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In der öffentlichen Diskussion wird der Freihandel infolge der gegenwärtigen Auseinandersetzungen zwischen China und den USA oft als ein Wert an sich betrachtet. Nüchtern gesehen ist er aber nur ein Verfahren, das nach allen Erfahrungen aus Theorie und Empirik Wohlstand erzeugen kann. Aber es gibt im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung auch andere Möglichkeiten, zu Wohlstand zu gelangen, die möglicherweise mit dem Ideal des Freihandels im Konflikt stehen. Dieser Beitrag zeigt, dass ein institutionenökonomischer Ansatz die aktuellen Handelskonflikte erklären kann und dass letztere sich auf grundlegend veränderte Risiko- und Kommunikationsstrukturen zurückführen lassen.

Mit immer weniger wirtschaftlichem bzw. wirtschaftspolitischem Aufwand ist es möglich, das ordnungsökonomische Selbstverständnis, Freihandel sei demokratiepolitisch wichtig und wohlstandsfördernd, auszuhebeln. Insbesondere politische Eliten sind immer weniger bereit, sich für dieses Ideal einzusetzen. Dies kann man auch als nachlassende Koerzitivkraft1 der Globalisierung auffassen.

Ein wesentlicher Treiber der Globalisierung war der fundamentale Verfall der Informationskosten und der globalen Risiken. Das Modell des Shareholder Value sagt voraus, dass ein Sinken der Risikozinsen bei gegebenen Zahlungsströmen zu beträchtlichen Steigerungen der Unternehmenswerte führt. Diese finanziellen Möglichkeiten lassen sich ausweiten, insbesondere für die Finanzierung von Investitionen, aber auch, um Gewinne auszuschütten oder die internationale Diversifizierung einschließlich des Aufbaus neuer Standorte für eine globale Arbeitsteilung zu verstärken. Zu den sinkenden Risiken trat die Digitalisierung, die die Arbeitsspaltung und die Arbeitsteilung besonders transparent macht und damit dem Off-Shoring wichtige Impulse gibt. In der Folge ist der Importanteil an der Gesamtproduktion der Güter global fast überall gestiegen.

Chinas davon abweichende Wirtschaftsstrategie „Schließen von Wertschöpfungsketten“ lässt sich bereits an den makroökonomischen Daten ablesen: In ihrem Monatsbericht vom Januar 2018 analysiert die Deutsche Bundesbank die Veränderungen der Import-Export-Relationen wichtiger internationaler Handelspartner.2 Abbildung 1 zeigt, dass die Importanteile an der Produktion bei allen hier genannten Industrieländern – mit Ausnahme Chinas – gestiegen sind. Dem Land gelang es insbesondere, seinen Anteil an der globalen Wertschöpfung im Bereich der Hochtechnologie zu stärken. Eine wichtige Ursache dafür waren die Bildungsreformen3 der Jahrtausendwende, einschließlich des Aufbaus eines Elite-Hochschulsystems. Sie haben es ermöglicht, Vorleistungen, die vordem im eigenen Lande technisch oder ökonomisch nicht produziert werden konnten, zu substituieren. Dies steigerte den Exportüberschuss weiter.

Abbildung 1
Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Importanteile an der Produktion
Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Importanteile an der Produktion

Quelle: eigene Darstellung nach Deutsche Bundesbank: Zu den Auswirkungen der Internationalisierung deutscher Unternehmen auf die inländische Investitionstätigkeit, Monatsbericht, Nr. 1/2018, S. 13-27.

Wird sich diese Entwicklung fortsetzen? Wird China weiterhin Wertschöpfungsketten schließen, während die übrige Welt – vor allem westliche Unternehmen – im Gegensatz hierzu die globale Arbeitsteilung nicht nur im Konzernverbund, sondern auch unternehmensübergreifend weiter ausbaut? Die These dieses Beitrags lautet, dass sich die zunächst vorteilhaften Rahmenbedingungen für die Globalisierung inzwischen gravierend verschlechtert haben. Chinas gelenkte Wirtschaft hat dabei strategisch gewisse Entwicklungen vorweggenommen. Darauf basierend wird postuliert, dass sich die Gewichte für die klassische unternehmerische Abwägung zwischen „make or buy“, die auf institutionenökonomischer Ebene durch Ronald Coase4 als Abgrenzung zwischen Hierarchie und Markt eingeführt wurde, verschoben haben. Folglich setzen sich neue effiziente institutionelle Arrangements am Markt durch, welche die globale Arbeitsteilung verändern. Die Digitalisierung ist dabei nur ein Faktor unter vielen, weil sie nicht nur Markt­effizienzen verbessert, sondern auch neue Fundamentalrisiken erzeugt hat bzw. zu deren schnelleren Verbreitung beiträgt.

Digitalisierung und Risiko

Die Digitalisierung senkt maßgeblich die Transaktionskosten und wird häufig mit effizienteren Märkten verbunden. Allerdings entstehen im Zuge reduzierter Informationsasymmetrien neue Institutionen, die im Kontext der Plattformökonomien und der zwei- bzw. mehrseitigen Märkte diskutiert werden und die neue Marktmacht entstehen lassen. Wenn die Informationsverfügbarkeit steigt, dann kann damit auch das Wissen zunehmen und schließlich die Fähigkeit, Wissen sinnvoll anzuwenden. Allerdings verfügt der Mensch selbst nur über eine begrenzte Informations- bzw. Verarbeitungskompetenz von Wissen. Zudem beeinflusst die Digitalisierung das Informationssystem in sehr heterogener Weise. Wie Ulrich Blum und Leonard Dudley ausführen, besteht ein übliches Informationssystem aus drei Teilen:5

  1. Informationstransport: Digitalisierung verstärkt hierarchische Strukturen dann, wenn die Kosten des Informationstransports drastisch sinken. Damit werden diskretionäre Eingriffe in das System und voluntaristische Schocks besonders leicht wirksam, wie beispielsweise Cyberattacken oder algorithmische Hysterie zeigen.
  2. Informationsspeicherung: Sinken die Kosten der Informationsspeicherung, dann ist der dezentrale Soll-Ist-Vergleich von Informationen und insbesondere auch von Handlungsweisen leichter zu verifizieren. Dezentrales, gleichartiges Handeln kann damit auf breiter Ebene durchgesetzt werden, wie beispielsweise Thomas Friedman betont.6
  3. Informationsverarbeitung: Sinken die Kosten der Informationsverarbeitung und damit der Bereitstellung von Wissen, so kann das Individuum bzw. seine Organisation erheblich autonomer handeln, weshalb atomistische Arrangements einen Wettbewerbsvorteil gewinnen.

Digitalisierung und Industriestruktur

Der „Kampf um Wertschöpfungsketten“ konzentrierte sich bisher weitgehend auf handelbare Güter, also die industrielle Produktion und bestimmte unternehmensorientierte Dienstleistungen. Zudem baut das Internet der Dinge auf Wertschöpfungskaskaden auf, um seine Wirkung voll zu entfalten. Ohne Wertschöpfungstiefe verliert die industrielle Digitalisierung ihre Werthaltigkeit. Mit ihrer Hilfe gelingt es, autonom handelnde Wertschöpfungsketten global verteilt zu kontrollieren,7 weshalb das Beschaffungsmanagement (supply chain management) erhebliche Veränderungen erfahren wird. Stichwort hierzu ist die Industrie 4.0 als digital organisierte und vernetzte Fabrik mit entsprechenden Strukturkomponenten im sogenannten Industrial Data Space, besonders von Werkstoffen im Materials Data Space. Außerdem ist es inzwischen möglich, von der Quelle bis zur Senke des Werkstoffstroms eine ganzheitliche Bewertung vorzunehmen, was hier als Total Design Management bezeichnet wird: das simultane Optimieren von Werkstoffen mit Hilfe eines funktionalen Designs, Marktgängigkeit mittels eines an den Absatzbedürfnissen orientierten Designs und schließlich das Design von Dekonstruktion und Recycling. Damit wird es möglich, eine „cradle to cradle“-Welt zu organisieren und somit die wirtschaftliche ebenso wie die umweltökonomische Effizienz zu verbessern.

Die drei Strukturen von Marktmodellen – vertikal, horizontal, atomistisch – lassen sich den bekannten Außenhandelstheorien zuordnen: Im atomistisches Modell sind keine externen Ökonomien vorgesehen. Es liegt daher sehr nahe am neoklassischen Außenhandelsmodell der komparativen Vorteile in der Tradition von David Ricardo.8 Das horizontale Modell unterstellt im Wesentlichen gleiche Informationsstände bei allen Beteiligten – noch konkreter: ähnliche Faktorausstattungen, weshalb die Verteilung der Produktion in der globalen Arbeitsteilung besonders durch das Modell des Aufgabenhandels (Task Trade)9 beschrieben werden kann. Hintergrund ist die Fähigkeit, aus Wertschöpfungsketten einzelne Aufgaben herauszulösen, die nach Transaktions- und Produktionskosten auf Standorte verteilt werden, die hierfür besonders geeignet sind, weil sie beispielsweise durch ihre Größe – trotz ähnlicher oder gleicher Ausstattungsrelationen – günstigere Kostenstrukturen aufweisen. Damit werden Netzwerke bedeutsam. Bezugspunkt ist das seit den 1990er Jahren diskutierte Off-Shoring-Modell, dem inzwischen durch Veränderung der Transaktionskostenstrukturen das Modell Re-Shoring gegenübersteht. Schließlich verweist die vertikale Struktur auf die Fähigkeit, externe Ökonomien, beispielsweise durch Größe und Mischung im Sinne des strategischen Handels10 solange zu realisieren, bis diese durch die zunehmenden Kontrollkosten kompensiert werden und damit das Wachstum der Unternehmung bei gegebener Technologie begrenzen.

Formaler Hintergrund

Der hier zugrundegelegte Ansatz baut auf einem Modell von Jean Tirole auf,11 das die Frage aufwirft, unter welchen Bedingungen ein Prinzipal ein Unternehmen gründet und mit welcher hierarchischen Tiefe das geschehen wird. Dabei werden zwei Systemtreiber isoliert: die Fähigkeit zur Kontrolle des Agenten und die Möglichkeit, Skaleneffekte zu realisieren. Im einfachen, zweistufigen Modell zwischen Prinzipal und Agent lautet die Lösung, dass die Diskriminante zwischen dem atomistischen Individuum und dem hierarchischen Unternehmen dort gesetzt ist, wo die externen Ökonomien nicht mehr in der Lage sind, die Kontrollkosten, die durch zunehmende Größe (die wiederum die externen Ökonomien treibt) notwendig werden, zu kompensieren. Diese Marginalitätsbedingung definiert also die Grenze von hierarchischen und atomistischen Unternehmen, ähnlich einer formalen Struktur, die die Überlegungen von Ronald Coase erweitert.12 Nun kann man das hierarchische Unternehmen weiterentwickeln: Ausgehend von dem zweistufigen Modell aus Prinzipal und Agent entsteht ein dreistufiges Modell durch die Einstellung eines Aufpassers, der durch Übernahme von Aufpasserfunktionen die Führung entlastet und das Realisieren zusätzlicher externer Ökonomien ermöglicht.

Ulrich Blum und Leonard Dudley13 haben dieses Modell im Kontext der institutionellen Abgrenzung von Zentralverwaltungswirtschaften gegenüber Marktwirtschaften neu formuliert und die Folgen des Verfalls der Informationskosten an historischen Beispielen bis hin zur Gegenwart herausgearbeitet.14 In der Tat finden sich starke Belege, dass Veränderungen der Kosten für die Überwachung und der Erträge aus externen Ökonomien fundamentale Folgen für die Arbeitsteilung hatten – und daher vermutlich im Zuge der Digitalisierung auch in Zukunft wirksam werden.

Treiber der Reintegration von Wertschöpfungsketten

Bisher führte die Digitalisierung bzw. der Verfall der Informationskosten zu einer Vertiefung der globalen Arbeitsteilung. Hierbei gewann der Fremdbezug, der „buy“, – ob außerhalb der eigenen Firma oder des Landes – im Vergleich zum „make“ innerhalb der eigen Firmenhierarchie an Bedeutung. Über die gleichen Informationskanäle wird dies angesichts steigender Transaktionskosten zurückgedreht. Folgende Tatbestände führen dazu, dass Unternehmen oder Staaten im internationalen Wettbewerb geneigt sind, ihre Wertschöpfungsketten stärker zu überwachen, sie an sich zu binden und gegebenenfalls sogar direkt zu integrieren und damit „tektonische Verschiebungen“ auslösen:

  1. Finanz- und Schuldenkrise sowie Renationalisierung: Grundlegende politische und wirtschaftspolitische Risiken haben im Nachgang der Weltfinanzkrise und anschließend – vor allem im Europa der Staatsschuldenkrise – stark zugenommen. Sie sind bis heute nicht ausgestanden, sondern werden allenfalls durch die expansive Geldpolitik überdeckt. Wenn gilt, dass souverän der ist, der über den Ausnahmezustand befindet,15 dann sind das heute nicht die demokratisch legitimierten Parlamente und Regierungen, sondern die Zentralbanken. Wenn nicht nur die Krise selbst, sondern auch deren Bewältigung eine divergierende Wirtschaftsentwicklung global – aber auch innerhalb der Eurozone – bisher verstärkt hat und inzwischen die Krisensymptome wieder zunehmen, dann werden Unternehmen danach trachten, jeweils unter solchen einheitlichen Ordnungsrahmen zu handeln, die ihre Risiken minimieren. Diese informationsökonomischen Überlegungen legen nahe, dass sich die unternehmerische oder national getriebene Integration von Wertschöpfungsketten verstärken sollte. Dies gilt insbesondere dann, wenn ein Risikoausgleich über unterschiedliche Märkte angesichts unbekannter asymmetrischer Risikowirkungen unsicher ist.
  2. Störungsanfälligkeit von Lieferketten: Beim aus Effizienzgründen weitverbreiteten Single Sourcing oder Dual Sourcing können Unterbrechungen der Wertschöpfungsketten beträchtliche Folgen für die eigene Produktionsfähigkeit haben. Sie werden nicht zwingend als symmetrischer Schock für alle Marktteilnehmer, also auch für die Wettbewerber, wirksam. Deutlich wurde dies im Jahr 2010 am Ausbruch des Vulkans Eyjafjallajökull in Island, der den Luftverkehr über dem Atlantik stark beeinträchtigte, oder im Folgejahr 2011 am Tohoku-Erdbeben und dem darauf folgenden Tsunami, der nicht nur die Katastrophe im Kernkraftwerk von Fukushima auslöste. Zahlreiche Zulieferer der Fahrzeugindustrie fielen aus, sodass bei einigen Herstellern monatelang die Produktion beeinträchtigt war. Erhebliche Störpotenziale haben auch regionale Konflikte, beispielsweise diametral unterschiedliche Herrschaftsansprüche im Südchinesischen Meer auf Meerengen und Kanäle (Straße von Malakka, Straße von Hormus, Bosporus, Suez- oder Panamakanal).
  3. Geschwindigkeit des technischen Fortschritts und internationale Wettbewerbsintensität: Wenn Unternehmen oder Staaten als institutionelle Arrangements im Wettbewerb stehen, dann verändern nicht nur Informations-, sondern auch Produktionstechnologien die Wettbewerbslandschaft. Aktuell stehen additive Fertigungsverfahren – bekannt als 3D- bzw. 4D-Druck – im Fokus, sind sie doch die intelligente Verbindung aus digitaler und klassischer Fertigungstechnologie. Sie begünstigen in erheblichem Maße ein Re-Shoring, wie aktuell beispielsweise die Firma Adidas mit der „speedfactory“ zeigt.
  4. Umwelt und Produktverantwortung: Ein wichtiger Treiber für mehr „make“ und weniger „buy“ wird die Verantwortung der Hersteller für ihre Produkte sein, weshalb das, was hier als Total Design Management bezeichnet wurde, zum Schließen der Wertschöpfungsketten führen wird. Die aktuelle Debatte über Plastikmüll in den Meeren – nicht nur über große (Makro-)Teile, sondern auch über Mikro- und Nanopartikel – sowie das Schließen der Märkte für Plastikmüllimporte seitens Chinas zeigt, wohin die Entwicklung gehen wird: fertigungsnahes Recycling und Verwertung, weil die Risikokosten einer Fehlallokation der Verwertung enorm steigen werden.

Dominanzerwartungstheorie und Zölle als Mittel der politischen und wirtschaftlichen Rivalität

Neben der Unternehmenspolitik tritt der Staat durch die zunehmende wirtschaftliche Kraft „gesteuerter Marktwirtschaften“ als Gestalter von Wertschöpfungsstrukturen auf. Diese Debatte scheint aktuell beispielsweise in der Diskussion um die Seidenstraßeninitiative der chinesischen Regierung auf, und auch bei der Frage, ob durch diese das klassische westliche Modell der Weltwirtschaft, verkörpert in der Welthandelsorganisation (WTO), durch ein chinesisches Ordnungsmodell abgelöst wird. Insbesondere die USA sehen sich als dominanter Spieler unter Druck gesetzt.

Dem klassischen ökonomischen Kalkül folgend sollte freier Handel friedensschaffend wirken. Schon Karl-Ferdinand von Willisen16 verweist jedoch darauf, dass bereits der Tausch­akt Feindseligkeit auslösen kann, weil er die Abhängigkeit von Volkswirtschaften besonders bei asymmetrischen Machtverhältnissen verdeutlicht, die eine einseitige Mehrgewinnerzeugung begünstigt. Dale C. Copeland zeigt auf, dass handelstreibende Länder eigentlich keinen Krieg führen sollten, aber gerade intensiv verflochtene es besonders häufig tun:17

  • Die liberale Position, die bereits 1748 bei Charles-Louis Montesquieu18 im „doux commerce“ aufscheint und die Albert Hirschman19 anhand einer dadurch begründeten Tugendhaftigkeit bestätigt, besagt, dass Handel wertvolle Vorteile erbringt, sodass vom Handel abhängige und besonders verwundbare Staaten keinesfalls den Konflikt suchen sollten – vereinfacht: Handel ist ertragreicher als Krieg, was auch Richard Cobden (1853) oder Norman Angell (1913) bezeugten.20
  • Die realistische Position hingegen argumentiert, dass genau das Gegenteil ständig anzutreffen sei. Der ökonomische Austausch erhöhe das Kriegsrisiko, weil Staaten mit starken Sicherheitsinteressen das Risiko der Abhängigkeit ablehnten, insbesondere bei strategischen Rohstoffen. Abhängigkeit, wie Kenneth Waltz postuliert,21 oder gar Erpressungspotenzial, wie John Mearsheimer vermutet,22 führen zu einem Drang nach Ausweitung der politischen und territorialen Kontrolle. Diese Überlegungen gehen historisch auf die Arbeit von Friedrich List zurück,23 der die Idee der strategischen Wirtschaftspolitik zum Aufbau eines Landes – auch gegen den Widerstand seiner Rivalen – formulierte und wurden beispielsweise von Paul Krugman24 in der Neuen Außenhandelstheorie und von Jean Tirole25 in der modernen Industrieökonomik stringent formuliert.

Unter zu erwartenden Konfliktbedingungen ist die Sicherung der Lieferkette entscheidend dafür, die Rivalität auszuhalten bzw. sie siegreich zu beenden. Viele nationale Gesetzgebungen setzen hier an, wenn sie ausländische Unternehmensübernahmen verbieten oder der Staat – ganz gegen das liberale Ideal – Eigner sogenannter strategischer Industrien ist. Genau dies tut China gemäß der Aufholstrategie von Friedrich List26 extensiv – nach innen und nach außen. Die USA versuchen, die künftig erwartete Dominanz Chinas zu brechen, solange es noch möglich scheint, weil sie höhere (diskontierte) volkswirtschaftliche Verluste vermuten als die gegenwärtigen Kosten eines Wirtschaftskriegs.27 Der Druck auf den Freihandel ist dabei ein akzeptierter Kollateralschaden.

„Made in China 2025“ und die „Crying Curve of Asia“

Auch aus chinesischer Sicht gibt es ein Dominanzproblem: Der historische Nachholbedarf, dessen Beginn gern mit dem Rückzug von der Globalisierung Anfang des 15. Jahrhunderts durch das Verbrennen der global aktiven Flotte des berühmten Admirals Zheng He, mit der mandschurischen Machtübernahme 1647 und schließlich mit dem Opiumkrieg 1839 in Verbindung gebracht wird, soll überwunden werden. Letzteres ist deshalb ein Menetekel, weil der Krisengrund damals der gleiche war wie er aktuell ist: Ein Leistungsbilanzdefizit, damals Englands, heute das der USA.

Ergänzt wird dies durch steigende Risiken infolge geostrategischer Unsicherheiten im Südchinesischen Meer, an der Meerenge von Malakka, denen China beispielsweise durch die terrestrische Seidenstraße entgegenwirken will, die aus Mitteln der neu gegründeten Asia Infrastructure Investment Bank (AIIB) finanziert wird. Damit soll ein Absatzkanal für exportgetriebenes Wachstum der Westprovinzen geschaffen werden. Viele Länder aber sehen diese Strategie als politischen Risikofaktor an, der auch wirtschaftlich wirksam werden kann. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die Stellungnahme der EU-Botschafter in Peking vom Frühjahr 2018.

Hinzu kommt Chinas Strategie „Made in China 2025“28 und sein Interesse an der Übernahme von Hochtechnologieunternehmen. Jost Wübbeke et al. haben die Folgen dieser Strategie für einzelne Volkswirtschaften analysiert und dabei deren Betroffenheit an zwei Indikatoren festgemacht: dem Anteil der industriellen (also gewerblichen) Wertschöpfung und dem Anteil des Hochtechnologie-Inputs an der industriellen Produktion (vgl. Abbildung 2). Die Betroffenheit der Industrieländer durch „Made in China 2025“ ist janusköpfig: Wenn sie zunimmt, hier dargestellt als Positionierung in Richtung des nordöstlichen Quadranten, steigt auch die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft aufgrund des Technologiegehalts ihrer Produktion und der globalen Absatzfähigkeit der handelbaren Güter.

Abbildung 2
Industrieanteile und Technologieintensität in ausgewählten Industrieländern
Industrieanteile und Technologieintensität in ausgewählten Industrieländern

Quelle: eigene Darstellung auf Grundlage von J. Wübbeke, M. Meissner, M. Zenglein, J. Ives, B. Conrad: Made in China 2025, The Making of a High-Tech Superpower and Consequences for Industrial Countries, Merics Papers on China 2, Berlin 2016, S. 8.

Geringe Industrieanteile und geringe Technologieintensität belegen eine zumindest sektorale Wettbewerbsschwäche. Denn das mit „Made in China 2025“ verbundene Güterbündel betrifft die eigene Wirtschaft nur begrenzt – sie könnte sogar von sinkenden Preisen als Folge einer global erhöhten Wettbewerbsintensität profitieren. Manche Länder, beispielsweise die USA oder Großbritannien, kompensieren Verluste an der industriellen Basis durch hohe Anteile an international handelbaren Dienstleistungen aus dem Finanzsektor, durch eine starke Position in der digitalen Ökonomie oder mittels unternehmensorientierter Dienstleistungen. Hinzu treten hohe Gewinneinnahmen von Unternehmen im Ausland. Allerdings löst das nicht das Verteilungsproblem im eigenen Land, insbesondere nicht die Zukunft der Industriearbeiterschaft. Diese polit-ökonomische Flanke ist aber aus wahlstrategischen Gründen in einer Demokratie bedeutsam.

Abbildung 3
Positionierung asiatischer Länder in der globalen Lieferverflechtung
Positionierung asiatischer Länder in der globalen Lieferverflechtung

Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an H. Escaith, S. Inomata: The Evolution of Industrial Networks in East Asia: Stylized Facts and Role of Trade Facilitation Policies, mimeo 2013; und World Intellectual Property Organization (WIPO): World Intellectual Property Report 2017: Intangible Capital in Global Value Chains, Genf 2017.

Schließlich tritt die Erfahrung vieler Post-Transformations- oder Schwellenländer hinzu, dass industrielle Produktion oder einfache Dienstleistungsfunktionen als outgesourcte Aufgaben leicht unter Entlohnungsdruck geraten, hingegen Aufgaben und Tätigkeiten, die nahe an den Führungsfunktionen angesiedelt sind, Großteile der Wertschöpfung an sich ziehen können. Die Analysen von Hubert Escaith und Satoshi Inomata zeigen die Lieferverflechtungen aufwärts und abwärts der Wertschöpfungskette auf Basis einer globalen Input-Output-Analyse und weisen dabei nach, in welchem Umfang die globale Arbeitsteilung bisher den Westen begünstigt.29 Abbildung 3 verdeutlicht, dass es die frühen und die späten Stufen sind, die Länder – zulasten der sogenannten Werkbänke der globalen Wirtschaft – reich machen und dass damit ein Verteilungsproblem zwischen den Schwellenländern und den Industrieländern entsteht. Die Flaggenfolge lehnt sich an ein „Weltkompaktauto“ eines US-Konzerns an, bei dem das Design aus Detroit stammt, die Forschung und Entwicklung in Deutschland stattfinden, Teile aus Kanada und Korea kommen, die Montage in China und die Koordinierung des Marketings sowie der Kundendienste wieder in den USA stattfinden. Nicht umsonst versucht China, über seine Dominanz bei bestimmten strategischen Rohstoffen wie Seltene Erden, die deshalb auch nicht an den Börsen gehandelt werden, seine Wertschöpfungsposition zu verbessern.

Abbildung 4
Wertmäßige Verteilung der Wertschöpfungspositionen
Wertmäßige Verteilung der Wertschöpfungspositionen

Quelle: eigene Darstellung aus World Intellectual Property Organization (WIPO): World Intellectual Property Report 2017: Intangible Capital in Global Value Chains, Genf 2017; und S. Yuan: Intangible Assets Key Components of Value, in: China Daily vom 30.11.2017, S. 17.

Die World Intellectual Property Organization30 hat die Dynamik der zeitlichen Veränderungen qualitativ dargestellt; die sogenannte „Lachkurve" des Westens vertiefte sich in den vergangenen 47 Jahren – die rein industriellen Prozesse verlieren an Gewicht. Eine weitere Frage lautet, wie sich diese Lachkurve unter den Bedingungen des Pariser Klimavertrags und damit der Notwendigkeit, zirkuläre Elemente aus der Wirtschaft auszubauen, weiterentwickelt. Das wird am rechten Rand der Abbildung angedeutet: Vermutlich wird eine moderne Recycling- und Verwertungswirtschaft in Zukunft einen wichtigen Beitrag zur Wertschöpfung leisten (Variante 1) – derzeit ist sie eher ein Verlustgeschäft (Variante 2). Das hohe Interesse Chinas an Recyclingfirmen deutet darauf hin, dass hierin strategisch bedeutsame Marktpotenziale gesehen werden. Das Gegenstück der Lachkurve, nämlich die „Crying Curve of Asia“ stellt eine weitere wichtige Begründung für „Made in China 2025“ dar. Noch deutlicher sieht man das in Abbildung 4, welche die Aufteilung der Wertschöpfung bei der Produktion eines Smartphones darstellt.

Tatsächlich liegt nur ein geringer Teil der Wertschöpfung eines Smartphones im Herstellerland China. Hingegen bleibt über die Hälfte im Unternehmenssitzland, das die gesamte Wertschöpfungskette sowie hohe Anteile von Handel und Vertrieb kontrolliert, weshalb der Kampf um Wertschöpfungsketten eine Frage des nationalen Wohlstands ist.

Freihandel im Rückwärtsgang?

Gern wird Donald Trump die Schuld an der Zerstörung des Freihandels-Ideals zugeschoben. Tatsächlich liegt der „Kennan-Punkt“31 viel früher und hat einiges mit dem fehlenden Willen des Westens zu tun, das aufstrebende China rechtzeitig in die bis heute westlich geprägten internationalen Wirtschaftsinstitutionen einzubinden und dabei auch weit stärker als bis zum Auftreten von Trump darauf zu pochen, dass deren explizite und implizite Regeln eingehalten werden.

Bereits unter Präsident Barack Obama zogen sich die USA aus ihrer Rolle als globaler Garant der Weltordnung zurück und beförderten die sichtbare Erosion des Freihandels-Ideals. Für die Freihandelsrunden der WTO, insbesondere die Doha-Runde, fand Obama kaum Interesse und seine Unterstützung für atlantische oder pazifische Handelsabkommen war eher halbherzig oder sogar kontraproduktiv: Beim Transpazifischen Handelsabkommen (TPP) wurde China strategisch ausgeschlossen, inzwischen haben die USA es verlassen.

In diesem Kontext ist der Versuch Chinas, sein Ordnungsmodell global durchzusetzen, nicht verwunderlich. Und China hat wenige Alternativen, seit sein schuldengetriebenes Entwicklungsmodell an Grenzen stößt. Es muss den technologischen Gehalt in den Wertschöpfungsketten ausweiten – das soll „Made in China 2025“ leisten und dabei die Rohstoffe sichern. Die klar sichtbare Afrika­strategie, teilweise auch die Strategie an den Rändern der EU, dem der Westen bisher nichts entgegensetzt, verdeutlicht beides. Tatsächlich spricht aus empirischer und theoretischer Sicht vieles dafür, dass freie Märkte im Handel auf dem Rückzug sind. Dies wird sich nicht zwingend an den Handelsvolumina selbst ablesen lassen, weil über die Verfasstheit der dabei berührten Märkte nur unvollständige Kenntnisse bestehen.

  • 1 Die Koerzitivfeldstärke ist das Widerstandsmaß eines magnetisierten Körpers gegen endgültige Entmagnetisierung. Sie hängt unter anderem von den Materialeigenschaften, aber auch von den Umweltbedingungen ab, beispielsweise von der Umgebungstemperatur. Dieses Beispiel ist gut geeignet, die Probleme des Freihandels in der gegenwärtigen Phase der globalen wirtschaftspolitischen Auseinandersetzung darzustellen, weil dieser heute in einer völlig anderen Umgebung aufrechterhalten werden soll und starke Gegenkräfte wirksam werden, um ihn zu schwächen bzw. ihm alternative Verfahren der Wohlstandsgewinnung gegenüberzustellen.
  • 2 Deutsche Bundesbank: Zu den Auswirkungen der Internationalisierung deutscher Unternehmen auf die inländische Investitionstätigkeit, Monatsbericht, Nr. 1/2018, S. 17.
  • 3 J. Pei: Gaokao Reform and China’s Upgrading in GVCs, CEM-Workshop on Total Design Management and Global Value Chains, Halle 2018, im Erscheinen.
  • 4 R. H. Coase: The Nature of the Firm, in: Economica, 4. Jg. (1937), Nr. 13-16, S. 386-406.
  • 5 U. Blum, L. Dudley: The Two Germanies: Information Technology and Economic Divergence, 1949-1989, in: Journal of Institutional and Theoretical Economics, 166. Jg. (1999), H. 4, S. 710-737.
  • 6 T. Friedman: The World is Flat, New York 2004.
  • 7 Das entsprechende organisationstheoretische Referenzmodell hat Michael Porter mit den primären und sekundären Wertschöpfungsketten beschrieben: M. E. Porter: Wettbewerbsstrategie – Methoden zur Analyse von Branchen und Konkurrenten, 10. Aufl., Frankfurt a. M. 1999.
  • 8 D. Ricardo: On the Principles of Political Economy and Taxation, London 1817; deutsche Ausgabe: Grundsätze der Volkswirtschaft und Besteuerung, Jena 1923.
  • 9 G. Grossman, E. Rossi-Hansberg: Trading Tasks: A Simple Theory of Offshoring, in: The American Economic Review, 98. Jg. (2008), H. 5, S. 1978-1997.
  • 10 F. List: Das nationale System der politischen Ökonomie, Stuttgart, Tübingen 1841, 5. Aufl., Jena 1928; P. Krugman: Rethinking International Trade, Cambridge MA 1990.
  • 11 J. Tirole: Hierarchies and Bureaucracies: On the Role of Collusion in Organizations, in: Journal of Law, Economics and Organization, 2. Jg. (1986), H. 2, S. 181-214.
  • 12 R. H. Coase, a. a. O.
  • 13 U. Blum, L. Dudley: The Two Germanys ..., a. a. O.
  • 14 U. Blum, L. Dudley: Blood, Sweat, Tears: Rise and Decline of the East German Economy, 1949-1988, in: Zeitschrift für Nationalökonomie und Statistik – Journal of Economics and Statistics, 220. Jg. (2000), H. 4, S. 438-462; U. Blum, L. Dudley: Religion and Economic Growth: Was Weber Right?, in: Journal of Evolutionary Economics, 11. Jg. (2001), H. 2, S. 207-230; U. Blum, L. Dudley: Standardized Latin and Medieval Economic Growth, in: European Review of Economic History, 7. Jg. (2003), H. 2, S. 213-238.
  • 15 C. Schmitt: Politische Theologie – Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Berlin 1922, 7. Aufl., Berlin 1996.
  • 16 K.-F. v. Willisen: Begriff und Wesen des Wirtschaftskriegs, Jena 1919, S. 13.
  • 17 D. C. Copeland: Economic Interdependence and War: a Theory of Trade Expectations, in: International Security, 20. Jg. (1996), H. 4, S. 5-41.
  • 18 C.-L. Montesquieu: L‘esprit des lois, Genf 1748, deutsch: Vom Geist der Gesetze, Stuttgart 1976.
  • 19 A. Hirschman: Rival Interpretations of Market Society, in: Journal of Economic Literature, 20. Jg. (1982), H. 12, S. 1463-1484.
  • 20 R. Cobden: How Wars are Got Up in India. The Origin of the Burmese War, London 1853, in: The Political Writings of Richard Cobden, London 1903; N. Angell: The Great Illusion, London 1909, 2. Aufl., New York 1933.
  • 21 K. Waltz: Theory of International Politics, New York 1979.
  • 22 J. J. Mearsheimer: Back to the Future: Instability in Europe after the Cold War, in: International Security, 15. Jg. (1990), H. 1, S. 5-56.
  • 23 F. List, a. a. O.
  • 24 P. Krugman, a. a. O.
  • 25 J. Tirole: The Theory of Industrial Organization, Cambridge MA 1988.
  • 26 F. List, a. a. O.
  • 27 Zur Definition, vgl. U. Blum: Wirtschaftskrieg – Rivalität ökonomisch zu Ende denken, Series in Political Economy and Economic Governance, Bd. 9, 2. Aufl., Halle 2017, S. 39.
  • 28 J. Wübbeke, M. Meissner, M. Zenglein, J. Ives, B. Conrad: Made in China 2025, The Making of a High-Tech Superpower and Consequences for Industrial Countries, Merics Papers on China 2, Berlin 2016.
  • 29 H. Escaith, S. Inomata: The Evolution of Industrial Networks in East Asia: Stylized Facts and Role of Trade Facilitation Policies, mimeo 2013; S. Inomata: Analytical Frameworks for Global Value Chains: an Overview, in: Measuring and Analizing the Impact of GVCs on Economic Development, World Bank Group, IDE-JETRO, OECD, UIBE, WTO, Washington DC 2017, S. 15-35.
  • 30 World Intellectual Property Organization (WIPO): World Intellectual Property Report 2017: Intangible Capital in Global Value Chains, Genf 2017, S. 10.
  • 31 George Kennan beschrieb, von welchem Zeitpunkt an die Sowjetunion gegenüber den USA feindlich wurde. Vgl. G. Kennan: The Sources of Soviet Conduct, in: Foreign Affairs, 25. Jg. (1947), H. 4, S. 566-582, http://www.historyguide.org/europe/kennan.html (2.10.2018).

Title:The Struggle for Value Chains: War Against Free Trade?

Abstract:Against the backdrop of the present conflict between China and the US, public discourse often sees free trade is a value as such; more aptly put, it is a method to generate prosperity. Within the market economy context, there are others methods of attaining wealth that may be in conflict with free trade. The following contribution shows that an institutional economics approach is able to explain the present trade conflict relating to fundamentally altered risk and communication structures.

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DOI: 10.1007/s10273-018-2360-1

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