Ein Service der

Artikel als PDF herunterladen

1000 Mrd. Euro sind eine große Summe. Es ist daher verständlich, dass ein deutscher Target-Saldo in dieser Größe mediale Aufmerksamkeit erhält. Aber zeigt die große Summe auch ein großes Problem an? Hier gehen die Meinungen weit auseinander. Manche sprechen von Hysteriea und einem „Scheinriesen“b, andere von „echten Risiken für Deutschland“c, die in irreführender Weise verharmlost werden. Dieser Beitrag erläutert, warum die Target-Debatte so kontrovers und hitzig verläuft.

Ein hoher positiver Target-Saldo wird aus drei Gründen als großes Problem gekennzeichnet.1 Erstens zeige er eine marktinkonforme Geldpolitik in Form eines öffentlichen Überziehungskredits zwischen den nationalen Notenbanken des Eurosystems an, „der es anderen Volkswirtschaften des Euroraums ermöglicht hat, ohne am privaten Kapitalmarkt Auslandskredite aufzunehmen, einen Nettozustrom von Waren, Dienstleistungen und Vermögenstiteln aus Deutschland zu bezahlen.“2 Zweitens sei der positive deutsche Target-Saldo ein Teil der deutschen Auslandsforderungen und damit den Währungsreserven gleichzusetzen, die im System von Bretton Woods akkumuliert wurden. Allerdings kann diese Forderung niemals fällig gestellt werden, sodass es sich um ein „Geschenk der Bundesrepublik Deutschland an das Ausland“3 handele. Drittens stärke ein negativer Target-Saldo den Anreiz für einen Euro-Austritt der Schuldnerländer, die dann (einen Teil) ihre(r) Auslandsschulden nicht mehr bedienen müssten. Dies werden die Target-Gläubigerländer in jedem Fall verhindern wollen, um offene Verluste zu vermeiden, sodass der Weg von der Währungs- zur Transferunion vorprogrammiert sei. Das Target-Problem ist folglich durch eine Änderung der Geldpolitik oder einen jährlichen Ausgleich der Salden durch den Transfer werthaltiger Aktiva zu lösen. Sollte dies nicht möglich sein, sei als letzter Schritt ein Euro-Austritt Deutschlands zur Abwehr weiterer Risiken nicht auszuschließen.

Die Gegenseite in dieser Debatte weist darauf hin, dass Target-Salden geldpolitische Eingriffe zur Bekämpfung der Finanz- und Eurokrise sowie zur Abwendung einer Deflation durch den Kauf von Wertpapieren (Quantitative Easing) reflektieren. Sie zeigen also an, dass es Probleme gibt und diese angegangen werden müssen, sind aber selbst nicht das Problem. Target-Salden haben zudem keine Auswirkungen auf die Höhe der deutschen Nettoauslandsforderungen, sondern nur auf Zusammensetzung und Volumen der Bruttoauslandsforderungen. Target ermögliche daher keine Geschenke. In bestimmten Situationen tragen die Salden sogar dazu bei, Verluste für den deutschen Sparer zu verhindern. In jedem Fall bleibe die Risikoposition Deutschlands auf den deutschen Kapitalanteil an der EZB begrenzt, sodass sich aus den Salden kein zusätzlicher Anreiz ergibt, die Währungsunion zu verlassen.

Target, Zentralbankgeld und Leistungsbilanz

Zur Überprüfung dieser Thesen bedarf es einer klaren Vorstellung darüber, was Target-Salden sind. Target-Salden sind Salden, die bei den nationalen Notenbanken (NZB) des Eurosystems aus dem europäischen Target2-System heraus resultieren.4 Die darüber abgewickelten internationalen Zahlungen stehen im Zusammenhang mit dem Export und Import von Gütern und Dienstleistungen sowie dem grenzüberschreitenden Kauf und Verkauf von Real- und Finanzaktiva.5 Target-Salden stehen allerdings in keinem direkten Zusammenhang mit Leistungsbilanzsalden, da diese allein durch Kredite der Banken (und anderer Gläubiger) der Überschussländer an die Defizitländer bzw. deren Bankensysteme finanziert werden können. So war es zwischen 1999 und Juli 2007 (vgl. Abbildungen 1 und 2): Die Target-Salden waren praktisch Null, während sich im Euroraum erhebliche Leistungsbilanzsalden herausbildeten.

Abbildung 1
Target-Salden 2001 bis Juni 2018
Target-Salden 2001 bis Juni 2018

Quelle: EZB; eigene Zusammenstellung.

Abbildung 2
Leistungsbilanzsalden ausgewählter EWU-Staaten
Leistungsbilanzsalden ausgewählter EWU-Staaten

Quelle: IWF; eigene Zusammenstellung.

Nach 2008 gingen die Leistungsbilanzdefizite in den Peripherieländern spürbar zurück, während die Target-Salden erheblich anstiegen. Da ein negativer Target-Saldo einen öffentlichen Kapitalimport darstellt, „finanziert“ er ein Leistungsbilanzdefizit, wenn der private Nettokapitalimport Null bzw. negativ ist und öffentliche Kapitalimporte aus anderen Quellen nicht ausreichen, um das Leistungsbilanzdefizit zu decken. Die empirische Evidenz deutet darauf hin, dass dies in den Krisenjahren 2007 bis 2012 in einigen Ländern der Fall war, auch wenn die Target-Salden vor allem die Kapitalflucht aus diesen Ländern widerspiegeln.6 Mittlerweile sind in den relevanten Ländern der Europäischen Währungsunion (EWU) die Leistungsbilanzen jedoch praktisch ausgeglichen oder weisen Überschüsse auf. Die Target-Salden – insbesondere von Italien und Spanien – rutschen seit 2015 dennoch wieder stärker ins Minus.

Dagegen sind für Deutschland seit 2004 steigende bzw. stabil hohe Leistungsbilanzüberschüsse zu verzeichnen, die der private Sektor erwirtschaftet. Entsprechend stieg die Nettovermögensposition gegenüber dem Ausland – unter Berücksichtigung von Bewertungseffekten – von 1999 bis 2007 um ca. 400 Mrd. Euro, und von 2007 bis 2018 um 1,4 Billionen Euro.7 Im Zuge der finanziellen Integration, nicht nur im Euroraum, nahmen die Bruttoforderungen an das Ausland von 1999 bis 2007 um ca. 3 Billionen Euro, und von 2007 bis 2018 um weitere 2 Billionen Euro zu. Die Bundesbank wies zu Beginn der Finanzkrise 2007 eine Nettovermögensposition nahe Null aus. Danach stieg sie bis Mitte 2012 stark an und liegt nach einem Rückgang im Sommer 2018 wieder bei ca. 500 Mrd. Euro (vgl. Abbildung 3).

Abbildung 3
Entwicklung der Nettoauslandsvermögensposition Deutschlands und der Bundesbank
Entwicklung der Nettoauslandsvermögensposition Deutschlands und der Bundesbank

Quelle: Deutsche Bundesbank; eigene Berechnungen.

Exporte und Importe sowie grenzüberschreitende Käufe von Vermögensgütern stellen also keine hinreichende Bedingung für Target-Salden dar. Dies liegt daran, dass es im Wesentlichen die Geldpolitik ist, die darüber entscheidet, ob größere Target-Salden überhaupt aufgebaut werden können. Denn sie können nur entstehen, wenn zwischen den an Target teilnehmenden Ländern netto Zentralbankgeld übertragen wird. Dieser Nettotransfer ist in größerem Umfang nur möglich, wenn in mindestens einem EWU-Land durch entsprechende Aktivgeschäfte des Eurosystems Überschussreserven entstehen.8 Dies war bis Juli 2007 nicht der Fall. Wie in anderen westlichen Ländern wurde jedem einzelnen nationalem Bankensystem sowie dem Euroraum als Ganzes im Wesentlichen nur so viel Zentralbankgeld zur Verfügung gestellt, um den Bargeldbedarf zu decken und die Mindestreservepflicht zu erfüllen. Entsprechend klein waren die Target-Salden von 1999 bis 2007. Seit August 2007 kreiert das Eurosystem – also die EZB und die NZB – jedoch Überschussreserven durch entsprechende Aktivgeschäfte. Diese Änderung der Geldpolitik, die in praktisch allen westlichen Ländern ähnlich vorgenommen wurde, reflektiert die Ausübung der Lender-of-Last-Resort-Funktion (LoLR-Funktion) als Folge der Finanz- und Eurokrise (bis 2012) sowie Quantitative Easing nach Erreichen der Nullzinsgrenze und Inflationsraten, die sich in Richtung Deflation bewegten (seit März 2015).

Target-Salden und der Lender of Last Resort

Mit Beginn der Subprime-Krise im August 2007 übernahm das Eurosystem zum ersten Mal die LoLR-Funktion. Es versorgte Banken, die in Liquiditätsschwierigkeiten waren, mit Zentralbankgeld, das an die Gläubigerbanken, die zuvor nationale oder internationale Zahlungsdefizite finanziert hatten9 und nun ihr Geld zurückhaben wollten, überwiesen wurde. Der deutsche Target-Saldo stieg entsprechend. Bis zum Lehman-Konkurs nutzten die deutschen Banken (wie die Bankensysteme anderer Target-Überschussländer) den Nettozufluss an Zentralbankgeld vor allem dazu, ihre Verschuldung bei der Bundesbank (bei den anderen NZB) abzubauen. In der Bilanz des Eurosystems kam es daher lediglich zu einer Umverteilung der Forderungen aus geldpolitischen Operationen von Ländern mit positiven Target-Salden (weil ihre Bankensysteme weniger Kredit nachfragten) zu Ländern mit negativen Target-Salden (weil deren Bankensysteme einen hohen Liquiditätsbedarf hatten). Im Gesamtsystem entstanden daher erst nach dem Konkurs von Lehman Überschussreserven, als systemweit die Nachfrage nach Liquidität sprunghaft anstieg. Die massive Ausweitung der Target-Salden fand dann in der Eurokrise 2010 bis 2012 statt. Diese war bekanntlich in hohem Maße asymmetrisch. Entsprechend setzte eine massive Kapitalflucht von der Peripherie nach Kerneuropa ein, die das Eurosystem Ende 2011/Anfang 2012 über die Bereitstellung von zwei Langfristtendern in einem Gesamtumfang von ca. 1000 Mrd. Euro sowie einzelne NZB über ELA-Kredite ermöglichten. Diesmal nutzten die deutschen Banken den Zufluss an Zentralbankgeld, um ihre Verschuldung bei der Bundesbank nahezu vollständig abzubauen. Gleichzeitig stieg der deutsche Target-Saldo deutlich an; der Gesamtsaldo kletterte von ca. 300 Mrd. Euro auf 1100 Mrd. Euro (vgl. Abbildung 1). Nach den Beschlüssen des Europäischen Rates und der Londoner Rede von Präsident Draghi im Sommer 2012 kehrte Vertrauen zurück. Die ehemaligen Gläubiger der Banken aus Target-Schuldnerländern waren wieder bereit, Kredite an diese Banken und Schuldner zu vergeben. Entsprechend wurden Überschussreserven abgebaut und die Target-Salden sanken bis Ende 2014 auf ca. 600 Mrd. Euro.

Target-Salden und Quantitative Easing

Die zweite Episode der Target-Salden begann Anfang des Jahres 2015, als die Staatsanleihekäufe der EZB Überschussreserven im System schufen.10 Im Gegensatz zu 2007 bis 2014 wurde dieser Anstieg der Überschussreserven vom Eurosystem aktiv betrieben,11 um Portfolioumschichtungen und so trotz Erreichen der Nullzinsgrenze eine weitere geldpolitische Lockerung anzustoßen. Dies galt als notwendig, weil sich die Inflationsrate deutlich von der Definition von Preisstabilität, knapp unter 2 % in der mittleren Frist, nach unten entfernte hatte. Quantitative Easing hätte allerdings keine Auswirkungen auf die Target-Salden gehabt, wenn die Verkäufer deutscher, italienischer etc. Staatsanleihen die Erlöse so zum Erwerb neuer Aktiva genutzt hätten, dass gleich hohe Überschussreserven bei der Bundesbank, der Banca d’Italia etc. entstanden wären. Die Target-Salden zeigen an, dass dies nicht der Fall war. Dafür gibt es zwei Ursachen: Die erste ist ähnlich wie beim LoLR: den bisherigen Haltern italienischer und spanischer Titel, darunter auch deutsche Investoren, sind die italienischen und spanischen Banken zu unsicher. Sie ziehen es daher vor, Einlagen bei sicheren deutschen Banken zu erwerben. Damit werden die Überschussreserven bei der Bundesbank größer als die ihr zugeordneten Aktiva (also die deutschen Staatsschuldtitel, die die EZB kauft). Zweitens stellt Deutschland, zusammen mit Luxemburg und den Niederlanden das Finanzzentrum des Euroraums dar (vgl. auch Kasten 1). EWU-gebietsfremde Verkäufer von EWU-Staatsanleihen, die diese Anleihen zum Teil schon zuvor in Deutschland hielten, parken die Erlöse in Deutschland und erzeugen damit den positiven Target-Saldo der Bundesbank.12

Kasten 1
Deutschland als Finanzzentrum für Euro-Bargeld

In der jüngsten Diskussion über die Target-Salden geht eine weitere Besonderheit der Währungsunion und ihrer bilanziellen Implikationen weitgehend unter, obwohl sie durchaus erwähnt wird.1 Es handelt sich um Verbindlichkeiten der Bundesbank gegenüber der EZB, die aus der Euro-Banknotenemission resultieren, d. h. eine Überemission von Banknoten durch die Bundesbank im Vergleich zum Verteilungsschlüssel2 sowie zur (geschätzten) tatsächlich in Deutschland umlaufenden Bargeldmenge anzeigen.3 Im Sommer 2018 beliefen sich diese Verbindlichkeiten auf rund 400 Mrd. Euro. Die Nettoauslandsforderungen der Bundesbank waren daher deutlich kleiner als der Target-Saldo. Alle Positionen berücksichtigend lag er im Sommer 2018 – „lediglich“ – bei knapp 500 Mrd. Euro. Die ökonomische Interpretation dieser Verbindlichkeit kann ebenso strittig diskutiert werden wie die des Target-Saldos. Einerseits spiegelt sie lediglich wider, dass Deutschland – auch aus historischen Gründen – das Finanzzentrum des Euroraums für die Verteilung von Euro-Banknoten sowohl innerhalb als auch außerhalb der Währungsunion, z. B. für Osteuropa darstellt.4 Die Verbindlichkeit ist also – vergleichbar dem positiven Target-Saldo, sofern er sich aus der gleichen Funktion ergibt – ein Ausdruck von Stärke, und nicht von Schwäche. Es kann auch hinterfragt werden, ob es sich wirklich um eine Verbindlichkeit der Bundesbank und damit Deutschlands handelt, weil die Banknoten vom Eurosystem als Ganzes herausgegeben werden. Man kann sich aber auch auf den Standpunkt stellen, dass die Verbindlichkeit aus der Euro-Banknotenemission anzeigt, dass in Deutschland mehr Geld geschöpft wird „als es gemäß [ihrer] Landesgröße zur Liquiditätsversorgung der heimischen Wirtschaft nötig“5 ist. Das von der Bundesbank emittierte Bargeld erlaubt es schließlich genauso, russischen Staatsbürgern in der Toskana oder an der Cote d’Azur Immobilien zu erwerben, wie es die von der Bank of Greece geschaffenen Überschussreserven den griechischen Banken ermöglichen, ihre Verbindlichkeiten bei deutschen Banken zu reduzieren. Entsprechend sind beide Positionen gleich zu behandeln. Genau so wird es in der Auslandsposition der Bundesbank gehandhabt.

  • 1 H.-W. Sinn: Fast 1000 Milliarden Target-Forderungen ..., a. a. O.; J. Weidmann: „Den Unmut der Sparer kann ich gut verstehen“, a. a. O.
  • 2 Konkret: Nachdem der EZB 8 % des Gesamtwerts des Banknotenumlaufs zugeteilt werden, werden die verbleibenden 92 % auf die NZB gemäß ihrem eingezahlten Kapital zugeteilt.
  • 3 Deutsche Bundesbank: Ausweis von Euro-Bargeld in der Zahlungsbilanz und im Auslandsvermögensstatus, Monatsbericht, März 2015, S. 96-98.
  • 4 C. Jobst, M. Handig, R. Holzfeind: TARGET verstehen – Das Zahlungsverkehrssystem TARGET2 aus volkswirtschaftlicher und bilanzieller Sicht, in: Geldpolitik und Wirtschaft, Q1/2012, S. 86-87.
  • 5 H.-W. Sinn: Fast 1000 Milliarden Target-Forderungen der Bundesbank ..., a. a. O., S. 26.

Spiegeln Target-Salden eine marktinkonforme Geldpolitik wider?

Sind die Target-Salden ein Problem, weil sie eine markt­inkonforme Geldpolitik anzeigen? Die Antwort hängt davon ab, ob man die Ausübung der LoLR-Funktion und Quantitative Easing als marktinkonforme Geldpolitik ansieht. Denn diese Politiken ermöglichten das Entstehen von Target-Salden, auch wenn ihre Höhe allein von den Entscheidungen des privaten Sektors bestimmt wird, im Rahmen des freien Kapitalverkehrs die ihm zufallenden Überschussreserven so zu nutzen, dass es zu einer Differenz zwischen Bargeld und Reserven und der den jeweiligen NZB zugeordneten Aktiva aus geldpolitischen Operationen kommt. Damit wird auch deutlich, warum die Bundesbank die Forderungen aus Target2 – im Gegensatz zu den Dollar-Forderungen im Bretton-Woods-System – nicht fällig stellen kann: sie erwirbt diese Forderungen gar nicht (während sie 1948 bis 1973 aktiv am Devisenmarkt tätig war). Vielmehr erzwingt der private Sektor bei gegebener Geldpolitik im Rahmen einer Währungsunion mit freiem Kapitalverkehr den positiven Target-Saldo und damit den Aufbau einer Forderung der Bundesbank gegen die EZB.13

Die Kritik zielt daher gar nicht auf die Target-Salden an sich, sondern auf die Aktivgeschäfte der EZB, die diese ermöglichen. Dies erklärt, warum die Vollzuteilungspolitik, ELA-Kredite und das Agreement on Net Financial Assets (ANFA) sowie die Staatsanleihekäufe im Zusammenhang mit den Salden so stark kritisiert werden. Allerdings verschleiern diese Begriffe mehr als sie aufdecken, denn im Kern geht es um eine Kritik am LoLR und an Quantitative Easing. Aus der Sicht der Target-Kritiker gibt es keine Liquiditäts-, sondern nur Solvenzprobleme, und eine Gefährdung des Ziels Preisstabilität war 2014/2015 auch nicht gegeben.14 Die Target-Salden werden instrumentalisiert, um in der Öffentlichkeit eine Geldpolitik in Misskredit zu bringen, die zwischen 2007 und 2012 auf der Grundlage einer 150 Jahre alten Zentralbanktradition (LoLR) agierte und seit 2015 auf Basis der herrschenden Geldtheorie operiert, der auch Zentralbanken vieler anderer westlicher Länder gefolgt sind.15

Dabei besteht Übereinstimmung darin, dass Target-Salden verschwinden, wenn die Geldpolitik wieder normalisiert wird, die EZB die Überschussreserven im Gesamtsystem wieder abbaut, z. B. indem sie nicht nur keine Staatsanleihen mehr kauft – was ab Januar 2019 der Fall sein soll –, sondern entweder aktiv Staatsanleihen verkauft bzw. nach Ende der Laufzeit keine neuen Papiere erwirbt. Umso unverständlicher ist es, Target als System zu bezeichnen, dass „unbegrenzt Überziehungskredite“ gewährt bzw. ein „Selbstbedienungsladen“ sei. Denn während der private Sektor die Salden erzeugt, ist es allein das Eurosystem, das darüber entscheidet, ob und in welcher Höhe dies insgesamt der Fall sein kann.

Target-Salden und deutsches Auslandsvermögen

Bei aller Bedeutung, die der Geldpolitik zugemessen wird: Die Target-Salden sind vor allem Gegenstand des öffentlichen Interesses, weil sich ihre Entwicklung im Auslandsvermögensstatus jedes EWU-Landes widerspiegelt, also Auslandsforderungen und -verbindlichkeiten von NZB begründen, die in dieser Form neu sind.16 Dies wirft für Deutschland die berechtigte Frage auf, ob ein Teil der Nettoauslandsforderungen verloren gehen können, wenn NZB ihre Target-Verbindlichkeiten nicht bedienen.17 Denn die den Target-Saldo widerspiegelnden Auslandsforderungen der Bundesbank richten sich zwar formal gegen die EZB, saldenmechanisch stehen ihnen innerhalb des Target-Systems negative Salden anderer NZB gegenüber. Zunächst ist aber zu klären, wie der Target-Saldo in den Auslandsvermögensstatus gerät. Forderungen und Verbindlichkeiten gegenüber dem Ausland entstehen durch grenzüberschreitende Investitionen und Kreditvergabe, Nettoauslandsforderungen und -verbindlichkeiten durch entsprechende Leistungsbilanzüberschüsse bzw. -defizite des privaten Sektors.18 Die Geldpolitik steht mit diesen Transaktionen in praktisch keinem direkten Zusammenhang, weil die EZB über die NZB Kredite an heimische Banken bzw. Staatsanleihen der EWU-Länder kauft, die – unter der derzeit geltenden Regelung – zu 80 % auf die Bilanzen der jeweiligen NZB gebucht werden. Der Target-Saldo der Bundesbank gerät daher durch die Entscheidung des privaten Sektors über die Verwendung der Überschussreserven, die durch die entsprechenden Aktivgeschäfte der EZB entstehen, in den Auslandsvermögensstatus. Würde der private Sektor seine Entscheidung über die Verwendung von Überschussreserven so treffen, dass sie bei den NZB landen, die diese Aktiva bilanzieren, wären sowohl der LoLR als auch Quantitative Easing in Bezug auf den Auslandsvermögensstatus eines Landes neutral.

Bei der LoLR-Aktivität ist dies in einer asymmetrischen Finanzkrise aber nicht zu erwarten. Denn die Kreditvergabe der EZB soll den unsicheren Banken ja gerade ermöglichen, ihre bisherigen Kreditgeber auszuzahlen, um einerseits deren Konkurs, andererseits den bei Illiquidität (statt Insolvenz) völlig unnötigen Vermögensverlust in- und ausländischer Kreditgeber – d. h. auch und besonders des deutschen Sparers19 – zu verhindern. Sofern sich die deutschen Banken diese Guthaben über Target nach Deutschland transferieren lassen, kommt es zu einem Aktivtausch im Auslandsvermögensstatus: Indem deutsche Banken bei der Bundesbank Überschussreserven erwerben, tritt der private deutsche Sektor Auslandsforderungen an die Bundesbank ab, die bei ihr als Forderung an die EZB verbucht werden. Für Deutschland als Ganzes bleibt die Höhe der Auslandsforderungen und -verbindlichkeiten ebenso konstant wie die Höhe der Nettoauslandsforderungen. Verändert sich das Risiko der deutschen Auslandsforderungen durch den Target-Saldo? Im geschilderten Fall kann es sich – wenn überhaupt – nur um eine Risikoreduzierung handeln. Denn Deutschland als Ganzes tauscht private Forderungen gegen Banken in den Krisenländern, die vom Markt als unsicher eingeschätzt werden, gegen eine Forderung der Bundesbank an die EZB, die als vergleichsweise sicher einzustufen ist.

Allerdings können auch nicht-deutsche Banken und Anleger ihre Forderungen gegenüber Krisenbanken in einem anderen EWU-Land abbauen und die Erlöse so nutzen, dass ein höherer Target-Saldo entsteht. In diesem Fall bleibt die Nettovermögensposition Deutschlands zwar ebenfalls unbeeinträchtigt, es kommt allerdings zu einer Bilanzverlängerung: Die Auslandsverbindlichkeiten des privaten Sektors steigen, weil sich die deutschen Banken zusätzlich im Ausland verschulden, wenn sie die von der EZB emittierten Überschussreserven als Einlagen der früheren Kreditgeber der Krisenbanken akzeptieren. Gleichzeitig steigen die Auslandsforderungen, da die deutschen Banken diese Überschussreserven zwar nicht direkt bei der EZB, dafür aber bei der Bundesbank halten. Dadurch entsteht der entsprechende Target-Saldo, der sich in einer Forderung der Bundesbank gegen die EZB widerspiegelt.20

Die deutschen Auslandsforderungen werden dann insgesamt riskanter, wenn die Forderung der Bundesbank an die EZB als risikobehaftet eingeschätzt wird. Da dies der Fall ist, hat die Bundesbank in den Krisenjahren auch verstärkt Rückstellungen gebildet, allerdings nicht aufgrund des Target-Saldos, sondern aufgrund der Tatsache, dass sie 27 % des Eigenkapitals der EZB hält.

Für die Implikationen von Quantitative Easing für den deutschen Auslandsvermögensstatus gilt Ähnliches. Solange der Target-Saldo der Bundesbank zunimmt, weil deutsche Banken und Anleger Staatspapiere anderer EWU-Staaten an die EZB verkaufen, und die entsprechenden Überschussreserven bei der Bundesbank halten, kommt es zu einem reinen Aktivtausch im Auslandsvermögensstatus. Die Risikoposition verbessert sich, sofern man Forderungen an die EZB als sicherer einschätzt als Forderungen gegen einzelne EWU-Länder. Quantitative Easing hat aber vor allem deshalb große Auswirkungen auf die Nettoauslandsforderungen der Bundesbank, weil Gebietsfremde – innerhalb und außerhalb des Euro-Währungsgebietes – die Staatsanleihen anderer EWU-Länder an die EZB verkaufen und die Erlöse daraus über Portfolioumschichtungen – die große „Umschuldungsaktion“21 – als Überschussreserven bei der Bundesbank landen. Dann werden die deutschen Auslandsforderungen insgesamt riskanter, sofern die Forderung an die EZB als nicht sicher eingestuft wird. Dies hängt erneut von der Frage ab, wie sicher die Aktiva angesehen werden, die die EZB im Rahmen von Quantitative Easing erwirbt.

Wie riskant sind die Aktivgeschäfte der EZB?

Die große Spannweite der Meinungen bei der Bewertung der Target-Salden sowie die Heftigkeit der Debatte reflektieren daher Meinungsverschiedenheiten bei der Beantwortung der folgenden Frage: Wie riskant sind die Aktivgeschäfte der EZB? Die Ökonomen, die Target-Salden als kein (eigenständiges) Problem sehen, sagen, dass diese Aktivgeschäfte wenig riskant sind bzw. sie nicht zu tätigen, noch größere Risiken implizieren würde. Die Ökonomen, die in den Target-Salden ein großes Problem erkennen, bewerten die Aktivgeschäfte der EZB als hochriskant. Aus ihrer Sicht emittiert die EZB Zentralbankgeld, das durch praktisch wertlose Aktiva gedeckt ist. Dies ist für sich genommen schon ein großes Problem, wird aber aus deutscher Sicht besonders schwerwiegend, wenn über positive Target-Salden diese EZB-Forderungen Teil der deutschen Auslandsforderungen werden. Denn nun stehen „deutschem Zentralbankgeld“, wenn man so will: dem „deutschen Euro“, indirekt Forderungen gegen die Banca d’Italia, die Banca de Espaňa oder die Bank of Greece gegenüber, die deutlich weniger wert sind als Forderungen an deutsche Banken und an den deutschen Staat.

Dies ist aus Sicht der Target-Kritiker das eigentliche Problem: Ausländer können auf der Grundlage vermeintlich wertlosen Geldes in Deutschland wertvolle Güter, Dienstleistungen und Vermögensgüter erwerben, also alles kaufen „was nicht niet- und nagelfest“22 ist. Würde dagegen von der gleichen Wertigkeit aller von der EZB gehaltenen Forderungen ausgegangen, wären Target-Salden ökonomisch irrelevant, weil die ausländischen Importeure und Investoren werthaltige Aktiva an die EZB verkaufen müssten, bevor sie mit dem Euro, den sie im Gegenzug erhalten, deutsche Güter, Dienstleistungen und Vermögensgüter kaufen könnten. Dies wäre in Ordnung, weil Deutschland über die Target-Salden Anspruch auf diese werthaltigen Aktiva hat. Entsprechend würde durch Target die deutsche Auslandsvermögensposition nicht riskanter.

Aus dieser Analyse folgt logisch die Forderung nach einem jährlichen Target-Saldenausgleich. Vorbild ist das US Federal Reserve System, das einen Ausgleich vergleichbarer Zahlungssalden zwischen den District Banks vornimmt.23 Allerdings findet dieser seit mehr als vierzig Jahren nur noch durch eine buchhalterische Verschiebung von Aktiva, nämlich US-Staatsanleihen, innerhalb des Systems statt. Für die Federal Reserve Bank of Kansas entsteht daraus kein Problem, weil die US-Staatsanleihe, die sie aus Cleveland zum Saldenausgleich erhält, den gleichen Wert aufweist wie die US-Staatsanleihe, die sie schon im Portefeuille hält. Dies ist in der Währungsunion anders, weil eine Übertragung der US-Praxis – ohne Fiskal- und Bankenunion – der Bundesbank zum Saldenausgleich jene toxischen Aktiva in die Bilanz schieben würde, deren Risiken sie bisher nur indirekt über den Target-Saldo ausgesetzt ist.

Entsprechend wird für Europa ein Saldenausgleich in werthaltigen Aktiva, also z. B. in Gold, vorgeschlagen, und – falls die Schuldner-NZB dazu nicht (mehr) in der Lage sein sollten – eine entsprechende Obergrenze der Target-Salden. Damit würde aber die EZB zu einer Zentralbank im Quasi-Goldstandard-Modus, weil ihre Fähigkeit, Zentralbankgeld herzustellen, von der Höhe dieser werthaltigen Aktiva im Bestand der NZB begrenzt wäre. Spätestens seit der Weltwirtschaftskrise ist aber bekannt, dass diese Konstruktion mit einer Zentralbank unvereinbar ist, die Preisstabilität als primäres Ziel anzustreben hat. Entsprechend hat sich die Federal Reserve nach Abkehr vom Goldstandard nie von Höhe und Mustern der Interdistrict Settlement Accounts abhalten lassen, ihr Mandat wahrzunehmen. Dennoch bleibt richtig: Die Aktivgeschäfte der EZB sind seit 2007 riskanter geworden. Entsprechend naheliegend erscheint die Frage, ob es nicht im deutschen Interesse ist, die Target-Salden zu begrenzen bzw. ganz aus dem Euro auszusteigen, um sicherzugehen, dass Deutschland nicht noch stärker bzw. gar nicht mehr diesen Risiken ausgesetzt wird.

Die Risiken einer Welt ohne Target-Salden

Um diese Frage zu beantworten, müssen die Risiken einer Welt erörtert werden, in der keine Target-Salden entstehen können. Diese Risiken sind beträchtlich. Beim LoLR ist dies unmittelbar einsichtig: Die über Target vermittelte Kapitalflucht deutscher Banken – also des deutschen Sparers – in den Krisenjahren 2007 bis 2012 wird auf 250 Mrd. Euro bis 290 Mrd. Euro geschätzt.24 Hätte die EZB damals nicht eingegriffen, wäre deutsches Vermögen in einer Größenordnung unmittelbar betroffen gewesen, die ungefähr der Hälfte der aktuellen Nettovermögensposition der Bundesbank gegenüber dem Ausland entspricht. Dies wären allerdings nicht die einzigen Verluste einer Nicht-Target-Welt gewesen. Denn die Destabilisierung der Krisenländer durch einen Zusammenbruch der dortigen Bankensysteme hätte wohl auch andere Forderungen des deutschen Sparers zweifelhaft werden lassen. Ohne den LoLR wäre die wirtschaftliche Aktivität noch stärker eingebrochen als es ohnehin schon der Fall war, mit negativen Auswirkungen nicht nur auf die Fähigkeit von Staaten, Unternehmen und Haushalten ihre Auslandsschulden insgesamt zu bedienen, sondern auch Güter und Dienstleistungen aus dem Ausland zu erwerben, und zwar nicht nur per saldo, sondern in absoluten Größen. Dies hätte wiederum den deutschen Unternehmenssektor hart getroffen. Die Folgen für die deutschen Sparer, deren Bankguthaben Forderungen an den deutschen Unternehmenssektor gegenüberstehen, lassen sich leicht ausmalen. Eine asymmetrische Finanzkrise in einem hochintegrierten Wirtschaftsraum hat eben besonders negative Auswirkungen für eine Gläubiger- und eine Export-Nation. Deutschland ist beides.

Die Verlustpotenziale einer Welt ohne Target tauchen in der Diskussion aber kaum auf, was sicher auch daran liegt, dass sie nicht so eindeutig zu beziffern und zuzuweisen sind wie der deutsche Target-Saldo. Sie werden aber auch bewusst ausgeblendet oder verniedlicht, weil sich nur dann die klare Schlussfolgerung ergibt, die Target-Salden zu begrenzen bzw. ganz zu vermeiden, weil dies keine Opportunitätskosten hat. Denn selbst wenn die Risiken, die durch Target entstehen, nur auf Extremsituationen abzielen, also dass Italien oder irgendein anderes Land aus dem Euro ausscheidet bzw. seine Staatsschulden nicht mehr bedient: Völlig auszuschließen sind sie nicht. Keine Forderung auf der Welt ist komplett sicher, also wozu welche aufbauen, wenn es gar nicht notwendig ist?

Hinterfragt man dagegen die Risiken einer Welt ohne Target genauso konsequent wie die Risiken einer Welt mit Target, wird schnell deutlich, dass die Summen, die dann auf dem Spiel stehen, ebenfalls sehr groß sind. Denn kann man wirklich ausschließen, dass der deutsche Sparer enorme Verluste einfahren würde (und eingefahren hätte), wenn die EZB nicht mehr als LoLR agieren kann (agiert hätte)? Kann man – nach den Erfahrungen von 1929 bis 1933, gerade in Deutschland – wirklich sicher sein, dass deflationäre Entwicklungen für deutsche Unternehmen und Arbeitnehmer sowie den deutschen Sparer keine negativen Einkommens- und Vermögenseffekte haben würden? Die Erörterung der Implikationen einer Welt ohne Target ist sicher schwierig und kostet Mühe, ist aber gerade dann notwendig, wenn die Analyse der Welt mit Target die wirtschaftspolitische Schlussfolgerung nahelegt, eine Welt ohne Target-Salden zu gestalten.25 Denn sonst bleibt unklar, ob die 1000 Mrd. Euro, die mit Target scheinbar auf dem Spiel stehen, vielleicht von einer viel größeren Summe übertroffen werden, die in einem Extremszenario ohne Target in Gefahr wäre. Die „kreative Zerstörung“ ist eben oft wenig kreativ, dafür umso zerstörerischer; daran sollte man gerade zehn Jahre nach Lehman Brothers erinnern.

Eine ausgewogene Diskussion der Risiken ist aber auch angezeigt, damit in den Schuldnerländern keine falschen Vorstellungen entstehen, die – wenn sie zur Basis wirtschaftspolitischer Entscheidungen werden sollten – desaströse Konsequenzen haben können, weil sie Vor- und Nachteile nur für die eine Welt, nicht aber für die andere in Betracht ziehen. Denn genauso wie Target in der deutschen Öffentlichkeit fälschlicherweise vor allem als Risiko wahrgenommen wird, kann in den Schuldnerländern der fatale Eindruck entstehen, dass Target vor allem eine Chance ist, nämlich eine Chance sich der Bedienung von Staatsschulden oder der Verbindlichkeiten der eigenen Zentralbank gegenüber der EZB elegant zu entziehen. Das erscheint als vernünftige Handlungsoption, wenn die Welt sich anschließend mehr oder weniger normal weiterdreht. Es gibt sowohl Ökonomen als auch Politiker, die in diese Richtung denken.26

Nur ist die Vorstellung, dass sonst alles andere unverändert bleibt, unrealistisch, wie das griechische Beispiel im ersten Halbjahr 2015 sowie die Reaktion der Märkte auf die Pläne der neuen italienischen Regierungsparteien zur möglichen Einführung einer Parallelwährung zeigen. Deshalb ist es auch für die Verantwortlichen in den Target-Defizitländern dringend angezeigt, sich vorher über die Risiken für die eigenen Sparer, Arbeit- und Unternehmer, sowie den eigenen Staat Gedanken zu machen, die als Ergebnis einer solchen Handlungsoption auftreten können, um sie dann jenen Risiken gegenüberzustellen, die sich aus einer weiteren Zusammenarbeit in der Währungsunion ergeben. Wie hoch würde der Reputationsverlust einer neuen Banca d’Italia gegenüber der alten ausfallen, nachdem letztere politisch gezwungen wurde, ihren Target-Verbindlichkeiten nicht mehr nachzukommen? Erweitert sich dadurch der Finanzierungsspielraum des italienischen Staates und ermöglicht so Investitionsprogramme und ein wie immer zu gestaltendes Grundeinkommen, oder wird dieser Spielraum verengt, weil niemand mehr bereit ist, dem Staat Kredit zu geben? Wie sinnvoll ist es, Auslandsschulden nicht zu bedienen, wenn die Auslandsposition nahezu ausgeglichen ist? Ein Denken in Opportunitätskosten würde schnell verdeutlichen, dass selbst ein hoher negativer Target-Saldo keinen zusätzlichen Anreiz zum Ausstieg aus dem Euro und der Nichtbedienung von Auslandsverbindlichkeiten darstellt. Viel wird daher davon abhängen, ob sich dieses Denken im politischen Klima der Gegenwart noch durchsetzen kann.

* Ich danke Tobias Berg, Ulrich Bindseil und Martin Hellwig für ihre Anmerkungen zu einer früheren Version dieses Beitrags. Er wäre wohl auch nicht ohne die vielen Anregungen entstanden, die ich – auch passiv – durch die Diskussion dieses Themas in der „Carl-Christian von Weizsäcker-Makrorunde“ erhalten habe. Alle Fehler und Mängel gehen natürlich weiterhin allein zulasten des Verfassers

  • 1 a M. Hellwig: Wider die deutsche Target-Hysterie, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28.7.2018.b J. Krahnen: Über Scheinriesen: Was TARGET-Salden tatsächlich bedeuten – Eine finanzökonomische Überprüfung, mimeo 17.8.2018.c H.-W. Sinn: Fast 1000 Milliarden Euro, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16.7.2018; H.-W. Sinn: Irreführende Verharmlosung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5.8.2018. H.-W. Sinn: Fast 1000 Milliarden Euro, a. a. O.; ders.: Fast 1000 Milliarden Target-Forderungen der Bundesbank: Was steckt dahinter?, in: ifo-Schnelldienst, 71. Jg. (2018), H. 14, S. 26-37; ders.: Irreführende Verharmlosung, a. a. O.
  • 2 H.-W. Sinn: Fast 1000 Milliarden Target-Forderungen..., a. a. O., S. 26.
  • 3 Ebenda, S. 31.
  • 4 Deutsche Bundesbank: Die Finanzmarktinfrastruktur des Eurosystems – Rückblick und zukünftige Ausrichtung des Leistungsangebots, Monatsbericht, Dezember 2017, S. 69-88.
  • 5 J. Krahnen, a. a. O.
  • 6 H.-W. Sinn, T. Wollmershäuser: Target-Salden und die deutsche Kapitalbilanz im Zeichen der europäischen Zahlungsbilanzkrise, ifo Working Paper, Nr. 149, München 2012; K. Wheelan: TARGET2 and Central Bank Balance Sheets, 2013, http://www.karlwhelan.com/Papers/T2Paper-March2013.pdf.
  • 7 Deutsche Bundesbank: Das deutsche Auslandsvermögen: neue statistische Konzepte und Ergebnisse seit der Finanzkrise, Monatsbericht, April 2018, S. 29-41.
  • 8 European Central Bank: The ECB’s asset purchase programme and TARGET balances: monetary policy implementation and beyond, in: ECB Economic Bulletin, Nr. 3, 2017, S. 21-26.
  • 9 Der Verweis auf nationale Zahlungsdefizite ist wichtig, weil die Änderung der Geldpolitik nicht dadurch motiviert wurde, Target-Salden zu ermöglichen, sondern um allgemein – d. h. auch im rein nationalen Rahmen – die Finanzkrise zu bekämpfen. So ermöglichte das Eurosystem 2007 bis 2009, auch über die Bereitstellung von ELA-Notfallkrediten durch die Bundesbank, Nettoüberweisungen von unsicheren deutschen Banken an sichere deutsche Banken.
  • 10 D. Gros: TARGET imbalances at record levels: Should we worry? Directorate General for Internal Policies, Brussels, November 2017.
  • 11 European Central Bank, a. a. O.
  • 12 Für den Zeitraum Oktober 2014 bis Oktober 2016 weist das Finanzplatz-Argument die größere Erklärungskraft auf, vgl. R. Auer, B. Bogdanova: What is driving the renewed increase in TARGET2 balances?, BIS Quarterly Review, 7.-8. März 2017. Die politischen Entwicklungen in Spanien und Italien seit Ende 2016 lassen jedoch vermuten, dass Kapitalflucht wieder an Bedeutung gewonnen hat.
  • 13 Die Bundesbank hat daher auch nicht „im Auftrag anderer Notenbanken Geld geschaffen“ (vgl. H.-W. Sinn: Fast 1000 Milliarden Euro..., a. a. O.), sondern den deutschen Banken die Möglichkeit eingeräumt, Überschussreserven bei ihr zu halten, die bilanziell bei anderen NZB entstanden sind.
  • 14 Dass die Krisenländer bzw. -banken insolvent sind, wird durch den immer wieder genutzten Begriff „Schrottpapiere“ deutlich. Sinn kennzeichnet das Wirken des LoLR 2007 bis 2012 daher auch als Umgehung bzw. Aushebelung des Kapitalmarktes, obwohl dieser gar nicht mehr funktionierte (vgl. H.-W. Sinn: Verantwortung der Staaten und Notenbanken in der Eurokrise, Gutachten im Auftrag des Bundesverfassungsgerichts, Zweiter Senat, Verfassungsbeschwerden 2 BvR 1390/12, 2 BvR 1439/12 und 2 BvR 1824/12, Organstreitverfahren 2 BvE 6/12, Sitzung 11. und 12. Juni 2013, https://www.cesifo-group.de/DocDL/SD_Juni_2013_Sonderausgabe_1.pdf; ders.: Fast 1000 Milliarden Target-Forderungen..., a. a. O.) Als das Kapital zurückfloss, ist dies ebenfalls verwerflich, weil dies nur wegen des „Geleitschutzes“ der EZB geschah. Dass dieser „Geleitschutz“ wohl auch erst die Post-2008-Kreditvergabe an jene deutschen Banken – scheinbar marktwidrig – ermöglichte, die in der Krise den LoLR in Anspruch nahmen, wird nicht thematisiert. Quantitative Easing wird nicht als geldpolitische Maßnahme, sondern als eine Umschuldung zugunsten der Krisenländer charakterisiert, vgl. H.-W. Sinn: Fast 1000 Milliarden Euro..., a. a. O. Dass die Zentralbanken der USA, Großbritanniens, Schwedens und anderer westlicher Länder ebenfalls Quantitative Easing betrieben haben, obwohl es dort gar keine Krisenländer mit der angeblichen Notwendigkeit einer Umschuldung gibt, bleibt ebenfalls unerwähnt.
  • 15 A. Winkler: Zehn Jahre nach dem Konkurs von Lehman Brothers – Ordnungspolitische Irrtümer in der Bewertung der EZB-Geldpolitik seit der globalen Finanzkrise, in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik, 19. Jg. (2018), H. 2, S. 141-162.
  • 16 Der Auslandsvermögensstatus „stellt die zu Marktpreisen bewerteten finanziellen Forderungen und Verbindlichkeiten von Inländern gegenüber Ausländern dar“. Vgl. Deutsche Bundesbank: Das deutsche Auslandsvermögen, a.a.O., S. 29.
  • 17 Die Frage stellt sich auch für andere EWU-Länder mit positivem Target-Saldo. So weist Luxemburg, als Finanzzentrum, pro Kopf der Bevölkerung einen dramatisch höheren positiven Target-Saldo (350 000 Euro) aus als Deutschland (≈11 500 Euro), Finnland (ca. 11 250 Euro) und die Niederlande (fast 7200 Euro).
  • 18 Deutsche Bundesbank: Das deutsche Auslandsvermögen, a. a. O.
  • 19 „Vor der Krise hatten die deutschen Banken einen Großteil, wenn nicht den größten Teil der deutschen Ersparnisse als Interbankenkredite an die Banken Südwesteuropas verliehen, …“, vgl. H.-W. Sinn, T. Wollmershäuser, a. a. O., S. 12.
  • 20 Würden die NZB aufgelöst und damit formal das Target-Problem gelöst (vgl. M. Hellwig, a. a. O.; J. Krahnen, a. a. O.), würden sich die Zusammenhänge wie folgt ändern: Einerseits würde nun jede Transaktion mit der EZB, die für alle EWU-Länder Ausland ist, Eingang in den Auslandsvermögensstatus nehmen. Andererseits würden geldpolitische Operationen nicht mehr Veränderungen der Nettoauslandsvermögensposition des privaten Sektors auslösen. Die im weiteren Text beschriebenen Risiken der Target-Salden für den öffentlichen Sektor insgesamt würden von dieser Neugestaltung der institutionellen Zusammenhänge freilich nicht berührt. Konkret heißt dies für Deutschland: Der Ausfall von Forderungen, die die EZB hält, würde die Bundesbank und damit den deutschen öffentlichen Sektor in Höhe des Kapitalanteils bei der EZB treffen (wobei der Eigenkapitalanteil an der EZB wiederum ein Teil der Auslandsforderungen des deutschen öffentlichen Sektors darstellt).
  • 21 H.-W. Sinn: Fast 1000 Milliarden Target-Forderungen..., a. a. O.
  • 22 Vgl. H.-W. Sinn: Fast 1000 Milliarden Target-Forderungen..., a. a. O. In Bretton-Woods Sprache: die Ausländer nutzen den Vorteil einer überbewerteten Währung aus, vgl. dazu derselbe.
  • 23 J. Klose, B. Weigert: Das Verrechnungssystem der Federal Reserve und seine Übertragbarkeit auf den Euroraum, in: Wirtschaftsdienst, 92. Jg. (2012), H. 4, S. 243-250; H.-W. Sinn: Fast 1000 Milliarden Target-Forderungen..., a. a. O.
  • 24 K. Wheelan, a. a. O.; M. Fratzscher: Das Target-System ist für Deutschland und Europa ein Anker der Stabilität, in: Handelsblatt vom 2.8.2018.
  • 25 H.-W. Sinn: Fast 1000 Milliarden Target-Forderungen..., a. a. O.
  • 26 D. Gros: How to exit the euro in a nutshell ‘Il Piano Savona’, CEPS Commentary, 1.6.2018.

Title:Large Imbalance – Big Problem? Why is the Target Debate in Germany so Heated?

Abstract:The rise of the Bundesbank’s target balance to about one billion euro has revived the debate among German economists about the interpretation and the risks associated with these balances for the German taxpayer and Germany as a whole. This paper explains why this debate is so heated by revealing that the opponents have sharply different views a) about the riskiness of assets purchased by the ECB when acting as a lender of last resort and by engaging in quantitative easing and b) about the risks for the German taxpayer and the economy if the ECB had not engaged in these activities.


DOI: 10.1007/s10273-018-2361-0

Fachinformationen über EconBiz

EconBiz unterstützt Sie bei der Recherche wirtschaftswissenschaftlicher Fachinformationen.