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Die EU-Kommission hat am Nikolaustag 2017 ihre Vorschläge zur Weiterentwicklung der Europäischen Währungsunion vorgelegt. Sie baut dabei auf dem Fünf-Präsidentenbericht von Mitte 2016 und ihrem eigenen Reflexionspapier vom Frühjahr 2017 auf. Die Vorschläge umfassen im Wesentlichen die Schaffung eines Europäischen Finanzministers, mehrerer Budgetlinien für die Zwecke der Europäischen Währungsunion im EU-Haushalt und eines Europäischen Währungsfonds. Die erkennbare Eile ist dem Drängen des französischen Präsidenten geschuldet, die europäische Integration voranzubringen. Tatsächlich schließt sich das politische Gestaltungsfenster angesichts der Europawahl 2019 schon bald. Doch die Vorschläge der EU-Kommission sind überwiegend kritisch zu beurteilen.

Die neue Funktion eines Europäischen Finanzministers soll ein Vizepräsident der EU-Kommission übernehmen. Als Aufgaben sind vor allem vorgesehen, die Interessen Europas und der Europäischen Währungsunion (EWU) zu vertreten (auch international), der Eurogruppe vorzusitzen, den zu schaffenden Europäischen Währungsfonds (EWF), die neuen Euro-Budgetlinien und die Regeleinhaltung zu überwachen, die Politikkoordinierung zu stärken und sich zum angemessenen fiskalpolitischen Kurs der EWU zu äußern. Dabei soll er dem Europäischen Parlament gegenüber rechenschaftspflichtig sein. Diese Reform, so behauptet die EU-Kommission, würde Synergien fördern und die Governance der EU und der EWU effizienter machen. Der Mehrwert dieser neuen Funktion ist jedoch kaum erkennbar:

  • Die Eurogruppe kann weiterhin von einem Vorsitzenden aus ihren eigenen Reihen geführt werden. Ein sinnvolles Ziel ist es zwar, dass der Eurogruppen-Vorsitzende stärker die gemeinsamen Interessen Europas berücksichtigt als die jeweiligen nationalen Finanzminister. Solange jedoch nicht alle EU-Staaten zur Währungsunion gehören, würde ein Europäischer Finanzminister mit Eurogruppen- und Unionsverantwortung mit Konflikten zu kämpfen haben.
  • Der zu schaffende EWF sollte möglichst unabhängig von der Politik agieren. Daher ist eine Überwachungsfunktion durch die EU-Kommission sogar kontraproduktiv.
  • Über die Euro-Budgetlinien werden – wie über die übrigen EU-Haushaltsmittel – weiterhin der Rat und das Europäische Parlament befinden. Hier drohen Konflikte und eine Machtverschiebung zugunsten der EU-Kommission und zulasten der übrigen Akteure.
  • Auch die weiteren Aufgaben (Politikkoordinierung, Regeleinhaltung, fiskalpolitischer Kurs) werden bereits von europäischen Institutionen erfüllt, in diesem Fall von der EU-Kommission selbst. Diese Funktionen auch einem Euro-Finanzminister zu übertragen, droht Zuständigkeiten innerhalb der Kommission zu vermischen und birgt internes Konfliktpotenzial.

Euro-Budgetlinien im EU-Haushalt

Vier neue Budgetinstrumente sollen in und um den EU-Haushalt entstehen: Für die Unterstützung von Strukturreformen, zur Konvergenzförderung von Nicht-Eurostaaten bei der Annäherung an die EWU, für eine Stabilisierungsfunktion im Euroraum (offen für andere EU-Länder) und für eine letztinstanzliche staatliche finanzielle Sicherung bei Bankenkrisen (Fiscal Backstop). Diese Vorschläge sind differenziert zu bewerten:

Zur Unterstützung von Strukturreformen sollen in zweierlei Hinsicht neue Finanzmittel zur Verfügung gestellt werden: zum einen, um die ökonomischen Kosten von Strukturreformen abzufedern und finanzielle Anreize für solche Reformen zu setzen. Zum anderen, um die schon bestehende technische Unterstützung bei der Umsetzung von Strukturreformen durch eine Verdoppelung der Finanzmittel auf rund 300 Mio. Euro besser auszustatten. Vor allem das zweite Vorhaben ist gutzuheißen. Beim ersten gilt das nur eingeschränkt. Hier müsste sichergestellt werden, dass es nicht zu Mitnahmeeffekten kommt und Reformen wegen der Aussicht auf finanzielle Unterstützung nicht verschoben werden. Allenfalls ist es sinnvoll, dieses Instrument wie vorgesehen in der auslaufenden Haushaltsperiode bis 2020 erst einmal zu testen.

Ein Konvergenzinstrument für Nicht-Eurostaaten innerhalb der EU kann sinnvoll sein, dringend notwendig ist es nicht. Es wurde von der Kommission wohl auch in das Reformpaket eingeschlossen, um die Länder, die noch nicht in der EWU sind, politisch mit an Bord zu holen. Dies ist zwar nachvollziehbar, aber letztlich keine ausreichende Rechtfertigung. Zumal der bestehende Kohäsionsfonds dem Ziel dient, die Länder auf dem Weg zur Währungsintegration zu begleiten und Zahlungen an die Fiskaldisziplin gemäß den Maastricht-Kriterien bindet.

Eine Stabilisierungsfunktion für den Euroraum soll mit Transfers und Krediten dazu beitragen, dass Mitgliedstaaten in Krisen ihre Investitionsausgaben aufrechterhalten, um asymmetrische Schocks besser abfedern zu können. Zunächst lässt die unbestimmte Definition asymmetrischer Schocks das Risiko erkennen, dass Mitgliedstaaten allfällig Forderungen nach einer Unterstützung stellen. Grundsätzlich wird es bei massiven gesamtwirtschaftlichen Störungen wie in der Finanz- und Wirtschaftskrise 2009 ohnehin nur effektiv möglich sein, durch eine Koordinierung der nationalen Finanzpolitiken gegenzusteuern. Im Fall einer offenkundig einseitigen Belastung einer Volkswirtschaft, wie sie für Irland bei einem harten Brexit zu erwarten ist, müsste aus gemeinschaftlicher Verantwortung ohnehin gehandelt werden – und die Erfahrung lehrt, dass in solchen Fällen die Einsicht dafür trägt.

Unklar ist ex ante auch, wie groß eine solche Budgetlinie sein sollte. Das gilt ebenso für verwandte Vorschläge eines vorab zu füllenden Fonds. Hinzu kommt: Die EU-Kommission bleibt zwar dabei, dass auch ein solches Instrument nicht zu dauerhaften Transfers führen, Moral Hazard minimieren und nur unter der Bedingung einer anhaltend guten Wirtschaftspolitik vergeben werden soll. Das ist richtig und wichtig, doch stellt sich die Frage, ob ein einmal geschaffenes Instrument unter politischem Druck dauerhaft diese Anforderungen erfüllen kann, zumal die alte Einsicht, „Kasse macht sinnlich“, erfahrungsgestützt unverändert gilt. Schließlich hat die EU-Kommission sehr komplexe und wenig transparente Finanzierungswege vorgesehen. So kann das Geld für Stabilisierungshilfen nicht nur aus dem EU-Haushalt kommen, sondern ebenso vom EWF oder aus Beiträgen der Mitgliedstaaten. Offenbar ist sich die EU-Kommission darüber im Klaren, dass eine Euro-Budgetlinie für diese Zwecke auf Basis des EU-Haushalts nur einen sehr überschaubaren Umfang haben kann. Es bleibt jedoch unklar, wie eine Finanzierung von Hilfen durch Beiträge aus Mitgliedstaaten mit dem EU-Haushalt konform gemacht werden kann. Zudem sollen Stabilisierungshilfen auch als Kredite vergeben werden, die durch den EU-Haushalt garantiert werden können. Hier stellt sich die Frage, ob damit bei einem Kreditausfall eine Erhöhung des Haushaltsrahmens in Richtung auf die Eigenmittelobergrenze indirekt erzwungen würde. Dies wäre kritisch zu sehen.

Als viertes Element in diesem Instrumenten-Quartett soll der zu gründende EWF als letztinstanzlicher staatlicher Kreditgeber für das Bankensystem (Lender of Last Resort) agieren. Konkret soll er dem Bankenrettungsfonds (SRF – Single Resolution Fund) eine Kreditlinie und damit einen staatlichen Auffangmechanismus zur Verfügung stellen.

Die Einbeziehung des EWF macht erneut deutlich, dass der EU-Haushalt keine leistungsfähige Basis für neue Reform- und Stabilisierungsinstrumente ist. Dies gilt umso mehr, weil die Nettozahler nicht bereit sein werden, den EU-Haushalt stark aufzustocken, in dem durch den Brexit jährlich ohnehin bereits rund 10 Mrd. Euro fehlen werden. Das Ziel, EWU-Funktionen innerhalb des EU27-Haushalts anzusiedeln, droht außerdem die Kompetenzen zwischen den Euroländern und den übrigen EU-Staaten zu vermischen, sodass unnötiges Konfliktpotenzial entsteht.

Europäischer Währungsfonds

Aus dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), also dem Euro-Rettungsschirm, soll ein Europäischer Währungsfonds (EWF) werden:

  • Seine Hauptaufgabe wird nach den Vorstellungen der EU-Kommission weiterhin in der Vergabe von Finanzhilfen für Krisenstaaten liegen, die mit Reformauflagen verbunden sind. Bei der Aufstellung und Umsetzung der Reformprogramme soll der EWF jedoch eine größere Rolle übernehmen als bisher der ESM – und sich dabei mit der EU-Kommission eng abstimmen. Hintergrund ist, dass sich der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Europäische Zentralbank (EZB) ganz oder weitgehend aus möglichen zukünftigen Hilfsprogrammen zurückziehen wollen.
  • Es wird auch vorgeschlagen, dass eilige Entscheidungen über zukünftige Hilfsprogramme statt mit Einstimmigkeit mit einer qualifizierten Mehrheit von 85 % der gewichteten Stimmrechte erfolgen.
  • Der EWF soll zur letztinstanzlichen staatlichen Sicherung für das europäische Bankensystem werden. Mittelfristig sollen als Kredite gezahlte EWF-Hilfen vom Bankensystem über den Bankenrettungsfonds wieder zurückgezahlt werden.
  • Aus institutioneller Perspektive ist schließlich vorgesehen, den zum EWF erweiterten ESM, der bisher auf einem intergouvernementalen Vertrag basiert, in den europäischen Rechtsrahmen zu integrieren und so die demokratische Legitimation zu stärken.
  • Im Nikolauspaket nicht wiederfinden lässt sich der deutsche Vorschlag, dem EWF auch die Überwachung der Fiskal- und Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten zu übertragen, was eine Schwächung der EU-Kommission bedeutet hätte.

Dem ESM/EWF eine größere Verantwortung bei Hilfs- und Reformprogrammen zu übertragen, ist richtig. Europa muss in der Lage sein, diese Aufgabe auch unabhängig von IWF und EZB zu meistern. Die EWU muss in diesem Punkt „erwachsen“ werden, um Vertrauensdefekte durch eine selbstverschuldete Abhängigkeit vom IWF einerseits und durch eine Überforderung der EZB andererseits künftig zu vermeiden. Der EWF würde den Ton angeben und damit die Notenbank abschirmen. Hierbei ist tolerierbar, dass in dringenden Fällen die Mehrheitsanforderung auf 85 % gesenkt wird. Deutschland behält dabei seine Sperrminorität, wenn die Stimmrechtsverteilung erhalten bleibt.

Den EWF zum letztinstanzlichen Kreditgeber bei Bankenkrisen zu machen, baut auf der schon grundsätzlich getroffenen Entscheidung auf, mittelfristig einen staatlichen Auffangmechanismus (Fiscal Backstop) zu etablieren. Doch herrscht Uneinigkeit über die zeitliche Abfolge. Die Bundesregierung fordert hier zu Recht, dass im Bankensystem noch vorhandene Risiken aus der Krise zuerst abgebaut werden, bevor die Risiken vergemeinschaftet werden. Als weitere Vorbedingung sollte zudem eine Mindest-Harmonisierung der nationalen Insolvenzrechtsordnungen erreicht werden. „Insolvenz nach harmonisierten nationalen Regelungen vor Abwicklung durch den Single Resolution Fund“ sollte die Botschaft lauten.

Bei der Risikominderung im Bankensystem fehlt es der EU-Kommission jedoch an Ehrgeiz und in Brüssel generell an politischem Willen:

  • So findet sich im Nikolauspaket kein Vorschlag zur De-Privilegierung von Staatsanleihen in der Bankenregulierung. Damit wird das gravierende Risiko nicht angegangen, dass eine Staatsschuldenkrise auch in Zukunft zu einer folgenschweren Bankenkrise ausufert, weil Banken zu viele nationale Staatsanleihen halten.1 Dass die EU-Kommission hier tatenlos bleibt, ist sehr kritisch zu sehen. Es wäre zumindest nötig, enge Obergrenzen für das Halten von Staatsanleihen zu setzen. Auch über eine adäquatere Kapitalunterlegungspflicht zur besseren Risikovorsorge ist nachzudenken. Dieser Schritt wäre allerdings bei international koordiniertem Vorgehen leichter zu gehen und verlangt eine kluge Einsteuerung über einen längeren Zeitraum, um den zusätzlichen Eigenkapitalbedarf der Banken störungsfrei mobilisieren zu können.
  • Ebenso geht es bei einem weiteren im Bankensystem verharrenden Risiko nicht schnell genug voran: dem in einigen Euroländern noch hohem Bestand an notleidenden Bankkrediten. EU-Kommission und EZB haben hier lange nur sehr zögerlich agiert. Erst seit Kurzem wird mehr Druck zur Bereinigung dieser Krisenaltlasten ausgeübt. Die EZB hat in ihrer Funktion als einheitliche Finanzaufsicht mit Leitlinien avisiert, dass Banken ab 2018 schneller als bislang Rückstellungen für neu entstehende notleidende Kredite bilden sollen. Damit ist sie jedoch im EU-Parlament und -Rat auf erheblichen politischen Widerstand gestoßen. So wird der EZB vorgeworfen, ihre Kompetenzen zu überschreiten. Diese Anschuldigungen sind bedenklich, denn ökonomisch ist es die ureigene Aufgabe der Bankenaufsicht, solche Risiken einzugrenzen. Daher sind potenzielle Rechtsunsicherheiten zu beseitigen. Der politische Widerstand aus Parlament und Rat droht die erst vor Kurzem neu geschaffene einheitliche Bankenaufsicht nachhaltig zu beschädigen.

Die Integration des ESM/EWF in das EU-Rahmenwerk ist vor diesem Hintergrund nicht ganz unproblematisch. Sie ist grundsätzlich zu befürworten, weil auf diese Weise die institutionelle Architektur der EWU kohärenter wird und die politische Notlösung einer intergouvernementalen Vereinbarung geheilt wird. Doch ebenso ist das Risiko zu bedenken, dass es damit zu einer Politisierung von Reformprogrammen kommt, die die Konditionalität als unverzichtbare Säule der neuen EWU-Architektur gefährden könnte.2 Das Prinzip „Hilfe gegen Reformen“ darf nicht ins Wanken geraten. Denn gerade aus dem Europäischen Parlament wurde die vormalige Troika aus IWF, EZB und EU-Kommission immer wieder für ihre vermeintlich neoliberale Härte kritisiert. Zwar besteht bei der Konzeption von Reformprogrammen Verbesserungsbedarf, gerade mit Blick auf mehr soziale Verträglichkeit und Nachhaltigkeit. Doch selbst ökonomisch uneingeschränkt sinnvolle Reformprogramme stoßen regelmäßig auf starken politischen Widerstand betroffener Interessengruppen. Diese können über das Europäische Parlament auf eine Blockade wichtiger Reformelemente hinwirken. Und auch die EU-Kommission versteht sich heute stärker als politischer Akteur als früher, sodass durch politische Kompromisse eine Aufweichung der Reformauflagen droht. Dies gilt umso mehr, da der Europäische Finanzminister den EWF überwachen soll.

Um Reformprogramme effektiv umsetzen zu können, muss der EWF daher – ähnlich wie der IWF – hinreichend politisch unabhängig sein. Das kann – ähnlich wie bei der unabhängigen EZB – eine Berichtspflicht gegenüber dem Europäischen Parlament einschließen. Seine Zustimmungspflicht bei Reformprogrammen ist jedoch abzulehnen. Eine Integration in den EU-Rahmen erscheint nur unter der Bedingung sinnvoll, dass das Statut des EWF eine institutionell dauerhaft abgesicherte Unabhängigkeit garantiert.

Eine adäquate politische Kontrolle des EWF ist dadurch gewährleistet, dass das Leitungsgremium des ESM/EWF aus den Finanzministern der beteiligten Mitgliedstaaten besteht. Diese sind demokratisch legitimierte Vertreter gewählter Regierungen auf nationaler Ebene. Dass Vertreter der Mitgliedstaaten über Hilfs- und Reformprogramme entscheiden, ist sachgerecht, da für die Finanzhilfen des ESM/EWF die Steuerzahler auf nationaler Ebene haften. Die immer wieder vorgetragene Kritik, der ESM wäre demokratisch nicht ausreichend legitimiert, ist daher schwer nachvollziehbar. Wenn die EU-Kommission diese Argumentation bedient, versucht sie damit zu kaschieren, dass sie mehr Einfluss auf den finanzkräftigen ESM/EWF anstrebt.

Reformnotwendigkeiten beim Euro-Rettungsschirm

Weitere über die Vorschläge der EU-Kommission hinausgehende Reformen sind nötig, um den ESM/EWF bei der Krisenprävention und -bekämpfung hinreichend glaubwürdig zu machen. Denn die Kreditkapazität des ESM reicht nicht aus, um große Euroländer im Rahmen eines dreijährigen Vollprogramms zu unterstützen.3 Das liegt an dem sehr großen Kreditbedarf für die Refinanzierung von auslaufenden Staatsanleihen. Dieses Problem lässt sich umgehen, wenn die Laufzeiten aller Staatsanleihen des betreffenden Staats bei Beginn eines Hilfsprogramms um die Dauer des Programms verlängert werden. Dabei werden die Zinsen weiter gezahlt und der Nominalwert der Anleihen wird nicht gemindert. Diese Schritte dienen dazu, dass die Hilfskredite nicht für Altschuldenrückzahlungen, sondern nur für das laufende Fiskaldefizit verwendet werden.

Um ein Kreditereignis und Unruhe an den Märkten zu vermeiden, sollten bei neu ausgegebenen Staatsanleihen die Anleihebedingungen geändert und damit die Reform graduell eingeführt werden.4 Dabei ist im Kleingedruckten vorzusehen, dass im geschilderten Fall eine Mehrheit der Gläubiger in einer einheitlichen Abstimmung eine solche Laufzeitverlängerung beschließen kann. Die Gläubiger sollten dazu durchaus Anreize haben, weil ohne ein Eingreifen des ESM eine Zahlungsunfähigkeit droht und damit ein noch größerer Forderungsverlust. Ohne diesen Schritt ist der ESM bei Krisen großer Länder nicht glaubwürdig, und es drohen immer weiter steigende Risikoprämien.

Zudem ist nicht zuletzt mit Blick auf die deutliche regionale Divergenz in Europa eine neue Art Hilfsprogramm ratsam.5 Es sollte unter bestimmten Bedingungen erlauben, dass der betreffende Staat sein öffentliches Haushaltsdefizit steigen lassen kann, damit in einer Krise die nationalen automatischen Stabilisatoren wirken können. Dahinter steht die ordnungspolitische Überzeugung, dass fiskalpolitische Stabilisierung zuvorderst Aufgabe der Mitgliedstaaten bleibt. Es ist jedoch gerade bei hochverschuldeten Staaten denkbar, dass der Finanzmarkt schon in der nächsten „normalen“ Rezession auf ein steigendes Fiskaldefizit mit exzessiv höheren Risikoprämien reagiert.6 Ein neues ESM-light-Programm kann dem entgegenwirken, wenn es glaubhaft Hilfe in Aussicht stellt und so idealerweise schon den Anstieg der Risikoprämien verhindert. Damit würde sich eine wenig effektive Stabilisierungsfunktion im EU-Budget erübrigen.

Der zumindest vorübergehende Verzicht auf die üblichen Reformauflagen zur fiskalischen Konsolidierung kann allerdings nicht ohne Vorbedingungen gewährt werden. Daher sollte dieses neue Hilfsinstrument nur für Eurostaaten zugänglich sein, die den Stabilitäts- und Wachstumspakt einhalten. Neben dieser Ex-ante-Konditionalität ist auch eine moderate Ex-post-Konditionalität im Bereich von Strukturreformen sinnvoll, etwa indem gewisse konkrete Reformen im Rahmen des Europäischen Semesters vom betreffenden Staat mit einem genauen Zeitplan kurzfristig umzusetzen sind. Idealerweise würde der betreffende Staat diese Reformen selbst in Abstimmung mit der EU-Kommission auswählen. Eine finanzielle Unterstützung der Reforminitiative mit dem im Nikolauspaket vorgeschlagenen Budgetinstrument zur Unterstützung von Strukturreformen ist dann möglich und sinnvoll.

Fazit

Die EU-Kommission hat Ende 2017 umfangreiche Vorschläge für die Weiterentwicklung der EWU vorgelegt. Unsere Bewertung dieser Vorschläge liefert ein differenziertes, aber überwiegend kritisches Bild.

Der Posten eines Europäischen Finanzministers, der von einem Vizepräsidenten der EU-Kommission bekleidet werden soll, schafft mit dem vorgeschlagenen begrenzten Aufgabenportfolio unnötige Kompetenzüberschneidungen und daher Konfliktpotenziale mit den Mitgliedstaaten und den anderen EU-Institutionen. Letztlich versucht die EU-Kommission auf diese Weise in erster Linie, ihren Einfluss zu mehren.

Die Schaffung von Euro-Budgetlinien im EU-Haushalt droht im EU-Budget falsche oder irreführende Prioritäten zu setzen und wird aufgrund eines engen Finanzrahmens nur wenig Wirkung entfalten. Der finanzielle Spielraum wird begrenzt durch den im Zuge des Brexits schrumpfenden EU-Haushalt, den die Nettozahler trotz erweiterter EU-Anforderungen wohl nur wenig erhöhen werden. Euro-Budgetlinien treten aber auch in Konkurrenz zu anderen zusätzlichen Ausgabenkategorien. So ist es sinnvoll und dringend nötig, dass die EU im Bereich europäischer öffentlicher Güter wie der Sicherung der Außengrenzen, der Terrorbekämpfung und der gemeinsamen Verteidigungspolitik mehr Geld erhält. Angesichts begrenzter finanzieller EU-Ressourcen haben diese Aufgaben gegenüber einer Stärkung der EWU klaren Vorrang. Dies würde nicht ausreichend priorisiert werden, wenn die Politik den Vorschlägen der EU-Kommission folgt und finanzkräftige Euro-Budgetlinien schaffen würde.

Ein Europäischer Währungsfonds ist grundsätzlich sinnvoll, weil Europa in der Lage sein muss, Hilfs- und Reformprogramme auch unabhängig vom IWF zu meistern. Doch bevor der EWF als letzte staatliche Absicherung bei Bankenkrisen agieren kann, müssen die Risiken im Bankensystem deutlich stärker reduziert werden. Bei der avisierten Integration des intergouvernementalen ESM in den EU-Rechtsrahmen sind die Unabhängigkeit und das Konditionalitätsprinzip dauerhaft zu sichern. Vor allem eine Aufsicht durch den Europäischen Finanzminister ist abzulehnen.

Auch mit Blick auf einen anderen wichtigen Aspekt haben die Vorschläge der EU-Kommission nicht die richtige Balance. Sie setzen zu stark auf mehr Risikoteilung und zu wenig auf eine Verminderung der noch bestehenden Risiken. Dies gilt insbesondere für die fehlenden Bestimmungen zur De-Privilegierung von Staatsanleihen und für ein staatliches Insolvenzverfahren.

Insgesamt laufen die Vorschläge der EU-Kommission in wichtigen Bereichen darauf hinaus, ihre eigene Machtposition zu stärken. Das trifft vor allem auf den avisierten Europäischen Finanzminister zu, aber auch auf den Europäischen Währungsfonds. Die Euro-Finanzminister werden diesen Ansinnen weiterhin starken Widerstand entgegensetzen. Auch hier lässt die EU-Kommission die nötige Balance und Weitsicht vermissen. Indem sie zu sehr ihre eigenen Interessen im Blick hat, untergräbt sie die Umsetzungschancen ihrer Vorschläge.

Title:A Critical View on the Recent Reform Proposals of the European Commission

Abstract:The European Commission recently proposed a Roadmap for deepening EMU. Establishing a European Monetary Fund (EMF) and support mechanisms for structural reforms are reasonable suggestions. However, the integration of the EMF in the Union’s framework must not endanger the conditionality principle. Moreover, creating a sizeable stabilisation function within the EU budget poses technical problems and would set questionable priorities. Furthermore, a European Finance Minister is simply not needed with the proposed design.


DOI: 10.1007/s10273-018-2237-3