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In jüngerer Zeit haben verschiedene Studien einen negativen Einfluss politischer Unsicherheit auf die wirtschaftliche Aktivität identifiziert.1 Die in diesem Zusammenhang typischerweise verwendeten Indikatoren – z. B. die Häufigkeit bestimmter Begriffe in wichtigen Tageszeitungen – dürften allerdings fehleranfällig sein und nicht jede Art von politischer Unsicherheit qualitativ wie quantitativ in geeigneter Weise erfassen. Daher sollte nicht ausschließlich anhand solcher Indikatoren diskutiert werden, ob einzelne Episoden mit einem für die wirtschaftliche Aktivität schädlichen Maß an politischer Unsicherheit einhergehen.

Angesichts des Abbruchs der Jamaika-Sondierungen im November 2017 verlängert sich in Deutschland die Phase, in der nur eine geschäftsführende Bundesregierung im Amt ist. Damit stellt sich die Frage, ob die hierdurch entstandene politische Unsicherheit – ob sie nun von den entsprechenden Indikatoren gemessen wird oder nicht – zu einer Dämpfung der Wirtschaftsleistung führt. Zur Beantwortung dieser Frage werden vergleichbare Episoden europäischer Nachbarstaaten in den Blick genommen. Längere Phasen einer Regierungsbildung, in denen nur eine geschäftsführende Regierung im Amt war, hat es in den vergangenen Jahren auch in anderen Ländern des Euroraums gegeben:

  • In Belgien endete im Dezember 2011 eine Phase von 541 Tagen ohne amtierende Regierung. Die Produktion konnte während dieser Episode zwar nur moderat zulegen, doch traf dies auch für den gesamten Euroraum und für den Nachbarn Niederlande zu: In der „regierungslosen Zeit“ (4. Quartal 2011 im Vergleich zum 2. Quartal 2010) nahm das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Belgien um gut 2 % zu, im Euroraum und in den Niederlanden um rund 1,5 % (vgl. Abbildung 1).
  • In Spanien ist das BIP in 315 Tagen ohne amtierende Regierung zwischen Dezember 2015 und Oktober 2016 ebenfalls stärker gestiegen als im Euroraum insgesamt (knapp 3 % zu knapp 2 %), und es war keine Verlangsamung der bis dato kräftigen Erholung der spanischen Volkswirtschaft zu erkennen.
  • Die jüngste Episode betrifft die Niederlande, wo es im Oktober 2017 nach 225 Tagen zu einer Regierungsbildung kam. Auch hier gab es einen überproportional starken Zuwachs des BIP (insbesondere im 2. Quartal 2017), somit gibt auch dieser Fall keinerlei Evidenz, dass die entstandene Unsicherheit bei Ausbleiben einer schnellen Regierungsbildung die wirtschaftliche Dynamik negativ beeinflusst hat.
Abbildung 1
Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts in Phasen verzögerter Regierungsbildung
Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts in Phasen verzögerter Regierungsbildung

Quartalsdaten, preis-, kalender- und saisonbereinigt. Die hervorgehobene Linie zwischen den beiden quadratischen Markierungen zeigt jeweils den BIP-Verlauf in der „regierungslosen“ Zeit für Belgien (2010 Q2 = Index Euroraum), Spanien (2015 Q4 = Index Euroraum) und die Niederlande (2017 Q1 = Index Euroraum).

Quelle: Eurostat, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen; eigene Berechnungen.

Phasen mit längerer Regierungsbildung scheinen somit nicht unbedingt die Art von politischer Unsicherheit darzustellen, die die wirtschaftliche Aktivität merklich hemmen. Dies ist vielmehr der Fall, wenn z. B. ausgehend von einer Wahl das Risiko besteht, dass es zu einem erheblichen wirtschaftspolitischen Kursschwenk kommt, der weite Teile der Wirtschaftsverfassung zur Disposition stellen würde. In einer solchen Situation reagieren die wirtschaftenden Akteure unmittelbar, mit der möglichen Folge negativer realwirtschaftlicher Auswirkungen.

Beispielsweise ergab sich in Griechenland bereits im Herbst 2014 angesichts der Parlamentswahl (vom Januar 2015) eine deutliche Verschlechterung der wirtschaftlichen Stimmung, als sich ein Wahlsieg der Syriza-Partei abzeichnete. Erwartet wurde damals unter anderem, dass im Falle eines solchen Wahlausgangs die Kooperation der griechischen Regierung mit den Gläubigerstaaten zur Disposition steht und als Folge ein Austritt Griechenlands aus der Währungsunion wahrscheinlicher wird.2 In dieser Phase trübten sich die konjunkturellen Aussichten nach einer zuvor aufkeimenden Erholung spürbar ein und Griechenland fiel zurück in die Rezession.

Abbildung 2
Zinsaufschlag gegenüber Deutschland
Zinsaufschlag gegenüber Deutschland

Tagesdaten, Renditedifferenz von Staatsanleihen mit zehnjähriger Restlaufzeit gegenüber Deutschland.

Quelle: Thomson Reuters Datastream.

Sehr frühzeitig lassen sich Reaktionen auf politische Instabilität und Risiken an den Finanzmärkten erkennen. So waren im Vorfeld des Brexit-Referendums und danach zahlreiche Finanzstress-Indikatoren erhöht. Eine spürbare Abschwächung der konjunkturellen Dynamik wurde allerdings erst einige Monate nach der Abstimmung sichtbar. Ein weiteres Beispiel sind die Risikoaufschläge bei französischen Staatsanleihen, die sich in Anbetracht der politischen Konstellation im Frühjahr 2017 zeitweilig erhöht hatten. In den Wochen vor der ersten Runde der französischen Präsidentschaftswahl (23.4.2017) zeichnete sich ein knapper Ausgang zwischen vier etwa gleichstarken Lagern ab, wobei zwei Kandidaten der politischen Ränder (Le Pen und Mélenchon) die erste Runde hätten überstehen können. Nachdem jedoch der heutige Präsident Macron in die Stichwahl gelangte, wurde die Präsidentschaft eines extremen Kandidaten als deutlich unwahrscheinlicher eingeschätzt, und somit gingen die Risikoaufschläge wieder auf Normalmaß zurück (vgl. Abbildung 2). Auch die Risikoaufschläge Portugals, Spaniens und Italiens gingen nach der ersten Wahlrunde zurück, was darauf hindeutet, dass eine mögliche Präsidentschaft z. B. Le Pens auch für andere Länder als Stabilitätsrisiko bewertet worden war. Erkennbare negative Auswirkungen auf die Entwicklung des französischen Bruttoinlandsprodukts gab es in dieser Phase der Unsicherheit aber nicht. Zum einen war der Ausschlag selbst an den Finanzmärkten nicht sehr ausgeprägt und zum anderen dauerte die Phase nur eine sehr begrenzte Zeit an.

Bezogen auf die politische Situation in Deutschland führt die ungewöhnlich lange Phase der Regierungsbildung also nicht zu einer Form der politischen Unsicherheit, die die wirtschaftliche Aktivität ernsthaft belasten dürfte. Denn derzeit besteht keine realistische politische Option, die eine gravierende Änderung der wirtschaftspolitischen Ausrichtung beinhalten würde. Die Finanzmärkte haben auch nicht erkennbar auf das Scheitern der Jamaika-Sondierungsgespräche reagiert – die Renditen deutscher Staatsanleihen und Aktienpreise verliefen unauffällig. Insgesamt erwarten wir daher nicht, dass die deutsche Wirtschaft aufgrund der verzögerten Regierungsbildung aus dem Tritt gerät, selbst wenn sich die aktuellen Sondierungsgespräche zwischen CDU/CSU und SPD lange hinziehen oder gar ebenfalls scheitern sollten.

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DOI: 10.1007/s10273-018-2244-4