bzw. supranationale Autonomie determinierten Nicht-Rechtsraum weiter- bzw. wohl eher zurückentwickeln würden. Namentlich für die Bereiche des Waren- und Dienstleistungsverkehrs käme hier dem Rechtsregime der Welthandelsorganisation (WTO), deren Mitglieder sowohl die EU und ihre Mitgliedstaaten als auch Großbritannien sind, eine normative Auffangfunktion zu. Dass eine solche Situation auch keineswegs eine Katastrophe im engeren Sinne für die britischen Handelsbeziehungen zur EU darstellen würde, verdeutlicht bereits der Umstand, dass das GATT/WTO-Recht seit Jahrzehnten den maßgeblichen Rechtsrahmen für die ebenfalls ausgesprochen engen Wirtschaftsverbindungen zwischen der EU und so zentralen Handelspartnern wie den USA und Japan bildet.

Dennoch wäre ein solches wirtschaftsvölkerrechtliches Szenario aus der Perspektive der betroffenen Wirtschaftsakteure in der EU und in Großbritannien zweifelsohne nicht einmal annährend optimal. Dieser Befund sei hier kurz anhand von drei wesentlichen Gesichtspunkten illustriert:

  1. Zunächst ist das multilaterale und damit potenziell global anwendbare WTO-Recht gleichsam naturgemäß durch einen deutlich weniger ambitionierten wirtschaftlichen Liberalisierungsansatz geprägt als das an einen regional begrenzten, engen Integrationsverbund von politisch und ökonomisch weitgehend homogenen Staaten anknüpfende Rechtsregime des EU-Binnenmarktes. Zwar zielen auch die Regelungsstrukturen der WTO im Prinzip unter anderem auf eine möglichst weitgehende Offenheit der Märkte ihrer Mitglieder sowie auf die Gewährleistung fairer Wettbewerbsbedingungen zwischen inländischen und ausländischen Waren sowie Dienstleistungen auf der Grundlage des Prinzips der Nichtdiskriminierung ab.6 Gleichwohl statuieren sie beispielsweise weder einen vollständigen Verzicht auf Zölle im Bereich des grenzüberschreitenden Warenverkehrs noch eine auch nur im Ansatz mit dem EU-Binnenmarkt vergleichbare Dienstleistungsfreiheit. Vor allem auch hinsichtlich der Arbeitnehmerfreizügigkeit beziehen sich die insoweit ausgesprochen restriktiv ausgestalteten Regelungsvorgaben des WTO-Dienstleistungsabkommens (GATS) ausschließlich auf den temporären Aufenthalt natürlicher Personen in Akzessorietät zu einer spezifischen grenzüberschreitenden Dienstleistungserbringung und sind überdies im Hinblick auf die von den WTO-Mitgliedern diesbezüglich eingegangenen spezifischen Verpflichtungen in der Praxis bislang weit hinter den optimistischen Erwartungen vor allem der Entwicklungsländer zurückgeblieben.7
  2. Weiterhin spiegelt sich die Wahrnehmung einer unter ökonomischen Wohlfahrtsgesichtspunkten suboptimalen Ordnungsstruktur des WTO-Rechts als alleinigem Ordnungsrahmen für den internationalen Waren- und Dienstleistungsverkehr nicht zuletzt in dem Umstand wider, dass sich die EU in jüngerer Zeit intensiv – und teils wahrscheinlich erfolgreich, teils jedenfalls derzeit weniger erfolgreich – um den Abschluss umfassender Freihandelsabkommen mit wesentlichen Handelspartnern wie Kanada, Japan und den USA bemüht.
  3. Und schließlich ist zu berücksichtigen, dass das Auffangregime der WTO-Rechtsordnung in Bezug auf seine Anwendung – nicht allein, aber gerade auch – auf die britischen Handelsbeziehungen zur EU für eine gegebenenfalls sogar längere Übergangszeit nach dem Brexit mit möglicherweise erheblichen Rechtsunsicherheiten und daraus resultierenden erhöhten Transaktionskosten für die betroffenen Wirtschaftssubjekte einhergeht. Zwar ist und bleibt Großbritannien selbstverständlich ein eigenständiges Mitglied der WTO. Es muss jedoch als Folge des Brexits ab 2019 in vielerlei Hinsicht seine Position als eigenständiger Akteur in dieser Organisation erst noch entwickeln bzw. präzisieren. Dies gilt insbesondere für das Vorlegen neuer autonomer Zolllisten hinsichtlich der Einfuhr von Waren (Art. II GATT) sowie das Aufstellen eigenständiger Listen zu Ausnahmen von der Meistbegünstigungsverpflichtung (Art. II:2 GATS) und hinsichtlich der spezifischen Verpflichtungen zur Inländergleichbehandlung und dem Marktzugang (Art. XVI ff. GATS) im Bereich des Dienstleistungshandels, da es sich bei den derzeitig noch auf Großbritannien anwendbaren entsprechenden Listen um solche der EU und ihrer Mitgliedstaaten als Einheit handelt. Dass mit diesen nach dem Brexit also auch insoweit notwendig werdenden „Emanzipationsprozessen“ WTO-rechtlich weitgehendes Neuland betreten wird und vor allem das hierbei anzuwendende Verfahren (einschließlich möglicher Mitspracherechte der anderen 163 WTO-Mitglieder) gegenwärtig noch alles andere als klar erscheint,8 sind für die betroffenen Wirtschaftssubjekte – vorsichtig ausgedrückt – keine uneingeschränkt positiven Nachrichten und Aussichten.

Steuerungsfunktion des WTO-Rechts für zukünftige Wirtschaftsintegrationsabkommen

Das Rechtsregime der WTO bildet jedoch nicht nur eine – wenngleich suboptimale – Auffangordnung. Ihm kommt überdies eine Steuerungsfunktion hinsichtlich der inhaltlichen Ausgestaltung zukünftiger regionaler Wirtschaftsintegrationsabkommen zwischen der EU und Großbritannien zu. Die WTO-Rechtsordnung ist prinzipiell vom Nichtdiskriminierungsgrundsatz in den Handelsbeziehungen aller ihrer Mitglieder geprägt. Aufgrund der Verpflichtung zur Meistbegünstigung gemäß Art. I:1 GATT sowie unter anderem Art. II GATS müssen daher alle einem WTO-Mitglied gewährten Handelsvorteile grundsätzlich auch hinsichtlich der Waren und Dienstleistungen aus allen anderen Mitgliedern gewährt werden. Die exklusive Anwendung privilegierter Handelsregelungen im Verhältnis einiger weniger WTO-Mitglieder zueinander – ein entsprechendes Beispiel bildet der EU-Binnenmarkt – ist allerdings ausnahmsweise zulässig, wenn die Voraussetzungen für regionale Integrationsabkommen, beispielsweise in Gestalt von Freihandelszonen und Zollunionen, im Bereich des Waren- bzw. Dienstleistungshandels gemäß Art. XXIV GATT und Art. V GATS erfüllt sind.9

Diese einschränkenden Vorgaben gelten auch für den Abschluss von präferenziellen britischen Handelsbeziehungen zur EU als einer vieldiskutierten – und in der Tat beachtenswerten – Option für die zukünftige völkerrechtliche Ausgestaltung ihrer Handelsbeziehungen. Zwei Aspekte erscheinen dabei vor dem Hintergrund des derzeitigen Diskussionsstandes besonders hervorhebenswert:

  • Zum einen stellt sich die gemäß Art. XXIV:5 lit. a GATT prinzipiell mögliche Bildung einer Zollunion zwischen Großbritannien und der EU für Großbritannien als wenig attraktiv dar, weil diese Regelungsoption, wie das Beispiel der Türkei verdeutlicht,10 aufgrund der Einführung eines einheitlichen Außenzolls für Waren aus Drittstaaten zumindest de facto eine autonome völkervertragsrechtliche Außenhandelspolitik weitgehend unmöglich macht.
  • Zum anderen sind Freihandelsabkommen, die einen von Großbritannien gewünschten präferenziellen Dienstleistungshandel vorsehen, nur dann von der Meistbegünstigungsverpflichtung ausgenommen, wenn sie gemäß Art. V:1 lit a GATS einen „beträchtlichen sektoralen Geltungsbereich“ aufweisen und damit auch die Dienstleistungserbringung im Wege der Präsenz natürlicher Personen im Sinne des Art. I:2 lit. d GATS im jeweiligen Erbringungsstaat – also mit anderen Worten eine jedenfalls begrenzte Arbeitnehmerfreizügigkeit – zumindest nicht von vornherein ausgeschlossen ist.11

Investitionsschutz post Brexit: großlöchriger Flickenteppich und Basissicherung

Grundsätzlich kommt dem WTO-Recht im Hinblick auf den Schutz ausländischer Investitionen im Verhältnis der EU zu Großbritannien weder eine Auffang- noch eine Steuerungsfunktion zu. Nach dem Brexit ist hier zum einen eine Reihe von bilateralen Investitionsabkommen von Relevanz, die Großbritannien vor allem in den 1990er Jahren mit nunmehr „jüngeren“ EU-Mitgliedstaaten wie Bulgarien, Kroatien, der Tschechischen Republik, Estland und Rumänien abgeschlossen hat. In Bezug auf die „älteren“ EU-Mitglieder – sowie für britische Investitionen in denselben – bildet namentlich der auch auf Unternehmen anwendbare menschenrechtliche Eigentumsschutz nach Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls der Europäischen Menschenrechtskonvention eine Basissicherung für Investoren,12 die allerdings in vielerlei Hinsicht hinter den Rechtsgarantien in spezielleren Investitionsabkommen zurückbleibt.

Aus der Perspektive der betroffenen Wirtschaftssubjekte wäre daher ein Freihandelsabkommen zwischen Großbritannien und der EU mit umfassenderen, modernen Investitionsschutzregelungen, wie beispielsweise in dem Ende Oktober 2016 unterzeichneten CETA vorgesehen, als gemischtes Abkommen unter Beteiligung der EU-Mitgliedstaaten13 sehr wünschenswert.

Was tun?

Nach alledem scheint ein umfassenderes Freihandelsabkommen eine adäquate Option hinsichtlich der post-supranationalen Ordnungsstrukturen für die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Großbritannien und der EU nach dem Brexit. Selbst wenn ein solcher völkerrechtlicher Vertrag, den aktuellen Vorstellungen der britischen Regierung entsprechend, aller Voraussicht nach keine umfassende und mit den Regelungen des EU-Binnenmarkts vergleichbare Arbeitnehmerfreizügigkeit statuieren wird. Natürlich gibt es auf Seiten der EU Vorbehalte und Bedenken gegen eine solche Lösung. Sie sind jedoch bei übergreifender Betrachtung im Ergebnis nicht überzeugend. Insbesondere der Furcht vor Nachahmern und daraus resultierenden Desintegrationstendenzen darf keine so hervorgehobene Bedeutung zukommen, dass sie in maßgeblicher Weise das Handeln der EU bestimmt. Der europäische Integrationsprozess beruhte auf Seiten der hieran mitwirkenden Staaten schon immer auf Verantwortungsübernahme und Freiwilligkeit; und ihre Wesensgestalt als freiwillige Verantwortungsgemeinschaft kann die EU auch zukünftig nicht verändern, ohne eine grundlegende sowie grundlegend negative und erst recht desintegrierend wirkende Gestaltwandlung zu vollziehen.14

Gleiches gilt für die unausgesprochene – aber dennoch wohl nicht gänzlich einflusslose – Vorstellung einer gebotenen „Bestrafung“ Großbritanniens; sei es zur Generierung von Abschreckungseffekten oder auch nur zur Begleichung vermeintlicher alter und als noch offen wahrgenommener „Rechnungen“. Insoweit sei nur aus rechtlicher Perspektive in Erinnerung gerufen, dass die EU-Rechtsordnung seit dem Vertrag von Lissabon in Art. 8 EUV – und damit an vergleichsweise prominenter Stelle – eine primärrechtliche Selbstverpflichtung zur aktiven Entwicklung guter nachbarschaftlicher Beziehungen zu den Ländern in der EU-Nachbarschaft statuiert. Dieser Verhaltensvorgabe kommt nicht zuletzt auch bei den Austrittsverhandlungen gemäß Art. 50 Abs. 2 EUV im Rahmen der Suche nach einer adäquaten Ausgestaltung der zukünftigen Beziehungen zum austretenden Staat in dem Sinne eine Bedeutung zu,15 dass zumindest eine von Gleichgültigkeit oder gar von gewissen Pönalisierungsüberlegungen geprägte Haltung der EU nicht nur politisch inopportun, sondern auch unionsrechtlich unzulässig wäre. Obgleich es angesichts des manchmal eher erratischen Verhaltens einiger derzeit (noch) aktiver britischer Politiker verständlicherweise nicht ganz leicht fallen mag und auch wenn die EU aktuell die „besseren Karten“ in den Brexit-Verhandlungen zu haben scheint,16 sollte die Union – sobald Einigkeit über die zentralen Fragestellungen in der ersten Verhandlungsphase erzielt worden ist – daher auch im wohlverstandenen Eigeninteresse auf Großbritannien zugehen – mindestens einen Schritt weiter und mit etwas offeneren Armen als dies bislang geschehen ist.

  • 1 Aus Gründen der sprachlichen Vereinfachung steht die Bezeichnung „Großbritannien“ im Folgenden für das gesamte Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland.
  • 2 Zu aktuelleren Zahlen im Einzelnen vgl. z.B. M. Emerson et al.: An Assessment of the Economic Impact of Brexit on the EU27, Study for the IMCO Committee of the European Parliament, März 2017, S. 10 ff.; A. Belke, D. Gros: The Economic Impact of Brexit: Evidence from Modelling Free Trade Agreements, Ruhr Economic Papers, Nr. 700, Juni 2017, S. 4 ff.
  • 3 I. Kant: Zum ewigen Frieden, Ausgabe Reclam jun., Stuttgart 1984, S. 33.
  • 4 Zu diesen Themenbereichen vgl. z.B. A. Fernández Tomás, D. López Garrido: The Impact and Consequences of Brexit on Acquired Rights of EU Citizens living in the UK and British Citizens living in the EU-27, Study for the AFCO Committee of the European Parliament, April 2017, S. 9 ff.; F. Kainer: Das unterschätzte Problem: Auswirkungen des Brexit auf Nordirland, in: M. Kramme, C. Baldus, M. Schmidt-Kessel (Hrsg.): Brexit und die juristischen Folgen, Baden-Baden 2017, S. 339 ff.
  • 5 Hierzu u.a. A. Barker: The € 60 billion Brexit bill – How to disentangle Britain from the EU budget, Februar 2017, http://www.cer.eu/sites/default/files/pb_barker_brexit_bill_3feb17.pdf (8.8.2017).
  • 6 Hierzu sowie allgemein und eingehender zu den materiellen Regelungsstrukturen der WTO vgl. für den Bereich des Warenhandels z.B. C. Tietje: WTO und Recht des Warenhandels, in: ders. (Hrsg.): Internationales Wirtschaftsrecht, 2. Aufl., 2015, § 3, Rn. 42 ff.; hinsichtlich des grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehrs siehe u.a. M. Krajewski: Wirtschaftsvölkerrecht, 4. Aufl., 2017, Rn. 435 ff.
  • 7 Hierzu im Einzelnen C. Tietje, K. Nowrot: Stand und Perspektiven der Liberalisierung der Regelungen zum temporären Aufenthalt natürlicher ausländischer Personen nach dem Allgemeinen Dienstleistungsabkommen (GATS) der WTO, in: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik, 27. Jg. (2007), H. 7, S. 213 ff.
  • 8 Eingehender hierzu z.B. C. Tietje: Lost in Brexit: Rechtliche Rahmenbedingungen der Austrittsverhandlungen, in: ifo Schnelldienst, 70. Jg. (2017), H. 11, S. 19 (21 f.); L. Bartels: The UK’s Status in the WTO after Brexit, 23.9.2016, https://www.peacepalacelibrary.nl/ebooks/files/407396411.pdf (8.8.2017); M. Molinuevo: Brexit – Trade Governance and Legal Implications for Third Countries, World Bank Group, Policy Research Working Paper, Nr. 8010, Washington DC, März 2017, S. 9 ff.
  • 9 Im Einzelnen hierzu sowie in Bezug auf weitere einschlägige Rechtsgrundlagen K. Nowrot: Steuerungssubjekte und -mechanismen im Internationalen Wirtschaftsrecht (einschließlich regionale Wirtschaftsintegration), in: C. Tietje (Hrsg.): Internationales Wirtschaftsrecht, 2. Aufl., 2015, § 2, Rn. 133 ff.
  • 10 Vgl. u.a. I. Gillson et al.: Evaluation of the EU-Turkey Customs Union, Report Nr. 85830-TR, März 2014, S. 24 ff.
  • 11 Allgemein K. Nowrot: Internationales Wirtschaftsrecht ..., a.a.O., § 2, Rn. 142; speziell im vorliegenden Kontext auch bereits C. Tietje: Lost in Brexit ..., a.a.O., S. 21.
  • 12 Eingehender z.B. C. Grabenwarter, K. Pabel: Europäische Menschenrechtskonvention, 6. Aufl., 2016, S. 596 ff.
  • 13 Zu diesem Erfordernis für den Fall umfassender Investitionsschutzregelungen Europäischer Gerichtshof: Gutachten 2/15, vom 16.3.2017, Rn. 78 ff., 225 ff., 285 ff.
  • 14 Vgl. zu dieser Wahrnehmung auch jüngst M. Kotzur, M. Waßmuth: Do you „regrexit“? Die grundsätzliche Möglichkeit des (unilateralen) Widerrufs einer Austrittserklärung nach Art. 50 EUV, in: Juristen-Zeitung, 72. Jg. (2017), H. 10, S. 491.
  • 15 Allgemein z.B. P. Szczekalla: Art. 50 EUV, in: M. Pechstein, C. Nowak, U. Häde (Hrsg.): Frankfurter Kommentar zu EUV, GRC und AEUV, Bd. I, 2017, Rn. 24 m.w.N.; speziell im Zusammenhang mit dem Brexit überdies P.-C. Müller-Graff: Brexit – Die unionsrechtliche Dimension, in: M. Kramme, C. Baldus, M. Schmidt-Kessel (Hrsg.): Brexit und die juristischen Folgen, Baden-Baden 2017, S. 49.
  • 16 H.-B. Schäfer, A. Radwan: Brexit Poker – Wer hat die besseren Karten in den Austrittsverhandlungen?, in: Wirtschaftsdienst, 96. Jg. (2016), H. 10, S. 763 ff., https://archiv.wirtschaftsdienst.eu/jahr/2016/10/brexit-poker-wer-hat-die-besseren-karten-in-den-austrittsverhandlungen/ (8.8.2017); zur Unangemessenheit eines solchen Denkens im vorliegenden Kontext jedoch bereits M. Kotzur, M. Waßmuth, a.a.O., S. 496.

Der Brexit: ein großes Spiel

Der Brexit ist vor allem eines: das Ergebnis eines großen Spiels, in dem weder die europäische Integration, noch die Interessen der Gemeinschaft im Mittelpunkt stehen. Und wie in jedem Spiel gibt es auch hier Gewinner und Verlierer, nur wird es dieses Mal von Letzteren weitaus mehr geben, als von Ersteren. So ist weitgehend unumstritten, dass die Wirtschaft der verbleibenden 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU), aber vor allem die Ökonomie Großbritanniens, unter dem Brexit leiden wird. Die derzeitige Abwanderung von Unternehmen aus Großbritannien (nicht nur aus dem Finanzsektor),1 der Wertverlust des britischen Pfunds, die schwächer werdende Wirtschaftsleistung, Inflation und sinkende Reallöhne dürften hier nur den Anfang machen. Viel weitreichender könnten sich allerdings die politischen Auswirkungen herausstellen, wenn man daran denkt, dass der Brexit „Schule machen“ und andere Staaten zu Austritts-Referenden bewegen könnte. Die sozialen Auswirkungen können wir schon jetzt betrachten: So gibt es seit dem Brexit-Votum deutlich mehr fremdenfeindlich motivierte Straftaten in England und Wales; immer mehr Arbeitnehmer ziehen es vor, Großbritannien zu verlassen und in einen EU-Staat überzusiedeln; und auch die Zahl der Briten, die etwa die irische oder deutsche Staatsangehörigkeit annehmen möchte, ist seit der Brexit-Entscheidung sprunghaft angestiegen. In Deutschland sind im Jahr 2016 beim Bundesverwaltungsamt 760 Anträge auf Einbürgerung aus Großbritannien eingegangen; der überwiegende Teil davon nach dem Brexit-Referendum. In der Zeit von Januar bis Mai 2017 gingen bereits 833 Anträge ein. Im Vergleich hierzu waren es im gesamten Jahr 2015 lediglich 63 und 2014 nur 46 Anträge.2

Das Interessenparadigma der Integration

Dass es überhaupt so weit kommen konnte, liegt aber weder allein an der von jeher EU-skeptischen Haltung Großbritanniens, noch an den Krisen, mit denen sich die EU in den letzten Jahren konfrontiert sieht. Viel eher muss der Brexit als das Ergebnis eines langjährigen Integrationsmodus gesehen werden, dessen Brüchigkeit sowohl im Vorfeld des Brexit-Referendums, als auch im derzeitigen Scheidungsprozess zu beobachten ist. Dieser Modus der EU-Integration lässt nur wenig Raum für gemeinschaftliche Problemlösungen und setzt stattdessen voll und ganz auf die Interessen der beteiligten Akteure. Doch wissen wir spätestens seit Rousseau, dass Gesamtwille und Gemeinwille zwei unterschiedliche Dinge sind, dass die Summe der Interessen also noch lange nicht der Gemeinschaft zugutekommen muss. Hier und nicht in irgendwelchen eilig ausgerufenen institutionellen Reformen – in dem Ausbau direktdemokratischer Elemente oder dem Appell an eine europäische Solidarität etwa – muss die EU nachbessern, wenn sie den Brexit weitgehend unbeschadet überstehen will und die Aktivierung des Art. 50 EUV eine Singularität bleiben soll.

Wodurch zeichnet sich also der derzeitige Modus der Integration aus? Diese Frage ist in der Politikwissenschaft recht unterschiedlich beantwortet worden.3 So herrscht kaum Einigkeit darüber, auf welche Akteure und Institutionen in der EU entscheidende Impulse für den Integrationsprozess zurückgehen. Ebenso gibt es Unstimmigkeit in der Frage, bis zu welchem Grad die Mitgliedstaaten bereit sind, ihre Souveränität an die Gemeinschaft abzugeben. Wohl aber besteht ein weitgehender Konsens darüber, dass sowohl die genuin europäischen Akteure (insbesondere die Europäische Kommission), genauso wie auch die mitgliedstaatlichen Akteure (etwa im Europäischen Rat) und auch transnationale Akteure (z.B. Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften) in einem Wettbewerb um die Durchsetzung ihrer jeweiligen Interessen stehen und es ebendiese Interessen sind, die den Integrationsprozess tragen. Mit anderen Worten, auch wenn umstritten ist, wer genau sich in dem Wettbewerb der Interessendurchsetzung behaupten kann, so sieht ein Großteil der Integrationstheorie die Interessenverfolgung doch als zentrales Moment für den Fortgang der europäischen Integration.

Weichenstellung in den Anfangsjahren der europäischen Integration

Diese Wahrnehmung hat allerdings nicht nur empirisch einiges für sich,4 sondern kann auch auf eine Grundentscheidung des noch jungen Integrationsprozesses zurückgeführt werden, nämlich nicht einem föderalistischen – oder zumindest auf einer Verfassung gründenden – Modell der Integration zu folgen, sondern das Interesse einer Vielzahl von Akteuren am Integrationsprozess zu wecken. Zwar mangelte es in den frühen Jahren der Integration nicht an weitreichenden föderalistischen Vorschlägen, wie denen von Altiero Spinelli und Ernesto Rossi5 oder Carl Joachim Friedrich.6 Was fehlte, war vielmehr die politische Zustimmung oder Entschlossenheit, einen so bedeutenden Schritt auch tatsächlich zu gehen und den Nationalstaat in eine umfangreiche institutionelle und politische Architektur einzubetten, die eine gemeinsame Verfassung und die europäischen Bürger in den Mittelpunkt gestellt hätte. So hatte die Schuman-Erklärung vom 9. Mai 1950 zwar noch für ein politisches Projekt geworben, wurde aber schon bald, mit dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) und der Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG) im Jahr 1954, überholt. Dies galt umso mehr, als sich parallel ein eher ökonomischer Integrationsansatz durchsetzen konnte, der sich ab 1957 in der rasch wachsenden Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) zu manifestieren begann.7 So war schließlich auch eher die EWG und nicht so sehr die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS, 1952) eine „practical community of interests“8, die als solche die Weichen für die Gründung der EU und ihr Binnenmarktprogramm stellte.

Der entscheidende Vorteil, der sich aus dieser Entscheidung ergab, den Integrationsprozess primär auf dem Rücken der Wirtschaft weiter zu tragen, war also, dass damit die in den 1950er Jahren immer deutlicher zu Tage tretenden politischen Differenzen umgangen werden konnten, die den jungen Integrationsprozess an den Rand des Scheiterns gebracht hatten. Zugleich wurde damit aber auch ein Weg eingeschlagen, bei dem über das Versprechen ökonomischer Gewinne Zustimmung gesichert wurde. Und eben dieser Modus der Integration war es, der zum Prinzip erhoben, über die folgenden Jahrzehnte fortgeführt und zum „Motor der Integration“ gemacht wurde.

Auf der Suche nach dem „true national interest“ – oder wie es zum Brexit kam

Auch wenn sich dieser durch Homines oeconomici getragene Integrationsansatz als wirksam erwiesen hat (jedenfalls im Sinne einer negativen Integration, die den Abbau von Handelsbeschränkungen zum Ziel hat), so führte er doch auch zu einer Verstetigung von Erwartungen an die EU, die diese auf Dauer nicht erfüllen kann. Dies gilt gerade in Zeiten von Krisen. Denn Krisen sind in der Regel Situationen, in denen keine kurz- und mittelfristigen Gewinne in Aussicht stehen und selbst die Bewältigung der Krise in aller Regel nicht dem unmittelbaren Interesse der Beteiligten dient.9 So muss das mangelnde Krisenmanagement der EU vor allem als Ausdruck und Folge ihres spezifischen Integrationsansatzes gesehen werden. Dieser ist an seine Grenzen gelangt und lässt mit seinem Interessenparadigma – also dem Leitbild, dass Integration es den beteiligten Akteuren regelmäßig möglich machen muss, eigene Interessen zu verwirklichen – die EU jetzt von einer Krise in die nächste stolpern.

Im Prozess, der zum Brexit-Votum geführt hat, aber auch in den derzeitigen Verhandlungen zwischen der EU und Großbritannien, wird jetzt offensichtlich, wie wenig zukunftsfähig das Interessenparadigma der Integration ist und wie es die gute Idee der europäischen Integration zu einem großen Spiel um den eigenen Vorteil gemacht hat. So war bereits die Entscheidung überhaupt auf den Art. 50 EUV zurückzugreifen wenig mehr als ein taktisches Manöver von David Cameron, um seine Wiederwahl als Premierminister zu sichern und überdies am Brüsseler Verhandlungstisch einen „better deal for Britain“ herauszuschlagen. Zumindest aus Letzterem machte Cameron in einer Rede im Januar 2013 kein Geheimnis: „The next Conservative manifesto in 2015 will ask for a mandate from the British people for a Conservative government to negotiate a new settlement with our European partners in the next parliament. It will be a relationship with the single market at its heart. And when we have negotiated that new settlement, we will give the British people a referendum with a very simple in or out choice. To stay in the EU on these new terms, or come out altogether. […] Of course Britain could make her own way in the world, outside the EU, if we chose to do so. So could any other member state. But the question we will have to ask ourselves is this: is that the very best future for our country? We will have to weigh carefully where our true national interest lies.“10

Ein europäisches Interesse gab es für Cameron und seine Kampagne nicht, nur das „true national interest“ – was immer dies auch sein mochte. Und tatsächlich ging das Kalkül zu Beginn auf: Bei der Unterhauswahl im Mai 2015 erreichte die konservative Partei unter Camerons Führung die absolute Mehrheit der Parlamentssitze und konnte alleine die neue Regierung bilden. Mit diesem Mandat ausgestattet reiste der britische Premierminister schließlich, im Februar 2016, auf den EU-Gipfel nach Brüssel, um dort Sozialleistungen und Kindergeldzahlungen für EU-Zuwanderer, die Bankenaufsicht und Kontrolle des britischen Finanzmarktes sowie das Mitspracherecht des Parlaments in London – kurz: den eigenen „special status in the EU“, wie Cameron11 es nannte – neu zu verhandeln.

Auch wenn der Deal am Ende des Gipfels inhaltlich nur sehr bescheiden ausfiel und vor allem eines war, nämlich ein fatales Signal für den weiteren Prozess und den Zustand der EU, so waren doch alle Beteiligten bemüht, das Ergebnis als Erfolg zu verkaufen. Kommissionspräsident, Jean-Claude Juncker, betonte etwa: „The deal we have agreed now is a fair one, a fair one for Britain, a fair one for the other Member States, a fair one for the European Union“.12 Die deutsche Bundeskanzlerin, Angela Merkel, sprach sogar von „a number of very interesting and valuable changes“13, die man erreichen konnte. Und die polnische Ministerpräsidentin Beata Szydło erklärte nicht nur, dass das Abkommen „good news for Europe“ sei, sondern betonte auch, dass „[w]e took care of the interests of the Polish people benefiting from social security in the Member States“14 – und dies obwohl die nun folgende Brexit-Kampagne von einer erschreckenden Feindseligkeit insbesondere gegenüber polnischen Migranten geprägt war, die bereits in Camerons Forderungen nach der Einschränkung von Sozialleistungen und Kindergeldzahlungen für EU-Zuwanderer vernehmbar war.

Nur Gewinner, keine Verlierer?

Schaut man sich diese politischen Verlautbarungen an, so musste man den Eindruck gewinnen, es hätte nur Gewinner und keine Verlierer nach dem Gipfel in Brüssel gegeben. Doch das Gegenteil war der Fall. Weder die EU noch die Mitgliedstaaten und vor allem nicht die EU-Bürger hatten durch den Kompromiss vom Februar 2016 gewonnen. Vor allem aber ging die spekulative Annahme nicht auf, die britische Regierung könne nun eine Mehrheit der Wähler davon überzeugen, bei dem Referendum am 23. Juni 2016 für einen Verbleib in der EU zu stimmen. Viel zu lange hatte man die EU bereits als bürokratisches Monster, Umverteilungsmaschine und Gefahr für die souveräne Selbstbestimmung Großbritanniens gegeißelt, als dass Camerons magerer Deal einen Unterschied hätte machen können. Am Ende hatte das Interessenparadigma – der „Motor der Integration“ – die EU in eine ihrer bisher schwersten Krisen manövriert.

In den derzeitigen Brexit-Verhandlungen hat sich dieses Bild weiter verfestigt. Nicht die gemeinsame europäische Politik, die sich an ihren Grundwerten und Zielvorstellungen in Art. 2 EUV orientiert, also nicht das Verbindende steht hier im Vordergrund, sondern die Durchsetzung von Eigeninteressen. Die EU ist dabei in eine Position gedrängt worden, in der sie den Austritt aus der EU mit möglichst hohen Kosten für Großbritannien verbinden muss, um weitere Referenden in anderen Staaten (diese wurden schließlich in zahlreichen Reden schon in Aussicht gestellt)15 zu unterbinden und das Auseinanderfallen der EU zu verhindern. Großbritannien würde einen „punishment deal“, wie David Davis sagt, aber nicht akzeptieren. Der britische Chefunterhändler fordert „flexibility from both sides“, bleibt aber bisher klare Aussagen zu den Grundsatzfragen in den Verhandlungen schuldig, die die Basis für das weitere Verfahren bilden würden.

Als wichtigste Streitpunkte werden sich die Höhe der Austrittsrechnung (die EU-Kommission fordert 60 bis 100 Mrd. Euro für die von Großbritannien eingegangenen Verpflichtungen) und vor allem die Freizügigkeit der EU-Bürger sowie deren zukünftige Rechte in Großbritannien herausstellen. Gerade mit Blick auf den zukünftigen Zugang zum britischen Arbeitsmarkt und zum Gesundheits-, Renten- und Bildungssystem deuten sich starre Positionen an, die nur in für beide Seiten kaum zufriedenstellenden Kompromissen gelöst werden können. Eine entscheidende Frage wird auch die Zuständigkeit über jetzt und in naher Zukunft aufkommende Rechtsfragen sein. So hat Premierministerin Theresa May bereits wiederholt angekündigt, sich nach dem Brexit nicht länger der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) unterordnen zu wollen. Michel Barnier, Chefunterhändler der Kommission, hingegen sieht den Gerichtshof weiterhin für die aus der EU nach Großbritannien zugewanderten Bürger zuständig.

Was kommt nach dem Brexit?

Nach den ersten beiden Verhandlungsrunden zeichnet sich in all diesen zentralen Fragen keine Einigung ab, sodass der Brexit im März 2019 zu einem ungeordneten Austritt zu werden droht. Damit wäre dann das Worst-Case-Szenario eingetreten. Man könnte schließlich nicht mehr auf die zivilisierende Wirkung des Rechts im Trennungsprozess setzen. Jede Seite würde für sich festlegen, was der Brexit genau bedeutet und wie er konkret vonstattengehen soll. Die Kosten, die allen Beteiligten entstünden, wären – und sind auch schon jetzt – beträchtlich. Dass es zu einem Brexit völlig ohne Fahrplan kommen wird, ist allerdings unwahrscheinlich. Genauso unwahrscheinlich ist aber auch, dass beide Seiten in der kurzen verbleibenden Zeit für alle bestehenden Punkte hinreichende Einigungen erzielen können. Und da Großbritannien auf den EuGH bei der Auslegung des Scheidungsvertrages sicherlich nicht setzen will, wird es immer wahrscheinlicher, dass es tatsächlich zu einem teilweise ungeordneten Brexit kommen wird. Die politischen, ökonomischen und sozialen Konsequenzen, die dies haben wird, lassen sich in ihrem Ausmaß nur erahnen.

So steht am Ende die Einsicht, dass das große Spiel noch in einige weitere Runden gehen wird, und es am Ende viele Verlierer und ganz wenige Gewinner geben wird. All dies wird sich nicht mehr abwenden lassen. Die Lehre, die die EU daraus ziehen muss, geht aber weiter als der Brexit. Denn im Kern ist nicht der Brexit das Problem der EU, sondern ein Modus der Integration, der nicht länger auf das kurzfristige Interesse seiner Akteure setzen darf. Jean Monnet hatte die Unzulänglichkeiten und Gefahren eines allzu sehr an Akteursinteressen ausgerichteten Integrationsprozesses vielleicht bereits vorausgesehen, falls es stimmt, dass er einmal retrospektiv feststellte: „Wenn ich das Ganze der europäischen Einigung noch einmal zu machen hätte, würde ich nicht bei der Wirtschaft anfangen, sondern bei der Kultur.“

  • 1 So haben etwa britische Luftfahrtunternehmen wie Easyjet und Ryan­air begonnen, ihren Schwerpunkt in die EU zu verlagern.
  • 2 J. Löhr: Immer mehr Briten wollen Deutsche werden, Frankfurter Allgemeine Zeitung online, 13.6.2017, http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/brexit-briten-beantragen-deutsche-staatsbuergerschaft-15059373.html (8.8.2017).
  • 3 Für einen Überblick vgl. A. Grimmel, C. Jakobeit: Politische Theorien der europäischen Integration, Wiesbaden 2009.
  • 4 Solche Studien finden sich etwa bei A. Moravcsik: Preferences and Power in the European Community: A Liberal Intergovernmentalist Approach, in: Journal of Common Market Studies, 31. Jg. (1993), H. 4, S. 473-524; A. Stone Sweet, W. Sandholt: European Integration and Supranational Governance, in: Journal of European Public Policy, 4. Jg. (1997), H. 3, S. 297-317.
  • 5 A. Spinelli: Manifest der Europäischen Föderalisten, Frankfurt a.M. 1958; A. Spinelli, E. Rossi: The Ventotene Manifesto 1941, in: W. Lipgens (Hrsg.): Documents on the History of European Integration, Berlin 1985 [1941], S. 471-484.
  • 6 C. J. Friedrich: Nationaler und internationaler Föderalismus in Theorie und Praxis, in: Politische Vierteljahresschrift (PVS), 5. Jg. (1964), H. 2, S. 154-187.
  • 7 Eine sehr gelungene Rekonstruktion findet sich bei G. Brunn: Die Europäische Einigung, Stuttgart 2002.
  • 8 F. Duchêne: Jean Monnet: The First Statesman of Interdependence, New York 1994, S. 55.
  • 9 Vgl. A. Grimmel: When There Are No Winners, Only Losers: The European Crisis and the Interest Paradigm, in: A. Grimmel (Hrsg.): The Crisis of the European Union, Abingdon, New York, im Erscheinen 2018, S. 159-172.
  • 10 D. Cameron: EU speech - full text, in: The Guardian online, 23.1.2013, https://www.theguardian.com/politics/2013/jan/23/david-cameron-eu-speech-referendum (8.8.2017).
  • 11 D. Cameron: Twitter Posting, 19.2.2016, https://twitter.com/David_Cameron/status/700798241638629377 (8.8.2017).
  • 12 European Commission: A new settlement for the UK in the EU, Brüssel, 19.2.2016, http://europa.eu/rapid/press-release_WM-16-2090_en.htm (8.8.2017).
  • 13 Vgl. die Berichterstattung des Guardian: o.V.: EU summit: Cameron secures deal and starts campaign to keep Britain in – as it happened, in The Guardian online, https://www.theguardian.com/world/live/2016/feb/19/eu-summit-all-night-negotiations-deal-cameron-live (8.8.2017).
  • 14 Ebenda.
  • 15 Man denke an die Ankündigungen von Marine Le Pen in Frankreich, an politische Parteien wie die Dänische Volkspartei oder die niederländische Partei für die Freiheit, oder auch an die Anti-EU-Stimmung in den Visegrád-Staaten, die durch Politiker wie Victor Orbán oder Václav Klaus befeuert wird.

Title:Brexit: What Are the Next Steps?

Abstract:The UK’s 2016 EU referendum may account for great income losses in the UK. Gabriel Felbermayr et al. use a “new” quantitative trade model to assess various Brexit scenarios. The results broadly show that all EU member states lose, and the relative losses in the UK are about five times those of the average remaining EU country. These findings have important implications for the EU’s negotiation strategy. The outcome depends largely on the decisions about trade relations. Michael Hüther thinks that the UK is heading for an extremely hard Brexit and that it already shows. Therefore, the UK government should work out a consistent industrial policy and make up its mind about its preferences on its future economic relationship with its neighbours. In light of the currently very close and mutually welfare-enhancing business relations between the EU27 and the UK, one of the central tasks and challenges of the Brexit negotiations is undoubtedly the creation of a new supportive post-supranational legal framework governing these economic transactions in the future. Andreas Grimmel argues that the EU’s crises are largely the result of a certain mode of integration that is based on actors’ interests rather than on a comprehensive constitutional framework.


DOI: 10.1007/s10273-017-2175-5

Fachinformationen über EconBiz

EconBiz unterstützt Sie bei der Recherche wirtschaftswissenschaftlicher Fachinformationen.