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Vor 100 Jahren, im November 1918, wurde das Stinnes-Legien-Abkommen zwischen verschiedenen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften abgeschlossen. Es beinhaltete die Tarifautonomie und Kollektivvereinbarungen sowie die Einführung des Achtstundentags und von Betriebsräten. Es scheiterte zwar bald, diente aber als Vorlage für die gesetzliche Regelung der Tarifvertragsbeziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg. Mittlerweile hat die Tarifbindung allerdings deutlich abgenommen. Viele Arbeitgeber haben in ihren Verbänden eine Mitgliedschaft ohne Tarifbindung. Gleichzeitig ist der gewerkschaftliche Organisationsgrad der Beschäftigten rückläufig. Angesichts einer zunehmenden Ausbreitung prekärer Beschäftigungsverhältnisse muss offenbar der Staat die Tarifvertragsbeziehungen wieder stärker regulieren – wie beispielsweise durch das Mindestlohngesetz.

Im Anschluss ein Blick zurück: 1918 kommentierte das Redaktionsmitglied Alfred Schmidt-Essen das Abkommen aus damals aktueller Sicht. Wir drucken den Beitrag aus dem Wirtschaftsdienst Nr. 48 vom 29. November 1918 erneut ab.

Nach 100 Jahren – kritischer Zustand der Tarifpartnerschaft

Die Tarifpartnerschaft blickt auf eine 100-jährige Geschichte zurück. Arbeitgeber und Gewerkschaften einigten sich 1919 erstmals darauf, die Arbeitsbeziehungen ohne Einmischung des Staates zu regeln und etablierten damit das Prinzip der Tarifautonomie. Trotz des großen Erfolges und vieler Anpassungsschritte, um veränderte wirtschaftliche und soziale Verhältnisse in den Tarifverträgen abzubilden, ist sie heute gefährdeter denn je.

Das Stinnes-Legien-Abkommen als Ausgangspunkt

Eine Eigentümlichkeit der deutschen Arbeitsbeziehungen besteht darin, dass sie kein Ergebnis einer deliberativen Suche nach dem besten Weg waren und sind. Sie folgen in starkem Maße vorhandenen oder antizipierten Kräfteverhältnissen. Offensichtlich ist, dass sich die besondere Struktur der Sozialpartnerbeziehungen, die bis heute ihr Profil ausmacht, erst als das Ergebnis des Ersten und Zweiten Weltkrieges etablierte. Bis 1916 waren der Staat und bis 1918 die Arbeitgeber nicht bereit, die Gewerkschaften als legitimierten Sprecher der Beschäftigten anzuerkennen. Erst mit dem sogenannten Hilfsdienstgesetz vom 5.12.1916 erkannte der Staat die Gewerkschaften als Verhandlungspartner an. Die Arbeitgeber brauchten länger. Denn sie bestanden darauf, dass alleine sie das Sagen in ihren Betrieben haben („Herr im Hause“) und weder Gewerkschaften noch der Staat dort etwas zu suchen hätten. Das veränderte sich 1918 als sich abzeichnete, dass nicht nur die Monarchie untergeht, sondern auch eine Ordnung sowjetischen Typs vor der Tür stand. In der Stunde der tiefsten Not suchten weitblickende Unternehmer den Kontakt zu den Gewerkschaften.

Das „Stinnes-Legien-Abkommen“ vom November 1918 brachte dann den entscheidenden Wendepunkt in den Beziehungen der deutschen Gewerkschaften und Arbeitgeber, „der nichts anderes als einen Friedensschluss nach hartnäckig geführtem Kriege bedeutet“1 und bis heute als bedeutender sozialpolitischer Erfolg wahrgenommen wird. Mit der Unterzeichnung des nach dem Ruhrindustriellen Hugo Stinnes und dem Gewerkschaftsvorsitzenden Carl Legien benannten Abkommens erkannten die Unternehmer die Gewerkschaften als gleichberechtigten Partner an. Was für die Mehrheit der Unternehmer ein situatives Not- und Zweckbündnis war,2 bedeutete für die Gewerkschaften nicht nur die Anerkennung als gleichberechtigter Partner, sondern auch die Erfüllung eines lange verfolgten Zieles. Auf jeden Fall war es der Sieg pragmatischer, vernunftbegabter Politik, die einen entscheidenden Beitrag zur Zähmung des Kapitalismus durch demokratische Strukturen in der Wirtschaft ermöglichte.

Auch wenn die 1919 gegründete Zentralarbeitsgemeinschaft, mittels derer die Ziele des Abkommens vorangebracht werden sollten, 1924 scheiterte, wurde dieser Pakt zu einem Meilenstein in der Entwicklung kooperativer Arbeitsbeziehungen und damit zum Vorläufer der bundesdeutschen Sozialpartnerschaft. Welche Dynamik das Stinnes-Legien-Abkommen auslöste, zeigt sich schon alleine daran, dass in seiner Folge die Zahl der Tarifverträge rasant anstieg: Ende 1918 arbeiteten 1,1 Mio. Beschäftigte in Betrieben mit geltenden tariflichen Vereinbarungen; vier Jahre später waren es bereits 14 Mio. Das Recht von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, Arbeitsbedingungen wie Lohn und Arbeitszeit eigenständig und ohne staatliche Einmischung auszuhandeln und zu regeln, ist heute in Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetztes verankert. Darin ist nicht nur die Tarifautonomie geschützt, vielmehr gehören zu den verfassungsrechtlich geschützten Mitteln auch Arbeitskampfmaßnahmen, die auf den Abschluss von Tarifverträgen zielen.

Tarifpartnerschaft hat sich bewährt

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs führten die organisatorische Neugestaltung der Gewerkschaften als Einheits- und Branchengewerkschaften, sowie die darauf aufbauenden konfliktpartnerschaftlichen Kooperationen mit der Arbeitgeberseite zu einer außerordentlichen Stabilität des Systems der Arbeitsbeziehungen und zu einer hohen Flächentarifbindung.3 Dass diese Struktur sich anders als in der Weimarer Republik zu einem Erfolgsmodell entwickelte, hängt sicher auch mit steigender Produktivität und stetigem Wirtschaftswachstum zusammen, womit sich die strukturellen Voraussetzungen für eine partnerschaftliche Gestaltung der Tarifpolitik festigten. So wurden die Tarifverträge nicht nur zur Basis für flächendeckende Einkommenssteigerungen, sondern auch zu einer evolutionär verfolgten Politik der Arbeitszeitverkürzung.4 Die Regulierungsfähigkeit des Tarifsystems beruhte auf einer günstigen Arbeitsmarktentwicklung, verbandlich legitimierten, tarifpolitischen Zielen, die gesamtwirtschaftliche Folgen berücksichtigten, sowie dominanten Akteurskonstellationen auf Arbeitnehmer- wie auf Arbeitgeberseite. Beide Seiten setzen auf Flächentarifverträge und waren aufgrund ihrer umfassenden Organisationen (mit hohen Organisationsgraden insbesondere auf Seiten der Arbeitgeberverbände) fähig, die Verhandlungsergebnisse zu legitimieren und durchzusetzen.5 Und in der Weltfinanzkrise 2008/2009 gelang es, eine Krisenbewältigungspolitik zu verantworten, die auch international gerühmt wurde.

Zustand kritisch

Der in der Tradition des Stinnes-Legien-Abkommens stehende Nachkriegskonsens zwischen Unternehmern, Staat und Gewerkschaften begleitete nicht nur den ökonomischen Wiederaufstieg Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg, sondern die funktionierende Sozialpartnerschaft ermöglichte erst das System der sozialen Marktwirtschaft. Dieser Konsens wurde in Deutschland in den letzten beiden Jahrzehnten zwar nicht gänzlich verworfen, aber seine Präge- und Gestaltungskraft ist heute deutlich geschwächt. Trotz der hohen Wertschätzung, die der Sozialpartnerschaft und der Tarifautonomie im offiziellen Selbstverständnis der Arbeitgeber zukommt, ist ihre Mitgliedschaft in den Arbeitgeberverbänden in den letzten Jahren so stark geschrumpft, dass die Basis der Tarifautonomie gefährdet ist: So lag die Branchentarifdeckung im Jahr 1996 in Westdeutschland bei 70 % und in Ostdeutschland bei 51 %. Innerhalb von 20 Jahren sanken diese Quoten mehr oder weniger kontinuierlich bis auf 51 % in Westdeutschland und 36 % in Ostdeutschland im Jahr 2016.6

Für den Umfang der Tarifbindung in der Fläche sind dabei weniger die Mitgliederzahlen der Gewerkschaften, als vielmehr der Organisationsgrad der Arbeitgeberverbände ausschlaggebend. Nüchtern betrachtet kann festgestellt werden, dass die gelebte Konfliktpartnerschaft auf Arbeitgeberseite heute nur noch von einer kleineren Gruppe wertgeschätzt wird, die meist aus den größeren Betrieben der verarbeitenden und exportorientierten Industrie stammen. So lässt sich die vordergründig noch in einzelnen wichtigen Bereichen funktionierende Tarifpartnerschaft als ein nunmehr vornehmlich großbetriebliches Projekt beschreiben. Die Tarifautonomie droht somit perspektivisch zu einem potemkinischen Dorf zu werden.

Immer schon waren die Bedingungen in und zwischen den Branchen unterschiedlich. Es spricht aber viel dafür, dass sich mittlerweile ein derart hohes Maß an Heterogenität einstellte, dass es immer schwerer wird, diese in einem Modell abzubilden. Deshalb spreche ich von den drei Welten der Arbeitsbeziehungen. Diese Welten sind zwar noch durch einen allgemeinen, staatlich regulierten Rahmen (Tarifvertrags-, Betriebsverfassungs- und Mitbestimmungsgesetze sowie staatlich verantwortetes Arbeits- und Sozialrecht) verbunden. Zugleich haben sich Aktivitäten in den Arenen der branchenbezogenen Tarifautonomie weiter auseinanderentwickelt. Dies ist einerseits nicht selbstverständlich, gibt es doch durch gemeinsame Aktivitäten innerhalb von branchenübergreifenden Wertschöpfungsketten, die durch die Digitalisierung beflügelt werden, sogar zuweilen eine engere Verbundenheit als zuvor. Anderseits sind die Bedingungen für kollektives Handeln zwischen den Sektoren sehr disparat: In der ersten Welt, zu der die großen Betriebe des exportorientierten, verarbeitenden Sektors, aber auch der öffentliche Sektor gehören, finden sich mitgliederstarke und verpflichtungsfähige kollektive Akteure, die weiterhin konfliktpartnerschaftlich das Institut der Flächentarifverträge anwenden. Die zweite Welt, die vor allem in Randbereichen des industriellen Sektors und vergleichsweise gut erschlossenen Dienstleistungsbetrieben existiert, ist durch organisationspolitische Ambivalenz und Haustarifverträge gekennzeichnet. In der dritten Welt, zu der große Teile des einfachen Dienstleistungssektors, das Handwerk und – regional gesehen – Ostdeutschland zählen, sind sowohl die Gewerkschaften als auch die Arbeitgeberverbände kaum vertreten. Hier herrscht vielfach Tariflosigkeit.7 Vor diesem Hintergrund sind die deutschen Arbeitsbeziehungen in den vergangenen Jahren verstärkt durch pure marktbezogene Aktivitäten geprägt und in zunehmenden Maße auch durch die substanzielle staatliche Interventionen, wofür die dynamische Entwicklung des Mindestlohns steht.

Zwar gibt es bereits seit Ende der 1970er Jahre Widerstand gegen eine für alle gleichermaßen verbindliche Flächentarifvertragspolitik. Dabei setzten die Großbetriebe auf eine durchgreifende Flexibilisierung des Flächentarifvertrags. Im Konflikt mit und zuweilen gegen den Willen der Gewerkschaften wurde ein System der kontrollierten Dezentralisierung entwickelt, dessen pointiertester Ausdruck, das sogenannte Pforzheimer Abkommen (2004) in der Metall- und Elektroindustrie war.8 Dagegen präferiert die Mehrheit der klein- und mittelständischen Industrie – trotz neuer Flexibilisierungsoptionen – die Abwendung vom verbindlichen Tarifvertrag.9 Zu einer sprunghaften Dynamik, die das Gesamtsystem fundamental beeinflusste, kam es durch den Aufbau von Verbänden ohne Tarifbindung und dadurch, dass die etablierten Verbände sukzessive zusätzliche OT-Mitgliedschaften (Mitgliedschaft ohne Tarifbindung) ermöglichten.10 Durch die OT-Mitgliedschaft, die Unternehmen einerseits von rechtlich verbindlichen Verbandstarifen befreit, es ihnen aber andererseits ermöglicht, (weiterhin) andere Verbandsdienstleistungen in Anspruch zu nehmen, gelang den Arbeitgeberverbänden in den letzten Jahren eine Konsolidierung ihrer finanziellen Basis bei gleichzeitiger Modifikation ihrer Rolle und Funktion.11 Mit der Existenz von OT-Mitgliedschaften lässt sich auch zusätzlicher Druck auf die Gewerkschaften ausüben, wovon die Arbeitgeberverbände mittlerweile regelmäßig vor und während der Tarifrunden Gebrauch machen. Da die OT-Mitglieder am Kollektivgut Tarifvertrag partizipieren, ohne einen eigenen Beitrag zur Entwicklung dieses Kollektivguts zu leisten, steht diese Praxis in der Gefahr, die Funktion der Tarifautonomie von innen zu unterminieren.

Von 2006 bis 2016 hat sich die Zahl der OT-Mitgliedsfirmen in der Metallindustrie von 1899 auf 3585 nahezu verdoppelt; sie liegt damit erstmals höher als die der tarifgebundenen Mitglieder, die im gleichen Zeitraum von 4214 auf 3525 sank.12 In Westdeutschland ging der Organisationsgrad tarifgebundener Unternehmen von 43 % auf 17 % zurück – im Osten ist der Rückgang (von 56 % auf 5 %) noch dramatischer. Bezogen auf die damit erfassten Beschäftigten sieht das Bild jedoch anders aus: Etwa 80 % der Beschäftigten arbeiten in tarifgebundenen Betrieben und nur etwas mehr als 20 % in nichttarifgebundenen. Der Beschäftigtenorganisationgrad ist für die Gewerkschaften wichtig, weil er die rechtliche Geltungskraft des Flächentarifvertrages abbildet. Auf Seiten der Arbeitgeberverbände hebt er die zentrale Rolle der Großbetriebe für die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie heraus. Deutlich wird, dass sich die Koalition zwischen Groß-, Mittel- und Kleinbetrieben im Kontext der neuen großbetrieblichen Wettbewerbsstrategien gegenüber den nachgeordneten Teilen der Wertschöpfungskette maßgeblich verändert hat. Ein ehemals kooperatives Bündnis wandelte sich zu einem wettbewerblichen, bei dem die mittleren und kleinen Unternehmen den Verbänden und dem Flächentarifvertrag den Rücken kehren.

Offensichtlich ist, dass das Argument von Arbeitgeberseite, dass nämlich OT-Mitgliedschaften als Einstieg für verbands- und tarifvertragsskeptische Firmen in die Tarifbindung dienen könnten, was erstmals in den 1990er Jahren eingesetzt wurde, um Gewerkschaften, Staat und Öffentlichkeit zu beschwichtigen, sich so nicht halten lässt. Statt eines Umstiegs von der OT in die T-Mitgliedschaft entwickelte sich die OT-Struktur zum Magneten für die T-Mitglieder, die zunehmend häufiger in die OT-Mitgliedschaft wechseln. Somit sind die Flächentarifverträge durch OT weiter unter Druck geraten; eine schleifende Aushöhlung der Tarifautonomie, die damit zu einer exklusiven Veranstaltung der Wenigen wird, ist die Folge.

Was getan werden muss

Mit der mitgliederbezogenen Delegitimierung der Tarifverträge und der Tarifautonomie kommen die beiden anderen Regulationsprinzipien, also der Markt und der Staat, wieder stärker zur Geltung. Durch ihren Rückzug aus der Sozialpartnerschaft, die auf dem Prinzip der selbst und kooperativ geregelten Freiheit basiert, rufen die Arbeitgeber förmlich die Initiative des Staates herbei. Das Mindestlohngesetz aus dem Jahr 2014 ist eine solche staatliche Reaktion. Mit der seit 2015 agierenden Mindestlohnkommission wird versucht, die Mindestlohnfixierung an die Entwicklung der Tarife zu knüpfen. Vermutlich wird sich auch dort bald ein Wandel vollziehen, der zu einer Abwendung von der verbändegesteuerten hin zur sozialstaatlichen Mindestlohnpolitik führen könnte.

Dass Fehlen von Sozialpartnerschaft führt gegenwärtig vor allem in den personennahen Dienstleistungen zu kaum überschaubaren gesamtgesellschaftlichen Problemen. Exemplarisch sei auf die Altenpflege verwiesen, wo es keine funktionierende Tarifautonomie gibt, weil die Gewerkschaften zu schwach sind und die Arbeitgeber des privaten Sektors sich Tarifverträgen verweigern. Aus diesem Grunde haben CDU/CSU und SPD in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart, dass Tarifverträge in der Altenpflege „flächendeckend zur Anwendung kommen“. Laut Angaben der Bundesregierung sind derzeit ca. 80 % der Beschäftigten nicht tarifgebunden angestellt. Dabei sind solche Vereinbarungen für die Aufwertung sozialer Berufe essenziell, um den bereits bestehenden Fachkräftemangel zumindest in einem entscheidenden Punkt zu bekämpfen.

Die Beschäftigen in tarifgebundenen Betrieben verdienen in der Regel deutlich besser, haben qualitativ anspruchsvollere Arbeitsbeziehungen und sind sozial geschützter als ihre Kollegen ohne Tarifbindung. Das sind alles Vorteile in Zeiten des Fachkräftemangels. Der Ruf nach dem Staat darf aber nicht die einzige Antwort sein, denn in der Konzeption von sozialer Marktwirtschaft und Tarifpartnerschaft kommt der (Kampf-)Parität im Rahmen der Tarifautonomie eine herausragende Bedeutung zu. Daher ist es auf Seiten der Beschäftigten zentral, sich zu organisieren. Auch 100 Jahre nach dem Stinnes-Legien-Abkommen ist die Macht der Beschäftigten die Basis, um die Arbeitgeber an den Verhandlungstisch zu bringen und Sozialpartnerschaft zu praktizieren. Dafür müssen die Gewerkschaften eine offensivere Mitgliederpolitik betreiben, die stärker hinhört, die Probleme und Konflikte der Beschäftigten aufgreift und diese stärker partizipieren lässt. Insofern ist die gewerkschaftliche Mitgliederpolitik eine Antwort auf die zurückgehende Bereitschaft der Arbeitgeber, sich auf eine verlässliche Tarifpartnerschaft durch Verbandsangehörigkeit und Tarifverträge einzulassen.

Aber auch die Arbeitgeber und Arbeitgeberverbände sind gefordert. Wenn es ihnen nicht gelingt, auch die kleinen und mittelständischen Unternehmen wieder in die Tarifpartnerschaft einzubinden, fehlt nicht nur den Gewerkschaften der Verhandlungspartner. Zudem sind die Großbetriebe gefordert, ihre Wertschöpfungsketten kooperativer zu gestalten, wenn die Arbeitgeber verhindern wollen, dass der Staat an die Stelle der Sozialpartner tritt – und dies wird schneller und nachhaltiger kommen, als es jetzt vielleicht erkennbar ist. Denn der populistische Strukturwandel des Parteienwettbewerbs wird bisherige Rücksichtnahmen erodieren lassen.

Die Tarifparteien sollten aber vor allem gemeinsam aktiv werden, indem sie die Struktur der Tarifverträge so ausgestalten, dass sie zu den sozialen und ökonomischen Herausforderungen der Unternehmen und der Beschäftigten passen. Das 100-jährige Jubiläum des „Stinnes-Legien-Abkommens“ sollte daher als Anlass genommen werden, um sich auf die Errungenschaften in den Arbeitsbeziehungen zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften zu besinnen und gemeinsam für eine Erneuerung der Übereinkunft einer autonomen Gestaltung der Arbeitsbeziehungen in der Tarifpartnerschaft zu streiten. Nur so wird sich die sozialpolitische Erfolgsgeschichte in Zeiten von Globalisierung, wachsenden Niedriglohnsektoren und gleichzeitig wachsendem Fachkräftemangel sowie der digitalen Herausforderungen weiterschreiben lassen.

  • 1 A. Schmidt-Essen: Ein Schritt zum inneren Frieden, in: Wirtschaftsdienst, 3. Jg. (1918), H. 48, S. 1071-1073. Wieder abgedruckt in diesem Heft, S. 783-785.
  • 2 K. Schönhoven: Geschichte der deutschen Gewerkschaften: Phasen und Probleme, in: W. Schroeder (Hrsg.): Handbuch Gewerkschaften in Deutschland, Wiesbaden 2014, S. 67.
  • 3 W. Schroeder, S. Greef: Gewerkschaften und die Erosion der zivilgesellschaftlichen Basis: von der Solidarorganisation zum Tarifverband, in: C. Fraune, K. Schubert (Hrg.): Grenzen der Zivilgesellschaft. Empirische Befunde und analytische Perspektiven, Münster 2012, S. 139.
  • 4 J. Kädtler: Tarifpolitik und tarifpolitisches System, in: W. Schroeder (Hrsg.): Handbuch Gewerkschaften in Deutschland, Wiesbaden 2014, S. 438.
  • 5 Ebenda, S. 439.
  • 6 P. Ellguth, S. Kohaut: Tarifbindung und betriebliche Interessenvertretung: Ergebnisse aus dem IAB-Betriebspanel 2016, in: WSI Mitteilungen, 70. Jg. (2017), H. 4, S. 281.
  • 7 W. Schroeder, S. Greef: Struktur und Entwicklung des deutschen Gewerkschaftsmodells, in: W. Schroeder (Hrsg.): Handbuch Gewerkschaften in Deutschland, Wiesbaden 2014, S. 142 f.
  • 8 J. Kädtler, a. a. O., S. 443.
  • 9 W. Schroeder, B. Ruppert: Austritte aus Arbeitgeberverbänden: Eine Gefahr für das deutsche Modell?, Marburg 1996.
  • 10 M. Behrens: Das Paradox der Arbeitgeberverbände. Von der Schwierigkeit, durchsetzungsstarke Unternehmensinteressen kollektiv zu vertreten, Berlin 2011; H. Lesch: Das Verhältnis zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften, in: W. Schroeder (Hrsg.): Handbuch Gewerkschaften in Deutschland, Wiesbaden 2014, S. 341, 343.
  • 11 T. Haipeter: OT-Mitgliedschaften und OT-Verbände, in: W. Schroeder, B. Weßels (Hrsg.): Handbuch Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände in Deutschland, Wiesbaden 2017, S. 305-318; S. J. Silvia: Mitgliederentwicklung und Organisationsstärke der Arbeitgeberverbände, Wirtschaftsverbände und Industrie und Handelskammern, in: W. Schroeder, B. Weßels (Hrsg.): Handbuch Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände in Deutschland, Wiesbaden 2017, S. 169-182.
  • 12 Gesamtmetall: Mitgliedsfirmen und Beschäftigte in den Verbänden von Gesamtmetall 1970-2016, https://www.gesamtmetall.de/branche/me-zahlen/zahlenheft/mitgliedsfirmen-und-beschaeftigte-den-verbaenden-von-0 (12.11.2018).

Ein historisches Bündnis muss zukunftsfähig werden

Es ist November 1918 und Deutschland ist in Aufruhr. Er beginnt am 1. November mit dem Kieler Matrosenaufstand. Nur wenige Tage später, am 9. November muss Kaiser Wilhelm II. abdanken und flieht am Folgetag in das holländische Exil. Vom Reichstagsbalkon ruft Philip Scheidemann die Republik, vor dem Berliner Schloss Karl Liebknecht die freie sozialistische Republik aus. Der Wettstreit um die zukünftige Ausrichtung des nun kaiserlosen Landes ist eröffnet. Der Erste Weltkrieg endet zwei Tage später, am 11. November, in einem Eisenbahnwaggon mit dem Waffenstillstand von Compiègne.

Es sind wilde Tage, in denen Geschichte geschrieben wird – und in denen Deutschlands Arbeitgeber und Gewerkschaften ein wegweisendes Abkommen vorbereiten, dessen Wirkung bis zum heutigen Tag zu spüren ist. Das Stinnes-Legien-Abkommen, über Wochen in Ruhe und weitgehend ungestört in den letzten Kriegstagen beraten, schließlich unterzeichnet am 15. November 1918, vermutlich im Berliner Hotel Adlon, begründet die Tarifautonomie in Deutschland. Nach mehreren Jahrzehnten harter Auseinandersetzungen erkennen sich Arbeitgeber und Gewerkschaften gegenseitig als Verhandlungspartner an und gründen die Zentrale Arbeitsgemeinschaft ZAG.

Bemerkenswert ist der Zeitpunkt, zu dem das Abkommen zustande kommt. Schließlich hätten sich die Gewerkschaften in dieser aufgewühlten Situation durchaus auf Seiten der Kommunisten und Räterepublikaner stellen können. Stattdessen schließen sie also das Abkommen mit der „feindlichen“ Arbeitgeberseite.

Bemerkenswert ist auch, wie sehr die damaligen Themen den heutigen gleichen. Fragen nach Entgelt und Arbeitszeit, die die Auseinandersetzungen zwischen beiden Lagern prägten, sind bis zum heutigen Tag elementare Bestandteile der Diskussionen zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften geblieben. Der mit Abschluss des Stinnes-Legien-Abkommens eingeführte 8-Stunden-Tag wurde nur sechs Jahre später inmitten der Hyperinflation und der großen Wirtschaftskrise der Jahre ab 1923 wieder abgeschafft. Die Folge dieser Entscheidung war das Ende der Zentralen Arbeitsgemeinschaft. Und doch hat die Tarifautonomie den Zusammenbruch dieser ersten gemeinsamen Institution der beiden Tarifpartner überlebt – ebenso wie das Verbot von Gewerkschaften und die Auflösung der Arbeitgeberverbände während der NS-Diktatur.

Grundlage der sozialen Marktwirtschaft

Hugo Stinnes, Carl Legien und ihre Mitstreiter wurden so trotz aller Widerstände und historischen Entwicklungen zu heimlichen Vätern des Grundgesetzes und der Sozialen Marktwirtschaft in Deutschland. Raumer, Borsig, Siemens, Rathenau und von Rieppel auf Arbeitgeberseite, Bauer, Schlicke, Stegerwald und Hartmann auf Gewerkschaftsseite – sie alle leisteten damit unwissentlich einen Beitrag zum Herrenchiemseer Verfassungskonvent knapp dreißig Jahre später. Die im Grundgesetz Artikel 9 Absatz 3 verankerte Tarifautonomie wäre ohne sie und ihr Abkommen nicht denkbar.

Im historischen Rückblick bemerkenswert ist allerdings, dass es den an der Entstehung des Abkommens 1918 Beteiligten keineswegs darauf ankam, ein System für die Ewigkeit zu schaffen. Es ging zunächst ganz pragmatisch um die Verhinderung staatlicher Eingriffe, sei es von republikanischer oder räterepublikanischer Seite, und um den möglichst reibungslosen Fortbestand der Arbeits- und Leistungsfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft – auch dies beides Gedanken, die von ihrer Übertragbarkeit in das 21. Jahrhundert nichts eingebüßt haben.

Der später von sozialistischer Seite häufig erhobene Vorwurf, die Gewerkschaften hätten mit dem Abkommen eine historische Chance vergeben, der Arbeiterschaft und der Verstaatlichung der Industrie zu ihrem Sieg zu verhelfen, verkennt, wie wenig Interesse auch auf der organisierten Gewerkschaftsseite an Chaos und einem völligen Umsturz des bestehenden Wirtschaftssystems herrschte. Der Kompromiss als Tugend spielte damals vermutlich eine weniger zentrale Rolle als die Wahrung gemeinsamer Interessen und der Wille, die Arbeitsbeziehungen lieber autonom auszuhandeln und sie nicht der Wankelmütigkeit staatlicher Obhut zu überlassen – trotz aller fundamentalen Unterschiedlichkeiten auf beiden Seiten.

Daran hat sich bis heute nicht viel geändert. In den Jahrzehnten nach 1949 hatten die Tarifpartnerschaft und die Tarifautonomie zahlreiche Bewährungsproben zu bestehen. Es wäre Geschichtsklitterung zu behaupten, dass Arbeitgeber und Gewerkschaften jede dieser Prüfungen mit Bravour bestanden hätten. Auch der gegenseitige Respekt, der heute in vielen Sonntagsreden beschworen wird, war nicht naturgegeben. Persönliche Kämpfe einzelner Verhandlungsführer, schonungslose Reibereien und beinharte Verhandlungsnächte gab und gibt es. Denn letztlich geht es neben der notwendigen Kompromissfindung auch immer um die Wahrung organisationspolitischer Interessen. Und diese sind zum Teil noch ebenso grundsätzlich wie gegensätzlich.

Interessen der Gewerkschaften

Für die IG Metall beispielsweise steht die Bewahrung der eigenen Organisationsstärke bis heute im Vordergrund: „Die Mitgliederfrage ist die politischste Frage der IG Metall. Sie ist das Erfolgskriterium für unsere Arbeit in den Betrieben, Verwaltungsstellen und in der politischen Arena“ betonte der damalige Zweite Vorsitzende der IG Metall, Detlev Wetzel im Januar 2013. Nur so lässt sich erklären, warum die Gewerkschaft bis heute wenig Interesse daran hat, Lösungsansätzen zuzustimmen, die betriebswirtschaftlich sinnvoll sind, aber nicht gleichzeitig die Organisationsmacht der Gewerkschaft bewahren. Als die maroden Industriebetriebe in Ostdeutschland ihre Mitarbeiter zu hunderttausenden entlassen mussten, führten die dramatischen wirtschaftlichen Umstände nicht zu einem Umdenken oder einer Änderung dieser Logik.

Auch in der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 und 2009 war die Gewerkschaftsseite erst dann zu Kompromissen in der Metall- und Elektro-Industrie bereit als der entgeltsteigernde Tarifabschluss unter Dach und Fach war. Der damalige Erste Vorsitzende der IG Metall beschrieb die Verhandlungen, wohlbemerkt rückblickend, mit dem treffenden Satz, man sei damals mit „180 Sachen in die Garage“ gefahren.

Selbst die bedeutendste tarifpolitische Veränderung der vergangenen Jahrzehnte, das Pforzheimer Abkommen von 2004, kam erst zustande, nachdem Bundeskanzler Gerhard Schröder im Krisenjahr 2003 öffentlich forderte, entweder bewegten sich die Gewerkschaften und Arbeitgeber, um „eine neue Balance zwischen Regelungen auf tarifvertraglicher und betrieblicher Ebene“ zu finden oder er werde das per Gesetz tun. Am Ende führte das dann zu einer Regelung, die weder den staatlichen Eingriff noch die betriebliche Alleinregelungskompetenz beinhaltete. Die tarifpolitische Wirkung des Pforzheimer Abkommens war enorm, kam aber letztlich nur durch staatlichen Druck einer SPD-geführten Bundesregierung zustande. Und es behielt die Tarifpartner bei der Lösungsfindung selbst auf betrieblicher Ebene zwingend mit am Verhandlungstisch.

Merkmale heutiger Tarifpartnerschaft

Was die heutige Tarifpartnerschaft von der Gründungsphase vor 100 Jahren unterscheidet, ist die inhaltliche Tiefe und Komplexität der heutigen Tarifverträge, ebenso wie die Höhe der darin über die Jahrzehnte ausverhandelten Entgeltsteigerungen und Absicherungsmechanismen für die davon erfassten Arbeitnehmer. Dienten Tarifverträge 1918 noch dem Ziel, Mindeststandards zu definieren, so hat sich heute die Lage verkehrt. Von Branche zu Branche variierend beschreiben Tarifverträge heute Höchstkonditionen, von denen zunehmend Unternehmen nach unten abzuweichen versuchen.

Die von Gewerkschaftsseite als „Lohndumping“ oder „Tarifflucht“ kritisierte Absatzbewegung ist die zumeist realwirtschaftlich begründete Furcht von insbesondere kleinen und mittelständischen Unternehmen vor Tarifkonditionen, die sie dauerhaft nicht länger wettbewerbsfähig arbeiten lassen. Es zeigt sich in der Praxis, dass Gewerkschaften meist nur dann zu Vertragsänderungen auf betrieblicher Basis bereit sind, wenn der Tarifvertrag verlassen wurde oder das Unternehmen kurz vor der Insolvenz steht. Letztlich kann man diese Hartnäckigkeit den Gewerkschaften nur bedingt zum Vorwurf machen, da sie schließlich die Interessen ihrer Mitglieder zu vertreten haben. Dennoch führt diese relative Unbeweglichkeit und mangelnde Bereitschaft, grundlegende Öffnungen innerhalb der Flächentarifverträge zu ermöglichen, zu einer beschleunigten Erosion in der Fläche. Die Zahl der abgeschlossenen Haustarifverträge, Betriebsvereinbarungen und auch Verbandsmitgliedschaften ohne Tarifbindung zeigen, dass das tarifpolitische Hauptwerk eigentlich einer gründlichen Modernisierung durch die Tarifvertragsparteien bedarf.

Doch auch das stärkste inhärente Beharrungsvermögen muss nicht von Dauer sein. Gerade zuletzt erleben wir politische Systemveränderungen, die auch für die Tarifautonomie und die Tarifvertragsparteien nicht ohne Folgen bleiben werden. Offene Grenzen und weltweiter Wettbewerb, die zunehmende Digitalisierung und die wachsende Zahl an Firmengründungen jenseits bekannter Gewerkschafts- und Verbandsstrukturen deuten an, wie dynamisch sich die Veränderungsprozesse in Wirtschaft und Gesellschaft vollziehen.

Staatliche Eingriffe

Darüber hinaus mehren sich seit der Jahrtausendwende massiv die Fälle, in denen der Gesetzgeber willentlich in die bestehenden Vereinbarungen der Tarifpartner eingreift, um vermeintliche oder tatsächliche Regelungslücken zu schließen oder auch um eine parteipolitische Überzeugung unabhängig vom Schaden für die Tarifautonomie durchzusetzen. Gerhard Schröders angedrohter Eingriff zählt ebenso dazu wie die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns – über viele Jahre von den Gewerkschaften selbst abgelehnt –, die Regulierung von Zeitarbeit und Werkverträgen, Vorschriften zur Weiterbildung oder zum Gesundheitsschutz in den Unternehmen, die Begrenzung oder Ausweitung der Arbeitszeitflexibilität.

All das sind Fälle, die eigentlich auf dem „Hoheitsgebiet“ von Gewerkschaften und Arbeitgebern beheimatet sind und zu denen es auch vielfach tariflich ausgehandelte Regelungen gibt. Doch wenn ein zwischen den Tarifpartnern ausgehandeltes Ergebnis nicht ausreicht, um den parteipolitischen Ansprüchen gerecht zu werden, zeigt sich, dass Parlamente und Regierungen zunehmend die Zurückhaltung aufgeben und in die Tarifautonomie eingreifen. Dies mag zum Teil dem Wählerwillen oder der wechselhaften öffentlichen Meinung entsprechen, dem Sinn und Zweck der Tarifautonomie entspricht es jedoch nicht. Es bringt die Tarifautonomie dauerhaft in eine gefährliche Schieflage.

„Kampfmittel“ in Tarifverhandlungen

Diese Schieflage herrscht auch auf einem anderen Gebiet: In den gewerkschaftlich gut erfassten Branchen kann seit einigen Jahrzehnten nicht mehr von einer echten Arbeitskampfparität gesprochen werden. Auch wenn am Ende der Tarifverhandlungen immer ein Kompromiss steht – die Wahl der „Waffen“ in der Verhandlungsphase ist keineswegs ausgeglichen. Das von Gewerkschaftsseite früher am meisten gefürchtete Arbeitskampfmittel der Arbeitgeberseite, die Aussperrung, wird schon lange nicht mehr angewendet. Zu verheerend waren die Folgen für die Produktion und das Betriebsklima, das doch eigentlich durch die Tarifverhandlungen geschützt werden sollte.

Ein mit breiter Beteiligung der Arbeitnehmer ausgetragener, lang andauernder Streik der Gewerkschaften richtet in jedem mittelbar wie unmittelbar bestreikten Betrieb erhebliche Schäden an. Ein Streik nach Urabstimmung würde unweigerlich Firmenpleiten nach sich ziehen. Zu vernetzt, zu verletzlich, zu kurzfristig schwankend sind Produktion, Auftragslage und Kundenbeziehungen der Unternehmen heute. Wer im Wettbewerb steht, kann sich eine massive Schädigung des Geschäfts über einen längeren Zeitraum nicht leisten. Allein die verharmlosend als „Warnstreiks“ bezeichneten Störaktionen von Gewerkschaften führen schon zu erheblichen Ausfallstunden mit entsprechender betriebswirtschaftlicher Wirkung.

Andererseits kann es sich die Gewerkschaft auch nicht erlauben, Betriebe und ihre Arbeitsplätze wegen einzelner Forderungen so unter Druck zu setzen, dass die Wettbewerbsfähigkeit massiv Schaden nimmt. Es ist eine Frage der Verhältnismäßigkeit, die gewahrt bleiben muss. Echte Gegenmittel, um diese Balance in einem Arbeitskampf durch aktiven Gegendruck wieder herzustellen, gibt es für Arbeitgeber heute kaum.

Letztlich bleibt so den Unternehmen, sofern die Branchenart das zulässt, als einziges verbliebenes Mittel in der Tarifauseinandersetzung die Flucht. Ausgründungen, Verbandsaustritt, Verlagerung, veränderte Kapazitätsplanung. Selbst große Unternehmen, die weiter und auf Dauer im Flächentarif bleiben, investieren häufig mehr in die Entwicklung an anderen Standorten, jenseits der Landesgrenzen. Auch dies ist, zumindest in Teilen, als Antwort auf die hiesige Lage zu verstehen. Die Gewerkschaften siegen sich zu Tode.

Weltweiter Wettbewerb

Vergleicht man die Wettbewerbsbedingungen in den in Deutschland führenden Industriezweigen mit denen anderer Industriestaaten, zeigt sich, dass es so gut wie kein anderes Industrieland gibt, in dem es eine solche Kombination an Qualität im Arbeitsschutz, der Entlohnung, begrenzter Stundenzahl und tariflichen Sonderkonditionen gibt, wie in Deutschland. Das Niveau ist sehr hoch.

Dass die deutsche Industrie nach wie vor wächst, dass die hiesigen Industrieunternehmen nach wie vor wettbewerbsfähig sind, hat sicherlich viel mit der Innovationskraft, der Qualität der Facharbeiter und Ingenieure, der in einigen Bereichen noch guten Infrastruktur und dem weitverbreiteten Betriebsfrieden zu tun. Es liegt zu einem wachsenden Anteil aber auch daran, dass mittlerweile andere Unternehmensstandorte weltweit die in Deutschland befindlichen Standorte quersubventionieren. Ob und wie lange ein solches Modell tragfähig ist, bleibt abzuwarten.

Klar ist, dass interne wie externe Faktoren die Zukunft des Standortes Deutschland zunehmend beeinflussen werden: weltweiter Wettbewerb, Alterung der Gesellschaft, Fachkräftemangel, strukturelle Umbrüche aufgrund der Digitalisierung, Handelskriege, Klimakrise und Klimaschutz, um nur einige zu nennen. Es ist zu vermuten, dass einige dieser Veränderungen deutlich beschleunigter vonstatten gehen werden, als wir das gewöhnt sind. Deutschlands Politik, seine Bürger, die Unternehmen und ihre Mitarbeiter werden sich darauf einstellen und damit umgehen müssen.

Tarifpartnerschaft in Zukunft

Bedeutet dies auch, dass sich die Tarifpartnerschaft in Deutschland ändern muss? Ja, ohne Zweifel. Der organisierte Interessenausgleich zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften findet nicht im luftleeren Raum statt. Im Idealfall antizipieren die Tarifparteien gemeinsam, welche Herausforderungen sich bieten und wie eine zeitgemäße Antwort darauf aussieht. Doch es sind nicht allein inhaltliche Antworten, die die Tarifpartner finden müssen. Sie müssen ebenso eine Antwort darauf finden, ob und wie die Tarifpartnerschaft selbst in Zukunft relevant bleibt.

Jüngste Vorschläge von SPD, Linken und führenden Gewerkschaften konzentrieren sich auf die Idee, die Tarifbindung verpflichtend zu machen, sie also zu erzwingen. Durch eine erleichterte Allgemeinverbindlicherklärung sollen tarifliche Konditionen auf alle Unternehmen einer Branche erstreckt werden können. Doch konterkariert dieser Vorschlag nicht exakt jene Impulse, die überhaupt erst zur Gründung der Tarifpartnerschaft geführt haben? Die Abwehr des staatlichen Eingriffs? Die freie Wahlmöglichkeit, sich für oder gegen das Tarifsystem zu entscheiden, die positive und negative Koalitionsfreiheit wäre durch dieses Manöver ad absurdum geführt. Noch schlimmer, es würde dazu führen, dass gerade nicht über notwendige Veränderungen des Produkts Tarifvertrag selbst nachgedacht würde.

Letztlich müssen sich die Tarifpartner Jahr für Jahr, Abschluss für Abschluss beweisen. Sie müssen auf bestehende Entwicklungen und erwartbare Veränderungen reagieren und die Tarifverträge wirtschaftlich angemessen, modern, zeitgemäß, lebendig und attraktiv gestalten. Der faire Ausgleich der Interessen ist das Ziel. In der Vergangenheit ist das hinreichend oft gelungen, manchmal aber auch nicht.

Entwickelt sich der Flächentarifvertrag aber über Jahrzehnte nur in eine Richtung, wird er zunehmend unattraktiv und erodiert. Diese Entwicklung erleben wir, in deutlich verlangsamter Form, heute. Gewerkschaften wie Arbeitgeber verharren teilweise auf einem brüchigen Status quo. Die Augen davor zu verschließen oder nach dem gesetzgeberischen Zwang zur Tarifbindung zu rufen, wäre Realitätsverweigerung. Es wäre auch das Eingeständnis, selbst zu schwach und mutlos zu sein, um den nötigen Reformprozess von innen heraus in Gang zu bringen und letztlich auch gegenüber den eigenen Mitgliedern durchzusetzen. Doch nötig ist diese Veränderung, nötig ist dieser Prozess und er kann gelingen, wenn beide Seiten mit gleichen Kräften auf Augenhöhe verhandeln. Ziel muss es sein, einen Flächentarifvertrag zu entwickeln, der es für Unternehmen attraktiv macht, ihm beizutreten. Inhalt und Image der Tarifverträge sind die Treiber für eine Mitgliedschaft in einer Tarifvertragspartei. Dies ist nicht Aufgabe des Gesetzgebers. Dies ist erst recht nicht Zweck der Gesetzgebung, die für alle Bürger und alle Unternehmen gleich sein und nicht eine bestimmte Vertragsform bevorzugt behandeln sollte. Dies ist und bleibt allein Aufgabe der Tarifvertragsparteien.

Vor 100 Jahren, inmitten der Wirren der letzten Kriegstage und dem Ende des Kaiserreichs, hatten Arbeitgeber und Gewerkschaften den Mut, etwas Neues zu beginnen. Man wollte, so die Essenz des Stinnes-Legien-Abkommens, das tarifpolitische Schicksal in die eigene Hand nehmen. Man wollte, trotz inniger Abneigung, lieber selbst gemeinsame Lösungen entwickeln, als sich in die Hände Dritter zu begeben und letztlich nur Spielball der sich wandelnden politischen Meinungshoheit zu sein. Von ihren eigenen Lagern, auch von der Historie wurden die Handelnden zum Teil heftig kritisiert. Und nicht jede Vereinbarung, die im Zuge dieser neuen Partnerschaft getroffen wurde, hat sich als richtig erwiesen. Doch der Mut zur Veränderung war damals – und wäre auch heute – wegweisend.

Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg: 100 Jahre Stinnes-Legien-Abkommen

Das Stinnes-Legien-Abkommen vom 15. November 1918 stellt die „Geburtsstunde der Sozialpartnerschaft“ in Deutschland dar.1 Die Arbeitgeber erkannten darin erstmals die Gewerkschaften als „berufene Vertretung der Arbeiterschaft“ an. Zudem sollten die Arbeitsbedingungen fortan durch Tarifverträge (Kollektivvereinbarungen) festgesetzt werden, Arbeiterausschüsse gebildet und der Acht-Stunden-Tag eingeführt werden.2 In der Einleitung des Abkommens heißt es, das Abkommen schaffe „wesentliche Vorbedingungen dafür […], die ungeheuren Schwierigkeiten beim Wiederaufbau unseres durch den Weltkrieg zerstörten Wirtschaftslebens im gegenseitigen Einvernehmen hoffentlich erfolgreich überwinden zu können“3. Zeitzeugen sprechen von einem „Schritt zum inneren Frieden“4. Mit diesem Abkommen wurde auch der Weg frei, den Tarifvertrag gesetzlich anzuerkennen, was im Rahmen der Tarifvertragsordnung vom Dezember 1918 geschah.5

Wenn man bedenkt, dass bis ans Ende des Deutschen Kaiserreichs auf der einen Seite bei vielen Gewerkschaftern der Standpunkt herrschte, der Arbeitgeber sei ein Klassenfeind, dem man Zugeständnisse nicht durch Verhandlungen, sondern durch Klassenkampf abringt, und auf der anderen Seite Arbeitgeber einen Herrenstandpunkt vertraten, aus dessen Sicht Tarifverhandlungen nichts anderes waren als ein unzumutbarer Eingriff in die unternehmerische Freiheit, war dies ein Meilenstein auf dem Weg zur Tarifpartnerschaft. Es gab zwar in einzelnen Branchen Tarifverträge, in wichtigen Branchen (wie der deutschen Schwerindustrie) aber nicht. Auch die Gesetzgebung verhielt sich dem Tarifvertrag gegenüber „untätig, wenn nicht ablehnend“6. So lag die Tarifbindung im Jahr 1914 – je nach Schätzung – nur zwischen 9,5 % und 16,5 %.7

Motivation

Während des Kriegs begann der Staat damit, die Gewerkschaften aufzuwerten und Tarifverträge zu fördern.8 Zunächst wurden die Gewerkschaften 1914 im Rahmen des „Burgfriedens“ als Akteur einbezogen, weil die deutsche Kriegswirtschaft ohne die Unterstützung durch die Gewerkschaften nicht zu organisieren war. Zwei Jahre später erkannte der Staat die Gewerkschaften im Rahmen des Hilfsdienstgesetzes als Vertreter der Arbeiter rechtmäßig an. Das Gesetz sah die Bildung von Arbeiterausschüssen und von paritätisch besetzten Schlichtungsausschüssen vor, was eine tarifpolitische Zusammenarbeit zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften mehr oder weniger erzwang. Als sich im Laufe des Sommers 1918 abzeichnete, dass der Krieg verloren würde, wuchs bei den Arbeitgebern die Angst vor einem Zusammenbruch der politischen Ordnung und vor anarchistischen Zuständen. Eine Sicherung des Privateigentums (der Produktionsmittel) schien nur in einer Allianz mit dem gemäßigten Flügel der Gewerkschaftsbewegung möglich. Die Gewerkschaften waren auch als Partner notwendig, um den im Zuge der Kriegswirtschaft gewachsenen Einfluss des Staats wieder zurückzudrängen. Allerdings wollten die Arbeitgeber gleichzeitig auch die Macht der Gewerkschaften beschränken, um Lohnsteigerungen zu vermeiden, die die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie gefährdeten.9 Schon bei diesen Anfangsmotiven bestand demnach ein Widerspruch, der die Entwicklung der Tarifpartnerschaft belastete.

Nach ihrer Integration in die Kriegswirtschaft und ihrer gesetzlichen Anerkennung strebten die Gewerkschaften ohnehin ein Abkommen mit den Arbeitgebern an. Mit dem Angebot der Arbeitgeber, ein gemeinsames Demobilisierungsprogramm zu vereinbaren, das den staatlichen Einfluss nach Kriegsende zurückdrängen sollte, eröffnete sich den Gewerkschaften die Chance, von den Arbeitgebern offiziell anerkannt zu werden und das Koalitions- und Tarifrecht garantiert zu bekommen. Gleichzeitig reifte in den gemäßigten Gewerkschaftskreisen die Einsicht, ein funktionierendes Tarifvertragssystem setze eine marktwirtschaftliche Ordnung voraus.10 Die abschreckenden Berichte der bolschewistischen Umwälzung in Russland begünstigten dies.

Fehlen gemeinsamer Ziele

Der Schulterschluss der Tarifpartner wurde also nicht deshalb vollzogen, um gemeinsame tarifpolitische Ziele durchzusetzen. Vielmehr ging es um ein übergeordnetes politisches Ziel: den Staat aus der Regelung der Arbeitsbedingungen herauszuhalten und die Voraussetzungen für den Übergang von einer Kriegs- zu einer Friedenswirtschaft zu schaffen.11 Tatsächlich wurden die Arbeitsbedingungen rasch aus ihrem regelungslosen Zustand herausgeholt. Zwischen Ende 1918 und Ende 1919 stiegen die Zahl der Tarifverträge von 7819 auf 11 009 und die der tarifgebundenen Arbeiter von 1,1 Mio. auf rund 6 Mio. Ende 1922 waren es sogar 14,6 Mio.12

Dass sich dieser positive Trend nicht fortsetzte, deutet schon an, dass das Fehlen gemeinsamer tarifpolitischer Ziele ein Problem war. Von Beginn an bestanden unüberbrückbare Reibungspunkte. So wurde im Stinnes-Legien-Abkommen zwar der lange von den Gewerkschaften geforderte Acht-Stunden-Tag vereinbart und auch in der Demobilisierungsverordnung vom 23. November 1918 für alle Arbeiter eingeführt. Bei den Arbeitgebern stieß der Acht-Stunden-Tag aber auf Ablehnung, weil sie ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit bedroht sahen. Der Streit um den Acht-Stunden-Tag belastete die Tarifpartnerschaft über Jahre.13 Gleiches gilt für die Lohnpolitik. Während des Kriegs machten die Arbeitgeber notgedrungen Lohnzugeständnisse, gingen aber davon aus, dass diese von vorübergehender Natur seien. Sobald die Grenzen wieder für den Warenhandel offen sein würden, sollten die Löhne und Preise wieder sinken. Diese Erwartungen gingen aber nicht in Erfüllung – im Gegenteil: Die Arbeitsbedingungen wurden in den ersten Nachkriegsjahren „fast durchweg zugunsten der Arbeiterschaft umgestaltet“14. Im Zuge der sich beschleunigenden Inflation 1922/1923 entstanden neue Interessengegensätze, die in „erbitterten Lohnkämpfen“ endeten.15 Die Laufzeiten der Tarifverträge wurden immer kürzer, weil die Kaufkraft des Lohns in der Zwischenzeit immer stärker erodierte. Für die Gewerkschaften wurde der ständige Kampf um die Erhaltung des Reallohns immer aufreibender, während die Arbeitgeber aufgrund der ständigen Lohnanpassungen Probleme hatten, ihre Preise verlässlich zu kalkulieren.16

Nach der Währungsreform im November 1923 trat an der Lohnfront immer noch keine Ruhe ein. Nun standen die Tarifparteien vor der Herausforderung, die Lohnhöhe stärker an der Lage der einzelnen Industrien zu orientieren und die während des Kriegs stark gestauchte Lohnstruktur zu differenzieren. Als besonders problematisch erwies sich die Frage, wie der lohnpolitische Verteilungsspielraum zu bemessen ist.17 Dies führte dazu, dass es Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften immer schwerer fiel, zu autonomen Vereinbarungen zu gelangen. Vermehrt wurde der Staat als „Schiedsrichter“ angerufen.18 Belastend wirkte sich zudem eine kräftige Anhebung der Beamtenbesoldung im Jahr 1927 aus, weil dadurch auch die Begehrlichkeiten der Gewerkschaften in der Privatwirtschaft wuchsen und die bestehenden Spannungen zwischen den Tarifparteien zunahmen.19

Staatliche Eingriffe

Die mangelnde autonome Konfliktlösungsfähigkeit war problematisch, weil die bilateralen Spannungen den Handlungsdruck auf den Staat erhöhten und sich der Staat ohnehin als „ultima Ratio des Tarifsystems“ verstand.20 Das zeigt sich schon darin, dass die bereits 1916 eingeführten Schlichtungsausschüsse in der Tarifvertragsordnung übernommen worden waren und die Reichsregierung deren Befugnisse im Rahmen der Verordnung über das Schlichtungswesen vom Oktober 1923 ausweitete. Wichtigste Neuerung war, dass ein Tarifvertrag durch den Staat notfalls auch zwangsweise herbeigeführt werden konnte. Zwar wollte der Staat mit der staatlichen Zwangsschlichtung den Abschluss von Tarifverträgen erleichtern und damit deren Verbreitung stützen.21 Dieser Charakter des Schlichtungswesens änderte sich aber mit der Notverordnungspolitik des Kabinetts Brüning ab Mitte 1930: Ziel der staatlichen Eingriffe in die Lohnfindung war fortan die „Durchsetzung paralleler Preis- und Lohnsenkungen“22. Durch strittige Schiedssprüche wurde die Kollektivautonomie faktisch ausgehebelt: Da die Tarifparteien keinem autonomen Einigungszwang mehr unterstanden, konnten sie auf Maximalforderungen beharren, dem Staat die tarifpolitische Lösung überlassen und „diesem dann auch die Schuld an nicht zufriedenstellenden Ergebnissen zuschieben“23. Kritisch betrachtet blieb das Stinnes-Legien-Abkommen letztlich ein Waffenstillstand „ohne jegliche Prägekraft für die praktischen Aushandlungsbeziehungen auf der nachgeordneten Ebene“24. Es kam aber noch schlimmer. Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten wurden die Gewerkschaften zerschlagen und die Arbeitgeberverbände gleichgeschaltet.25

Nachkriegsordnung

Trotz des Scheiterns knüpften die politischen Akteure nach dem Zusammenbruch der NS-Diktatur am Weimarer Sozialpartnerschaftsmodell an. Sie modifizierten es aber. Wichtigste Änderung: Im 1949 erlassenen Tarifvertragsgesetz waren keine staatlichen Schlichtungsinstitutionen mehr vorgesehen.26 Möglich wurde dies, weil sich die Sozialpartner erneut darauf verständigten, den Einfluss des Staats auf die Lohnfindung beschränken zu wollen. So konnten nicht nur gemeinsam Überlegungen der Besatzungsmächte abgewehrt werden, einen „staatskorporatistischen Ansatz“ einzuführen (der eine staatliche Genehmigungspflicht von Tarifverträgen vorsah),27 sondern auch Bestrebungen der Bundesregierung, doch noch ein gesetzliches Schlichtungsrecht zu etablieren.

Dass sich dann eine Tarifpartnerschaft entwickelte, die „eine grundlegende Neubegründung der industriellen Beziehungen in Westdeutschland“ darstellt,28 wurde durch das Wirtschaftswunder in den 1950er und 1960er Jahren begünstigt. Dieses schaffte Verteilungsspielräume, die tarifautonomes Handeln erleichterte.29 Die Tarifautonomie wurde als „Konkretisierung der Leitideen Freiheit und sozialer Ausgleich eingebunden in die gesellschaftspolitische Erfolgsgeschichte jener Zeit – die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft“30. Und: Durch den Aufschwung wurde der Staat nicht länger mit den Nachteilen, sondern mit den Vorteilen tarifautonomen Handelns konfrontiert. Das ermöglichte ihm, „sich der Einmischung nicht nur enthalten zu sollen […], sondern auch zu können“31.

Seit der ersten großen Nachkriegsrezession 1966/1967, spätestens aber seit den globalisierungsbestimmten Rationalisierungs- und Flexibilisierungsprozessen auf den Güter- und Faktormärkten waren die tarifpolitischen Interessengegensätze aber wieder spürbar.32 Das hat dazu geführt, dass die Tarifverbände als kollektive Interessenvertreter an Akzeptanz verloren haben, der Flächentarifvertrag als dominierendes Instrument der Lohnfindung in einer Krise steckt und zwischenzeitlich sogar die Institution Tarifautonomie kritisch hinterfragt wurde.33 In der Folge kam es aber – im Gegensatz zur Weimarer Republik – nicht zu direkten staatlichen Eingriffen. Vielmehr setzte ein schleichender institutioneller Wandel ein, durch den sich die Regelungskompetenzverteilung zwischen Staat und Tarifparteien änderte.34 Mehrfach passte der Staat die Rahmenbedingungen der Tarifautonomie an und lenkte dabei die (tarif)autonomen Aushandlungsprozesse. Beispiele hierfür sind die „Konzertierte Aktion“, die Änderung des §116 Arbeitsförderungsgesetz (AFG), das Bündnis für Arbeit mit der nachfolgenden Diskussion über gesetzliche Tariföffnungsklauseln, das Tarifautonomiestärkungsgesetz und das Tarifeinheitsgesetz.

Neuerliche staatliche Einflussnahme

Dieser Prozess einer staatlich gelenkten Tarifautonomie begann mit der „Konzertierten Aktion“, die eine Reaktion auf die Rezession von 1966/1967 darstellte. Erstmals unternahm der Staat nach dem Zweiten Weltkrieg den Versuch, die Gewerkschaften in eine gemeinsame makroökonomische Strategie einzubinden. Anders als in der Weimarer Republik schrieb die Regierung die gewünschte Lohnzurückhaltung aber nicht einfach vor; vielmehr versuchte sie, die Gewerkschaften im Rahmen der „Konzertierten Aktion“ durch politische Tauschgeschäfte zu gewinnen. Dieser Versuch scheiterte zwar, die Idee eines tripartistischen Bündnisses für Arbeit kehrte aber im Jahr 1998 auf die politische Agenda zurück. Mit dem „Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit“ wollte die Bundesregierung die Gewerkschaften dafür gewinnen, den gestiegenen Flexibilitätsbedürfnissen der Unternehmen stärker Rechnung zu tragen und eine beschäftigungsorientierte Tarifpolitik zu verfolgen. Hintergrund war die sich in den 1990er Jahren stetig verschlechternde Arbeitsmarktlage. Nachdem das tripartistische Arrangement 2002 missglückt war, drohte Bundeskanzler Gerhard Schröder im März 2003 damit, die nötigen Flexibilitätsspielräume per Gesetz zu eröffnen. Diese Drohung wirkte. Die Gewerkschaften willigten in den meisten Branchen ein, die betrieblichen Spielräume für Abweichungen vom Flächentarifvertrag zu erweitern. Letztlich ließ der Staat die Tarifautonomie unangetastet, lenkte mit seiner unverhohlenen Drohung aber das Verhalten der Akteure in die gewünschte Richtung.

Um das Verhalten der Tarifparteien zu steuern, nahm der Staat aber auch Justierungen im Rechtsrahmen vor. Mit der Novellierung des §116 Arbeitsförderungsgesetz (der heutige §160 Sozialgesetzbuch III) begrenzte der Staat 1986 die arbeitskampfbedingten Lohnersatzansprüche (Kurzarbeitergeld) für mittelbar durch einen Streik betroffene Arbeitnehmer gegenüber dem Arbeitsamt. Damit reagierte der Staat auf eine neue Streikstrategie der Gewerkschaften die darauf abzielte, mit wenig Streikenden einen maximalen wirtschaftlichen Druck zu entfalten (Minimax-Strategie). Das schonte die Streikkasse der Gewerkschaften, belastete aber die Arbeitslosenversicherung (Zahlung von Kurzarbeitergeld für mittelbar durch einen Streik betroffene Arbeitnehmer). Die Neuregelung erschwerte die Streikführung der Gewerkschaften und justierte die Verhandlungspositionen in Tarifverhandlungen.35

Mit dem 2014 verabschiedeten Tarifautonomiestärkungsgesetz, in dessen Rahmen erstmals in Deutschland ein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt wurde, reagierte der Staat auf die mangelnde Fähigkeit der Tarifparteien, flächendeckend existenzsichernde tarifliche Lohnuntergrenzen einzuführen. Hintergrund waren die anhaltenden Erosionstendenzen bei beiden Tarifpartnern. Die Gewerkschaften haben seit der Wiedervereinigung im Jahr 1991 massiv Mitglieder verloren und weisen inzwischen beträchtliche Repräsentativitätsdefizite auf.36 Die Arbeitgeberverbände haben auf ihre Mitgliederverluste mit der Bildung von Verbänden ohne Tarifbindung (OT-Verbände) reagiert, die den Unternehmen die üblichen Dienstleistungen anbieten, sie aber von einer Bindung an den Flächentarifvertrag befreien. Das stabilisiert zwar deren Mitgliederzahl, aber nicht die Reichweite von Tarifverträgen. Die Mitgliedererosion hat in manchen Sektoren der Volkswirtschaft zu einer solchen Regelungsschwäche der Tarifparteien geführt, dass die Gewerkschaften schließlich einen gesetzlichen Mindestlohn forderten. Zudem wollten sie die Tarifbindung über das Instrument der Allgemeinverbindlichkeit stärken.

Mit dem 2015 verabschiedeten Tarifeinheitsgesetz stellte der Staat den Grundsatz der Tarifeinheit (ein Betrieb gleich eine Gewerkschaft) auf eine gesetzliche Grundlage. Damit reagierte die Bundesregierung auf eine wachsende Gewerkschaftskonkurrenz, die durch eine Änderung der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts begünstigt wurde. Das Gericht hatte den Grundsatz der Tarifeinheit lange Zeit als elementares Ordnungsprinzip betrachtet, im Jahr 2010 dann aber aufgegeben. Daraufhin befürchteten die Arbeitgeber eine wachsende Konkurrenz zwischen den Gewerkschaften und eine Entwertung der tarifvertraglichen Friedenspflicht. Um dies zu vermeiden, forderten zunächst beide Tarifparteien die Bundesregierung auf, den Grundsatz der Tarifeinheit gesetzlich zu verankern. Obwohl die Gewerkschaften aus der gemeinsamen Initiative ausschieden, handelte die Bundesregierung, um die Kooperationsbereitschaft zwischen den Gewerkschaften zu stärken.

Parallelen zur Weimarer Republik?

Diese „Einflussepisoden“37 zeigen: Es bestehen auffällige Parallelen zur Weimarer Republik. Zum einen rufen die Tarifparteien den Staat um Hilfe, zum anderen agiert der Staat aktiver. Dennoch gibt es wichtige Unterschiede. Damals riefen die Tarifparteien den Staat zur Hilfe, weil ihnen der Regelungswille und damit auch die Regelungsfähigkeit fehlten. Und sie trafen auf einen Staat, der aktiv Einfluss nehmen wollte, um die Ausweitung kollektiver Regelungen zu fördern. Heute ist der Regelungswille bei den Tarifpartnern grundsätzlich vorhanden und in den meisten Sektoren gelingt es ihnen, tarifpolitische Interessengegensätze zum Ausgleich zu bringen. Gleichzeitig strebt der Staat weniger nach aktiver Einflussnahme als nach punktueller Beeinflussung des Verhaltens der Akteure.

Damals war der Interessenausgleich zwischen den Tarifparteien das Problem. Heute besteht es vor allem darin, die „Außenseiter“ (nicht tarifgebundene Betriebe und unorganisierte Arbeitnehmer) von den Vorteilen ihres Interessenausgleichs zu überzeugen. Je weniger dies gelingt, desto eher wird der Staat Maßnahmen zur Stärkung der Tarifbindung ergreifen. Diese könnten die Tarifparteien weiter schwächen und ihren Einfluss zurückdrängen. Die Tarifparteien stehen damit vor der Entscheidung, die eigene Mitgliederbasis zu stärken, um auf diese Weise autonomen Handlungsspielraum zu wahren und zurückzugewinnen; oder den Staat um Hilfe zu rufen, damit dieser die autonome Regelungsschwäche ausgleicht. Würde es dem Geist des Stinnes-Legien-Abkommens nicht eher entsprechen, selbst zu handeln? Dies wäre eine zeitgemäße Botschaft dieses Abkommens.

  • 1 D. Krüger: Die Geburtsstunde einer Sozialpartnerschaft. Das Stinnes-Legien-Abkommen vom 15. November 1918, in: Sozialer Fortschritt 67. Jg. (2018), H. 10, S. 823 ff.
  • 2 Vereinbarung zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden, in: Reichs-Arbeitsblatt, 16. Jg. (1918), Nr. 12, S. 874.
  • 3 Ebenda.
  • 4 Vgl. A. Schmid-Essen: Ein Schritt zum inneren Frieden, in: Wirtschaftsdienst, 3. Jg. (1918), Nr. 48, S. 1071 ff. Wieder abgedruckt in diesem Heft, S. 783-785.
  • 5 Reichsarbeitsministerium: Deutsche Sozialpolitik 1918-1928, Berlin 1929, S. 45.
  • 6 Ebenda, S. 74. Zur rechtlichen Ausgestaltung vgl. D. Krüger, a. a. O., S. 823 f.
  • 7 H. Lesch, D. Byrski: Flächentarifvertrag und Tarifpartnerschaft in Deutschland – Ein historischer Rückblick, Köln 2016, S. 15 und S. 92.
  • 8 Ebenda, S. 17 ff.
  • 9 G. D. Feldman, I. Steinisch: The Origins of the Stinnes-Legien-Agreement. A Documentation, in: Internationale Wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, 1973, Nr. 19/20, S. 45-102; H. Lesch, D. Byrski, a. a. O., S. 21 ff. Zu der in Deutschland verbreiteten Angst vor Zuständen wie in der russischen Revolution vgl. R. Gerwarth: Die größte aller Revolutionen: November 1918 und der Aufbruch in eine neue Zeit, München 2018, S. 187 ff.
  • 10 K. Steiger: Kooperation, Konfrontation, Untergang. Das Weimarer Tarif- und Schlichtungswesen während der Weltwirtschaftskrise und seine Vorbedingungen, Stuttgart 1998, S. 111.
  • 11 L. Funk: Editorial: 100 Jahre Stinnes-Legien-Abkommen – Ursprung auch der bundesdeutschen Tarifautonomie, in: Sozialer Fortschritt, 67. Jg. (2018), H. 10, S. 806 ff.
  • 12 H. Lesch, D. Byrski, a. a. O., S. 30.
  • 13 T. Pierenkemper: „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne...“ – leider aber auch der Kern eines Scheiterns: „Sozialpartnerschaft“ in Deutschland 1918-1928, in: Sozialer Fortschritt, 67. Jg. (2018), H. 10, S. 842; H. James: Deutschland in der Weltwirtschaftskrise 1924-1936, Stuttgart 1988, S. 213 ff.
  • 14 Reichsarbeitsministerium, a. a. O., S. 75.
  • 15 H. James, a. a. O., S. 210; L. Funk, a. a. O., S. 807 f.
  • 16 Reichsarbeitsministerium, a. a. O., S. 88 ff.
  • 17 K. Borchardt, C. Zahn: Zur Geschichte gewerkschaftlicher Lohnforderungen in den mittleren und späten Jahren der Weimarer Republik, München 1990.
  • 18 H. James, a. a. O., S. 211.
  • 19 Ebenda, S. 218.
  • 20 W. Plumpe: Kapital und Arbeit. Konzept und Praxis der industriellen Beziehungen im 20. Jahrhundert, in: R. Spree (Hrsg.): Geschichte der deutschen Wirtschaft im 20. Jahrhundert, München 2001, S. 186 f.
  • 21 Reichsarbeitsministerium, a. a. O., S. 94; H. Lesch, D. Byrski, a. a. O., S. 35.
  • 22 H. James, a. a. O., S. 223.
  • 23 H. Lesch, D. Byrski, a. a. O., S. 37.
  • 24 J. Kädtler: Konfliktpartnerschaft – zwischen Auslaufmodell und sozialer Innovation, in: Industrielle Beziehungen, 23. Jg. (2016), H. 3, S. 339.
  • 25 H. Lesch, D. Byrski, a. a. O., S. 43 ff.
  • 26 G. Fels: Tarifautonomie und Arbeitsmarkt, in: M. E. Streit (Hrsg.): Wirtschaftspolitik zwischen ökonomischer und politischer Rationalität, Wiesbaden 1988, S. 212; W. Plumpe, a. a. O., S. 184.
  • 27 H. Lesch, D. Byrski, a. a. O., S. 54.
  • 28 J. Kädtler, a. a. O., S. 338.
  • 29 G. Fels, a. a. O., S. 214.
  • 30 T. Fehmel: Interessenrepräsentation im Wandel: Brüche und Kontinuitäten, in: K. Andresen, U. Bitzegio, J. Mittag (Hrsg.): Nach dem Strukturbruch? Kontinuität und Wandel von Arbeitsbeziehungen und Arbeitswelt(en) seit den 1970er-Jahren, Bonn 2011, S. 275.
  • 31 Ebenda, S. 276.
  • 32 L. Funk, a. a. O., S. 816.
  • 33 N. Berthold, O. Stettes: Der Flächentarifvertrag – vom Wegbereiter des Wirtschaftswunders zum Verursacher der Beschäftigungsmisere, in: C. Ott, H.-B. Schäfer (Hrsg.): Ökonomische Analyse des Arbeitsrechts, Tübingen 2001, S. 1-29; C. Schnabel: Tarifpolitik unter Reformdruck, Gütersloh 2003; Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit: Tarifautonomie auf dem Prüfstand, Berlin 2004.
  • 34 T. Fehmel, a. a. O., S. 273.
  • 35 T. Fehmel, a. a. O., S. 278.
  • 36 H. Biebeler, H. Lesch: Organisationsdefizite der deutschen Gewerkschaften, in: Wirtschaftsdienst, 95. Jg. (2015), H. 10, S. 710 ff.
  • 37 T. Fehmel, a. a. O., S. 284.

Verhältnis von Tarifautonomie und Staat – Lehren aus dem Stinnes-Legien-Abkommen und der Tarifvertragsordnung von 1918

Das vor 100 Jahren im Zuge der Novemberrevolution von 1918 unterzeichneten Stinnes-Legien-Abkommen wird heute vielfach als Gründungsdokument der Sozialpartnerschaft und Tarifautonomie in Deutschland gefeiert.1 Auch wenn aus historischer Sicht eine solche Charakterisierung eher euphemistisch anmutet und es sich damals um ein historisches Zweckbündnis handelte, mit dem beide Parteien höchst unterschiedliche Ziele und Interessen verfolgten, so wird hier doch zweifelsohne eine grundlegende Zäsur in der Entwicklung der deutschen Arbeitsbeziehungen markiert. Im Hinblick auf die Tarifpolitik entfaltete das Stinnes-Legien-Abkommen seine historische Bedeutung jedoch erst im Zusammenspiel mit der im Dezember 1918 verabschiedeten Tarifvertragsordnung und den darin neu geschaffenen Möglichkeiten einer staatlichen Unterstützung des Tarifvertragssystems. Auch heute sollten bei der Suche nach Ansätzen zur Stärkung der Tarifbindung, Tarifautonomie und staatliche Regulierung nicht als Gegensatz, sondern als ein notwendiges Komplementärverhältnis begriffen werden.

Tarifverträge für alle Arbeiterinnen und Arbeiter

Aus Angst vor einer sozialistischen Revolution in Deutschland erklärte sich im Stinnes-Legien-Abkommen erstmals die deutsche Wirtschaft als Ganzes bereit, die Gewerkschaften offiziell als Repräsentanten der Arbeitnehmer anzuerkennen und mit diesen flächendeckend Tarifverträge abzuschließen. Wörtlich heißt es hierzu in Punkt 6 des Abkommens: „Die Arbeitsbedingungen für alle Arbeiter und Arbeiterinnen sind entsprechend den Verhältnissen des betreffenden Gewerbes durch Kollektivvereinbarungen mit den Berufsvereinigungen der Arbeitnehmer festzusetzen. Die Verhandlungen hierüber sind ohne Verzug aufzunehmen und schleunigst zum Abschluss zu bringen.“

Während die Anerkennung der Gewerkschaften gleichsam die Grundvoraussetzung für das Abkommen bildete, wurde eine Verpflichtung zum Abschluss von Tarifverträgen während der Verhandlungen im Oktober 1918 von der Unternehmerseite zunächst als undurchführbar abgelehnt. Nach Auskunft von Theodor Leipart – dem damaligen Vorsitzenden des Deutschen Holzarbeiterverbandes und späteren Nachfolger Carl Legiens als Chef des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) –, der als eine der maßgeblichen gewerkschaftlichen Vertreter an den Verhandlungen teilgenommen hatte, änderte sich die Haltung der Unternehmen erst nach dem 9. November 1918, nachdem die Revolution in Berlin die politischen Rahmenbedingungen des Abkommens noch einmal grundlegend zugunsten der Gewerkschaften verschoben hatte.2 Es bedurfte demnach erst einer Revolution, bis die deutsche Wirtschaft als Ganzes bereit war, die Verpflichtung zum Abschluss von Tarifverträgen für „alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer“ anzuerkennen.

Wie groß diese von Seiten der Unternehmen eingegangene Verpflichtung war, zeigt sich daran, dass bis zum Ersten Weltkrieg trotz eines gewissen Aufschwungs des Tarifvertragswesens die Zahl der Beschäftigten in tarifgebundenen Unternehmen immer noch unter 10 % lag. Allerdings enthielt das Stinnes-Legien-Abkommen selbst keinerlei Hinweise, wie denn eine flächendeckende Durchsetzung des Tarifvertragswesens gewährleistet werden könnte. Bereits im Frühjahr 1918 forderte die sozialdemokratisch orientierte Generalkommission der Freien Gewerkschaften, die damals den mit Abstand größten Gewerkschaftsverband repräsentierte, die Schaffung eines neuen Tarifvertragssystems, das in allen Branchen und Berufszweigen die Bildung eigenständiger gesetzlicher Tariforganisationen vorsah. Die Vertreter in diesen Organisationen sollten – ähnlich wie bei Arbeiter- und Wirtschaftskammern – jeweils von der Gesamtheit aller Arbeitnehmer und Arbeitgeber gewählt werden, während die erzielten Tarifabschlüsse automatisch für die gesamte Branche Gültigkeit erlangen sollten.3 Die Gewerkschaften folgten hierbei den Vorschlägen des deutschen Nationalökonom Lujo Brentano, der in der Schaffung gesetzlicher Tariforganisationen den einzigen Weg sah, den Widerstand großer Teile der deutschen Wirtschaft gegen Tarifverhandlungen zu überwinden.4

Die Tarifvertragsordnung von 1918 und die Bedeutung der Allgemeinverbindlicherklärung

Dass sich die Vorstellungen Brentanos und der Freien Gewerkschaften am Ende nicht durchsetzen konnten, lag zum einen am Widerstand der Christlichen Gewerkschaften, die befürchteten, im Rahmen gesetzlicher Tariforganisationen in eine permanente Minderheitenposition zu geraten. Darüber hinaus stieß die Konzeption Brentanos, wonach nicht die freiwilligen Verbände von Gewerkschaften und Arbeitgebern, sondern gesetzliche „Zwangsorganisationen“ die Träger des Tarifvertragssystems sein sollten, auch unter den damaligen Arbeitsrechtlern auf breite Ablehnung. Zu den profundesten Kritikern gehörte der Rechtswissenschaftler und Rechtspolitiker Hugo Sinzheimer, für den Tarifverträge nur dann das wirtschaftsdemokratische Prinzip der „sozialen Selbstbestimmung“ erfüllen konnten, wenn sie auf einer autonomen Unterstützung durch freiwillige Verbände beruhten.5

Die Verabschiedung der Tarifvertragsordnung vom 23.12.1918, mit der das Stinnes-Legien-Abkommen seine rechtliche Kodifizierung fand, folgte schließlich weitgehend den Sinzheimerschen Vorstellungen und etablierte ein auf freiwilligen Verbänden und autonomen Verhandlungen beruhendes Tarifvertragssystem.6 Dabei setzte sich auch die von Sinzheimer entwickelte Sichtweise durch, wonach Tarifverträge nicht einfach nur private Verträge sind, sondern dass von diesen eine soziale Normsetzung ausgeht, die einen öffentlich-rechtlichen Charakter hat.7 Dementsprechend hat auch der Staat nach Sinzheimer die Aufgabe, die Entwicklung eines autonomen Tarifvertragswesens zu fördern und gegen seine Unterminierung politisch abzusichern.

Ein zentrales Instrument zur Stützung des Tarifvertragssystems bildet die mit der Tarifvertragsordnung von 1918 erstmal eingeführte Möglichkeit einer staatlichen Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) von Tarifverträgen. Der hohe Stellenwert dieses Instruments wird dadurch unterstrichen, dass bereits § 2 der Tarifvertragsordnung dem Staat die Kompetenz einräumt, „Tarifverträge, die für die Gestaltung der Arbeitsbedingungen des Berufskreises in dem Tarifgebiet überwiegende Bedeutung erlangt haben, für allgemein verbindlich (zu) erklären.“ Tatsächlich spielte in der Weimarer Republik die Nutzung der AVE für die flächendeckende Durchsetzung von Tarifverträgen eine herausragende Rolle.8 So wurden in den 1920er und frühen 1930er Jahren regelmäßig zwischen einem Viertel und einem Drittel aller Flächentarifverträge (darunter fast alle deutschlandweit geltenden „Reichstarifverträge“) durch das Reichsarbeitsministerium für allgemeinverbindlich erklärt. Die AVE entwickelte sich dabei zu einem von Arbeitgebern und Gewerkschaften gleichermaßen akzeptierten Instrument zur Förderung der Tarifbindung.

Stärkung der Tarifbindung heute

Der 100. Geburtstag des Stinnes-Legien-Abkommens und der Tarifvertragsordnung wird zu Recht zum Anlass genommen, um hierzulande über die Zukunft des Tarifvertragssystems nachzudenken.9 Nachdem die Tarifbindung seit nun mehr als zwei Jahrzehnten einen rückläufigen Trend aufweist, fällt heute gerade noch etwa die Hälfte aller Beschäftigten in Deutschland unter den verbindlichen Schutz eines Tarifvertrages. Immer mehr Unternehmen betreiben aktive Tarifflucht oder weigern sich von Beginn an, überhaupt Tarifverträge abzuschließen. Während den Gewerkschaften oft die organisatorische Machtbasis fehlt, Unternehmen in die Tarifbindung zu zwingen, sind viele Arbeitgeberverbände aus Angst vor Mitgliederverlusten dazu übergegangen, sogenannte OT-Mitgliedschaften (OT = ohne Tarifbindung) einzurichten, mit denen de facto der Ausstieg aus den Flächentarifverträgen legitimiert wird. Hierzu passen politische und juristische Diskurse, deren Hauptsorge der sogenannten „negativen Koalitionsfreiheit“ gilt, die mitunter sogar zu einem Recht auf eine „negative Tarifvertragsfreiheit“ stilisiert wird.10 Viele deutsche Arbeitgeber haben sich damit heute meilenweit vom Stinnes-Legien-Abkommen und seiner Verpflichtung zum Abschluss von Tarifverträgen für alle Beschäftigten entfernt.

Nach Ansicht der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) besteht die Ursache für die sinkende Tarifbindung vor allem in der mangelnden Flexibilität der Tarifverträge. Dementsprechend hat der BDA-Präsident Ingo Kramer jüngst eine Reihe von Vorschlägen unterbreitet, die allesamt darauf hinauslaufen, durch mehr Öffnungs- und Differenzierungsklauseln die betrieblichen Möglichkeiten zur Abweichung von tariflichen Standards zu erhöhen.11 Auf diese Weise soll die Attraktivität von Tarifverträgen für die Unternehmen wieder gesteigert werden.

Dass ein solcher Weg die Tarifbindung wieder erhöhen würde, ist jedoch eher unwahrscheinlich. Zumindest spricht die empirische Erfahrung der letzten beiden Jahrzehnte eindeutig dagegen: Obwohl die Tarifverträge immer flexibler wurden und mittlerweile kaum mehr ein Tarifvertrag existiert, der nicht über Öffnungsklauseln den Betrieben weitreichende Gestaltungsspielräume eröffnet, ist die Tarifbindung zur gleichen Zeit kontinuierlich zurückgegangen.12 Dies ist insofern nicht weiter verwunderlich, als aus Sicht der Unternehmen die Flexibilität der Betriebe am Ende immer dann am größten ist, wenn sie gar keinen Tarifnormen unterliegen und ihre Arbeitsbedingungen individuell festlegen können.

Bei Tarifverträgen geht es jedoch nicht nur um die Festlegung mehr oder weniger intelligenter Regelungen, sondern um die Formulierung sozialer Kompromisse zwischen tendenziell unterschiedlichen Interessen. Hierbei befinden sich die einzelnen Beschäftigten gegenüber dem Arbeitgeber in der Regel in einer unterlegenden Verhandlungsposition. Die grundlegende Bedeutung von Tarifverträgen – so die höchst richterliche Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – besteht deshalb vor allem darin, dieses „strukturelle Machtungleichgewicht“ auf dem Arbeitsmarkt auszugleichen. Der Rückgang der Tarifbindung in Deutschland ist damit in erster Line Ausdruck einer Machtverschiebung zugunsten der Unternehmen, für die die traditionelle Ordnungs- und Friedensfunktionen des Tarifvertrags offensichtlich in vielen Bereichen keine Rolle mehr spielt.

Eine Stärkung der Tarifbindung bedeutet deshalb im Umkehrschluss die in den letzten Jahrzehnten einseitig verschobene Machtbalance zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern wieder herzustellen. Hierzu ist es zum einen nötig, dass die Gewerkschaften selber wieder stärker werden und durch einen höheren Organisationsgrad und eine bessere betriebliche Präsenz ihre eigene autonome Machtbasis wieder ausbauen. Darüber hinaus kommt jedoch auch dem Staat eine wichtige Rolle zu, die Rahmenbedingungen so zu setzen, dass sie einen entsprechenden Machtausgleich der Tarifvertragsparteien befördern.

Vor 100 Jahren symbolisierten das Stinnes-Legien-Abkommen und die Tarifvertragsordnung genau dieses Zusammenspiel von starken Gewerkschaften und staatlicher Unterstützung, die damals eine breite Durchsetzung des Tarifvertragssystems ermöglichte. Damals wie heute kommt dabei der AVE oder ähnlichen Instrumenten zur Förderung der Tarifbindung ein zentraler Stellenwert zu. Mit Unterstützung von Arbeitgebern, Gewerkschaften und Staat ist es in den letzten Jahrzehnten in vielen europäischen Ländern gelungen, durch eine breite Anwendung der AVE die Tarifbindung auf einem hohen Niveau von 80 %, 90 % und mehr zu stabilisieren.13 In Deutschland gibt es hingegen vor allem auf Seiten der Arbeitgeber nach wie vor eine starke Ablehnung der AVE, die von diesen nur in wenigen Ausnahmefällen akzeptiert wird. So ist denn auch die im Rahmen des Tarifautonomiestärkungsgesetzes von 2014 erfolgte AVE-Reform bislang weitgehend ins Leere gelaufen, sodass bis heute lediglich zwischen 1 % und 2 % aller Branchentarifverträge allgemeinverbindlich sind.14 Dabei zeigen sowohl die historischen als auch die aktuellen internationalen Erfahrungen, dass es für eine Absicherung der Tarifautonomie und der Gewährleistung einer hohen Tarifbindung immer auch der staatlichen Unterstützung bedarf.

  • 1 Vgl. z. B. D. Krüger: Die Geburtsstunde einer Sozialpartnerschaft. Das Stinnes-Legien-Abkommen vom 15. November 1918, in: Sozialer Fortschritt, 67. Jg. (2018), H. 10, S. 821-838.
  • 2 T. Leipart: Protokoll der Konferenz der Verbandsvorstände der Freien Gewerkschaften vom 3. Dezember 1918, dokumentiert in: K. Schönhoven: Die Gewerkschaften in Weltkrieg und Revolution 1914-1919, Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung im 20. Jahrhundert, Bd. 1, Köln 1985, S. 568.
  • 3 Generalkommission der Freien Gewerkschaften: Leitsätze zum Tarifvertragsrecht, März 1918, dokumentiert in: K. Schönhoven: Die Gewerkschaften in Weltkrieg und Revolution 1914-1919, a. a. O., S. 460-462.
  • 4 Zum Vorschlag von Brentano vgl. T. Schulten: Zur Aktualität historischer Debatten im Kontext der Tarifvertragsordnung von 1918, in: Sozialer Fortschritt, 67. Jg. (2018), H. 10, S. 859 f.
  • 5 H. Sinzheimer: Ein Arbeitstarifgesetz. Die Idee der sozialen Selbstbestimmung im Recht, Berlin 1916/1977; vgl. auch T. Schulten, a. a. O., S. 861 f.
  • 6 Zur Entstehungsgeschichte der Tarifvertragsordnung vgl. S. Hainke: Vorgeschichte und Entstehung der Tarifvertragsordnung vom 23. Dezember 1918, Dissertation an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Kiel, Kiel 1987.
  • 7 H. Sinzheimer: Ein Arbeitstarifgesetz, a. a. O., S. 21 f.
  • 8 U. Schulz: Der Staat und die Regelung der Arbeitsbeziehungen: Das Reichsarbeitsministerium 1918-1923, Paper für die gemeinsame Konferenz der Hans-Böckler-Stiftung, der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Stiftung Geschichte des Ruhrgebiets über „Gewerkschaften in revolutionären Zeiten – Europa 1917 bis 1923“ am 10./11. Oktober 2018 in Berlin.
  • 9 Vgl. hierzu die Vorträge und Diskussionen auf der gemeinsam von BDA und DGB durchgeführten Tagung „100 Jahre Sozialpartnerschaft – erfolgreich in die Zukunft“ am 15.10.2018 in Berlin. Nachzuhören unter https://www.youtube.com/user/diearbeitgeber (12.11.2018).
  • 10 Vgl. hierzu z. B. das vom Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) in Auftrag gegebene Gutachten: M. Henssler, C. Höpfner: Der Kern der negativen Koalitions- und Tarifvertragsfreiheit – Wesen, Bedeutung und Eingriffsmöglichkeiten, Berlin 2018.
  • 11 I. Kramer: Mehr Tarifbindung nur mit neuer Tarifpolitik!, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11.10.2018.
  • 12 T. Schulten, R. Bispinck: Varieties of decentralisation in German collective bargaining, in: S. Leonardi, R. Pedersini (Hrsg.): Multi-employer bargaining under pressure: decentralisation trends in five European countries, Brüssel 2018, S. 105-149.
  • 13 T. Schulten, L. Eldring, R. Naumann: Der Stellenwert der Allgemeinverbindlicherklärung für die Stärke und Stabilität der Tarifvertragssysteme in Europa, in: T. Müller, T. Schulten, G. van Gyes (Hrsg.): Lohnpolitik unter europäischer Economic Governance. Alternative Strategien für inklusives Wachstum, Hamburg 2016, S. 275-308.
  • 14 T. Schulten: The role of extension in German collective bargaining, in: S. Hayter, J. Visser (Hrsg.): Inclusive Labour Protection: The application and extension of collective agreements, ILO, Genf 2018.

Institutionalisierte Sozialpartnerschaft seit 1918: überfordert in der Weimarer Demokratie, keineswegs erfolglos in der Bundesrepublik

Die Gestaltung der Beziehungen von Arbeit und Kapital entscheidet wesentlich über die Leistungsfähigkeit des Arbeitsmarktes und die soziale Integration einer Gesellschaft. Charakteristisch für Deutschland war ein „Sonderweg“ im Vergleich zu anderen Staaten Westeuropas und den USA. „Die hierzulande institutionalisierte und durch den Staat garantierte ‚Sozialpartnerschaft‘ half zwar nicht, die sozialen und ökonomischen Krisen der ersten Jahrhunderthälfte zu vermeiden, insgesamt aber war sie durchaus erfolgreich.“1 Am Ende des Ersten Weltkriegs gab es diesen Begriff noch nicht. Vielmehr war im Gegensatz zur „Idee des Klassenkampfes“ von „Arbeitsgemeinschaft“ die Rede. Arbeitgeber und Arbeitnehmer sind hiernach zu sehen „als Glieder eines übergeordneten Ganzen, der Unternehmung selbst, aus deren Gedeihen beide Teile Vorteil ziehen und der sie daher nach Kräften dienen sollen“2.

Der Begriff „soziale Partnerschaft“ findet sich erstmals 1947 für gemeinsame Anstrengungen beim Wiederaufbau von Arbeitgebern und Gewerkschaftlern.3 Aus heutiger Perspektive wurde sie jedoch inhaltlich erstmals 1918 unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg institutionalisiert.4 Sozialpartnerschaft bedeutet dabei begrifflich heute „im Kern friedlichen Ausgleich konträrer, aber jeweils legitimer Interessen“5. Dieses Konzept hatte sich evolutionär nach der Entstehung des Fundaments des deutschen Wirtschaftssystems in den 1870/1880er Jahren nicht herausbilden können, nachdem sich die Wirtschaftspolitik nach der Wirtschafts- und Gründerkrise von 1873 von Deregulierung und Liberalisierung abwandte. Zwar hatte die „als Katastrophe wahrgenommene Gründerkrise … das naive Vertrauen in die Selbststeuerungsfähigkeit des Marktes beseitigt und den Ruf nach staatlichen Korrekturen aufkommen lassen“6. Dies galt jedoch nur äußerst bedingt für den Arbeitsmarkt, da Arbeitsverträge als freiwillig abgeschlossene Abkommen formal gleichberechtigter Partner interpretiert wurden, obwohl sich dahinter „massive soziale Unterschiede und eklatante Mißstände verbargen, die den sozialen Frieden und in letzter Konsequenz die kapitalistische Wirtschaftsordnung gefährdeten“.7 Trotzdem wurde bis 1914 offiziell daran als Leitprinzip vor allem in der Schwerindustrie festgehalten, da die tonangebenden Unternehmen einen „Herr-im-Haus-Standpunkt“ vertraten und auf firmenspezifische bzw. sogar individuelle Arbeitsverträge pochten, obwohl dies mit erheblichen Verlusten durch Arbeitskämpfe für beide Seiten sowie erheblichen Risiken insbesondere für Arbeiter (zum Teil Entlassungen trotz Legalität von Streiks, Konflikte mit der Obrigkeit, wenn Arbeitswillige bei Streiks behindert wurden) einherging: „Im Kernbereich der Arbeitsbeziehungen mischte sich der Staat … noch nicht ein und verteidigte zumindest im industriellen Bereich die weitgehende Deregulierung des Arbeitsmarktes…“8

Folglich dauerte es nach der Gründerkrise noch Jahrzehnte bis zur Ausbildung der im 20. Jahrhundert als typisch geltenden Merkmale des deutschen Kapitalismus, „in dem Unternehmen, Verbände, Politik, Verwaltung und seit dem 1. Weltkrieg auch Gewerkschaften eng miteinander kooperierten“9. Zwar kam es seit der weitgehenden Hochkonjunktur zwischen 1895 und 1914 zu derart erheblichen Streikwellen, dass Lernprozesse auf beiden Marktseiten die Folge waren und es wenigstens zu einer erheblichen Bedeutungszunahme kollektiver Handlungsmuster über Verbandsbildungen kam. Dabei setzten sich pragmatische Reformer bei den Gewerkschaften durch, die eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen klassenkämpferischen marxistischen Parolen vorzogen, was sich darin äußerte, dass „sich die der SPD nahestehenden Freien Gewerkschaften 1899 für den Tarifvertrag ‚als Beweis der Anerkennung der Gleichberechtigung der Arbeiter seitens der Unternehmer bei der Festsetzung der Arbeitsbedingungen‘ entschieden“.10 Allerdings war es – typisch für sozialpolitische Institutionalisierungsprozesse in Deutschland, die „jeweils im Kontext gesellschaftlicher und politischer Krisen oder grundlegenden Weichenstellungen, die eine ‚Entschärfung‘ der sozialen Konflikte zu verlangen schienen“11 - erst der 1. Weltkrieg selbst, welcher die formale Anerkennung der Gewerkschaften 1916 durch die Obrigkeit (Vaterländisches Hilfsdienstgesetz) und kurz nach Kriegsende und Ausrufung der Republik am 9. November 1918 durch die Arbeitgeberseite (Zentralarbeitsgemeinschaftsabkommen, ZAG) brachte.12 Diese Institutionalisierung wirkt bis heute in die Bundesrepublik, obwohl sie während der Nazizeit unterbunden worden war.

Weimars „sozialpolitischer Basiskompromiss“ und dessen Scheitern

„In dem seit Oktober verhandelten und …. am 15. November 1918 verabschiedeten Zentralarbeitsgemeinschaftsabkommen zwischen den Führungen der Großindustrie und der Gewerkschaften unter ihren Repräsentanten Hugo Stinnes und Carl Legien wurden Grundzüge einer korporatistischen, also einer auf Beteiligung von Gewerkschaften und Arbeitnehmern hin orientierten Sozialverfassung, und der Achtstundentag festgeschrieben. Während es den Führern der Gewerkschaften gelang, als offizielle Vertreter der Arbeiter anerkannt zu werden, konnten die Unternehmer mit dem Abkommen großangelegte Sozialisierungen der deutschen Industrie verhindern und eine kapitalistische Eigentumsstruktur erhalten.“13 In diesem Abkommen „akzeptierten die Unternehmer erstmals die Gewerkschaften offiziell als ‚berufene Vertreter der Arbeiterschaft‘ und fanden sich mit der betrieblichen Mitbestimmung, dem Achtstundentag und Tarifverträgen ab … Mit dem Stinnes-Legien-Abkommen wollten beide Tarifparteien ihre Existenz sichern, bevor die Politik die Initiative übernahm, beide Lager schwächte oder sie sogar für überflüssig erklärte“.14 Das Abkommen war deshalb besonders bedeutsam, weil zu diesem Zeitpunkt die Fortdauer der bisherigen marktwirtschaftlichen Ordnung auf Basis des Privatbesitzes keineswegs gesichert war. Denn neben der von sehr linken Kräften geforderten Sozialisierung waren auch Ideen der „Gemeinwirtschaft“ in der Diskussion. Dies war eine Weiterentwicklung der interventionistischen Kriegswirtschaft, bei der Staatsvertreter zusammen mit Industriellen bzw. Gewerkschaftsvertretern die Wirtschaft kontrollieren sollten, was die Autonomie Letzterer einschränken würde sowie regelmäßig auch zulasten Dritter, vor allem von Konsumenteninteressen, geschieht.15

Das Stinnes-Legien-Abkommen, dessen Inhalte 1919 in die Verfassung eingingen und gesetzlich nach und nach umgesetzt wurde, war hingegen anzusehen als „ein Basiskompromiß über die künftige Wirtschafts- und Sozialordnung“, als Bedingung für einen „sozialpartnerschaftlichen Grundkonsens“16 oder wurde interpretiert als „so etwas wie die Sozialverfassung der Republik“.17 Damals galt das Zentralarbeitsgemeinschaftsabkommen bei vielen als fortschrittlicher sozialpolitischer Kompromiss – zunächst selbst bei Teilen der Arbeitgeberseite18 –, durch den auch prinzipiell gute wirtschaftliche und soziale Ergebnisse zu erwarten waren.

Dabei wurde der bereits zuvor im Kaiserreich gelegte Pfeiler der Sozialpolitik, der als wesentlicher sozialer Fortschritt galt und dem wirtschaftlichen Vorkriegsboom nicht geschadet hatte, in die sozialpartnerschaftlichen Überlegungen mit einbezogen: „In Deutschland legten die Bismarckschen Sozialgesetze, die einen vorerst noch bescheidenen Schutz gegen die Folgen von Krankheit, Unfall, Alter und Invalidität schufen, in den 1880er Jahren den Grundstein für die Herauslösung elementarer Lebensrisiken aus der Marktsphäre, auch wenn Bismarck in erster Linie die Arbeiterbewegung schwächen wollte.“19 Ziel der ursprünglichen Verfechter des Konzepts der Sozialpartnerschaft, etwa die Vertreter der jüngeren historischen Schule, war es folglich (bei unterschiedlichen Vorstellungen über die Umsetzung im Einzelnen), „die Risiken des Arbeitsmarktes durch Versicherungen und kollektive Regelungen zu verringern bzw. beherrschbar zu machen, um durch eine geeignete Institutionalisierung (Sozialverfassung, Tarifsystem, Betriebsverfassung) zugleich der Gerechtigkeit wie der Produktivität zu dienen“20.

Allerdings hatte der Ansatz aufgrund mangelnder ökonomischer Kenntnisse zu jener Zeit einen wesentlichen Haken, der auch zu einem der entscheidenden Verhängnisse für die Weimarer Demokratie wurde: „Die Vorstellung, daß das wirtschaftliche Gleichgewicht auf den Arbeitsmärkten durch sozialpartnerschaftliche Regulierungen (Arbeitsmarktkartelle) strukturell gestört, insbesondere die Arbeit zu teuer werden könnte, spielte in diesen Überlegungen keine Rolle. Im Gegenteil erschienen unregulierte Arbeitsmärkte als unproduktiv, ineffizient und teuer.“21 Besonders in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg entwickelten sich erheblich differenziertere ökonomische Erkenntnisse hierzu, an denen es damals noch gemangelt hatte. „Eine richtig verstandene Sozialpartnerschaft will … nicht nur hervorheben, dass es neben divergierenden auch gemeinsame Interessen gibt, sondern ebenso an die gesellschaftliche Verantwortung erinnern. Diese Rückbindung an das Gemeinwohl ist notwendig, damit die Befriedung der Arbeitsbeziehungen ökonomische mit sozialer Effizienz verbindet und so ein insgesamt höherer Grad an gesellschaftlicher Wohlfahrt erreicht wird.“22 Gerade die durch Verteilungskonflikte geprägten Weimarer Verhältnisse lieferten damals sogar wesentliches Anschauungsmaterial dafür, dass es einen Trade-off gibt zwischen Arbeitsrechtsschutz und dessen negativen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Deshalb konnten später angemessene Gegenmaßnahmen getroffen werden, um ihre Wiederholung zu verhindern.

Sobald die zentralverwaltungswirtschaftlichen Pläne und Sozialisierungsbestrebungen sich nach Abschluss des Abkommens endgültig erledigt hatten, entwickelten sich recht schnell zerrüttende Grundsatz- und Verteilungskonflikte, die den Weimarer sozialpolitischen Kompromiss infrage stellten. Die Arbeitgeber erklärten die Kosten dieses Kompromisses als künftig untragbar, die Gewerkschaften reagierten mit aus Arbeitgebersicht völlig überhöhten Lohnforderungen. Hinzu kamen weitere Störfaktoren aus Unternehmenssicht durch eine gewaltige Zunahme der Regulierungsdichte, häufige Regierungswechsel und erhebliche politische und wirtschaftliche Instabilität. Zwar galt für die Phase gewisser Stabilität zwischen 1924 und 1928: „In Zeiten relativer wirtschaftlicher Verteilungsspielräume ließen sich diese tiefen gesellschaftlichen und politischen Brüche ausgleichen, ja, es konnte eine Zeitlang sogar scheinen als habe sich der monarchische Konservativismus mit der neuen Realität abgefunden.“23 Aber selbst dies geschah vor dem Hintergrund der verheerenden Hyperinflation von 1923, die einschneidende Folgen hatte: „Die schmerzlichen Verluste zumal für die Mittelschichten machten die Furcht vor einer Wiederholung der Inflation und vor der Gefahr eines weiteren ökonomischen und sozialen Abstiegs zu dem eigentlichen Motiv des politischen Verhaltens in der Krise.“24 All dies verschlechterte das sowieso oft schon distanzierte Verhältnis von Unternehmerschaft und Mittelschichten zur Weimarer Demokratie zunehmend.25

Ökonomisch etablierte sich während der kurzen Existenz der Weimarer Demokratie auch infolge der Ausgestaltung der Sozialpartnerschaft alles in allem ein verteilungspolitisches „Nullsummenspiel“ mit letztlich katastrophalen politischen Folgewirkungen. „In Deutschland… ging der Weimarer Staat unter dem gebündelten Erwartungsdruck der gesellschaftlichen Gruppen in die Knie. Und da die Loyalität der deutschen Bevölkerung gegenüber ihrer Staatsverfassung davon abhing, daß diese Verfassung und ihre Institutionen die sozialen Verteilungskonflikte lösen konnten, standen beim Scheitern des Sozialstaats auch dessen Verfassungsgrundlagen zur Disposition.“26 Ein wesentlicher Grund der Probleme war dabei, dass wirtschaftspolitisch keine Rahmenbedingungen für eine Wachstumskonjunktur gesetzt wurden bzw. geschaffen werden konnten. Charakteristisch war vielmehr die „sozioökonomische Grundtatsache der krisenhaften Stagnation“27. Eine Ursache hierfür waren wiederum zu geringe ökonomische Kenntnisse über die negativen Effizienz- und Wachstumswirkungen vermachteter Produktmärkte und eine ineffiziente Kartellkontrolle, zudem erhebliche externe Restriktionen (Goldstandard, Reparationszahlungen). All dies beeinträchtigte die Wachstumschancen: „Erst 1927 hatte die Weimarer Republik wieder das Wohlstandsniveau erreicht, auf dem das deutsche Kaiserreich vor dem Ersten Weltkrieg bereits angekommen war. Nach dem Zweiten Weltkrieg dauerte es dagegen nur fünf Jahre, um das Niveau von vor dem Ersten Weltkrieg wieder zu erreichen, und wiederum wenige Jahre später konnten die Bundesbürger durchschnittlich über mehr Güter und Dienstleistungen verfügen, als kurz vor dem Zweiten Weltkrieg im Deutschen Reich vorhanden gewesen waren.“28

Die Weltwirtschaftskrise hatte es in dieser Lage leicht, der Republik den Todesstoß zu versetzen, was wiederum auch in Zusammenhang mit der Weimarer Sozial- und Wirtschaftspolitik gestellt werden kann, auch wenn dies natürlich nicht zwingend war: „Die Krise erfaßte alle europäischen Staaten, aber in Deutschland wirkte sie besonders verheerend. Das lag unter anderem daran, daß der demokratische Staat der Weimarer Republik von seiner Geburt an ein schwacher Staat war, der den Bürgerkrieg zu vermeiden und deshalb die Zuneigung des Wahlvolks zu erkaufen gesucht hatte, indem er zum Subventions- und Umverteilungsstaat geworden war. In einem Ausmaß, das weit über das der Vorkriegszeit hinausging, wurden nach allen Seiten hin Wünsche befriedigt, die von den organisierten Interessen an den Staat herangetragen wurden. Sichtbar wurde das am sprunghaften Anstieg der öffentlichen Ausgaben, vor allem im Sozialbereich.“29 Das Weimarer prinzipiell fortschrittliche Sozialpartnerschaftskonzept führte folglich – unter äußerst schwierigen externen und internen Rahmenbedingungen – aufgrund seiner problematischen Handhabung zum Problem „überforderter Sozialstaat, der Ansprüche und Erwartungen weckte, die er am Ende nicht erfüllen konnte.“30

Sozialpartnerschaft: in der Bundesrepublik dauerhaft geglückt?

Die Lage in der Bonner und im Anschluss daran der Berliner Republik stellte sich lange völlig anders dar als die der Weimarer Republik, obwohl dort die wesentlichen sozialpartnerschaftliche Institutionen (Tarifautonomie, Sozialversicherungssystem jeweils mit zentralem Einfluss der Tarifparteien) modifiziert übernommen worden sind. Noch heute liest man regelmäßig selbst bei nicht wenigen marktfreundlich gesinnten Volkswirten: „Wesentlicher Grund für den Erfolg der sozialen Marktwirtschaft ist die Tarifautonomie. Sie gehört zu den Grundrechten, durch Artikel 9 Absatz 3 des Grundgesetzes geschützt.“31 Lange Zeit hat die Sozialpartnerschaft in der Bundesrepublik als Erfolgsmodell gegolten, gerade weil aus den Fehlern der Weimarer Republik in mehrfacher Hinsicht gelernt worden ist. So konnte sich in der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg ein „Konsensliberalismus“ entwickeln, der „den Primat politischer Gemeinsamkeiten und das Verbindende der Demokratie als Lebensform herausstellte“32, und der erst in jüngster Zeit durch populistische illiberale Herausforderungen infrage gestellt wird, aber bisher nicht durch völlig systemfeindliche Parteien wie in der Weimarer Republik.

Die in der Weimarer Republik häufig verwendete und von den Tarifparteien antizipierte Zwangsschlichtung existiert seit der Bonner Republik nicht mehr, da sie in der Weimarer Phase die Probleme verschärfte: „Damit gewann das Tarifvertragswesen einen Zwangscharakter, und der Staat geriet mit fatalen Folgen in die Rolle des Schiedsrichters. Das Instrument der Zwangsschlichtung … ließ die Tarifparteien in unversöhnlichen Positionen erstarren, da ihnen der Staat letztlich die Verantwortung abnahm. Daher kam es zur Diskreditierung des Kompromisse und zum Legitimationsverlust des Staates, der beiden Seiten als Sündenbock galt“.33

Die Tarifordnungspolitik der Bundesrepublik hat lange Zeit für eine ausgewogene Balance bei der „Garantierung der positiven wie negativen Koalitionsfreiheit sowie des Rechtes auf Einsatz von Kampfmaßnahmen“34 gesorgt. Tarifordnungspolitik in diesem Sinne ist erfolgversprechend, da heute angesichts von Fortschritten in der ökonomischen Analyse bekannt ist: Am Arbeitsmarkt führt in der Praxis in der Regel weder die reine freie Marktlösung noch jede Ausgestaltungsform von Tarifautonomie immer zu optimalen Ergebnissen.35

Die Konzeption von sozialer Marktwirtschaft des ersten Wirtschaftsministers und anschließenden Kanzlers Ludwig Erhard (1949-1966) in der „Bonner Republik“ beinhaltete einen Vorrang des Wachstums vor der Verteilung. „Denn Wachstumspolitik wurde als die beste Sozialpolitik angesehen. Als das vorzüglichste Mittel für Wirtschaftswachstum wurde wiederum die Marktwirtschaft selbst betrachtet.“36 Relevant erscheint es, dass die Verteilungsspielräume hierdurch so groß sind, dass dauerhafte zermürbende Verteilungskonflikte vermieden werden können.

Die Einschätzung als Erfolgsmodell trifft jedoch – außer in nicht wenigen politisch ausgerichteten Festreden – vor allem für die ersten Jahrzehnte der Bonner Republik zu, die im Nachhinein angesichts vergleichsweise hoher Verteilungsspielräume eine „Schönwetterperiode“ war, während seit der zweiten Hälfte der 1970er Jahre in Westdeutschland mit der schubartig ansteigenden Arbeitslosigkeit bei im Trend sinkendem Wirtschaftswachstum auch die Tarifautonomie immer mehr unter Beschuss geriet. Dabei ermöglichten es gerade die vorherigen Erfolge, dieses Problem zunächst zu finanzieren, solange diese Dysfunktionalität der Tarifautonomie – eine systematische Herauspreisung Arbeitsloser aus dem Arbeitsmarkt, während Arbeitsplatzbesitzer sich materiell besser stellen konnten – nicht beseitigt wurde. Nach und nach gelang es jedoch, diese Fehlsteuerung des Arbeitsmarktes durch Strukturreformen zu verringern. Dieses Jahrzehnte dauernde tendenzielle Machtungleichgewicht zulasten der Arbeitgeberseite und der Arbeitsuchenden bzw. Outsider am Arbeitsmarkt hat sich jedoch im Zuge der Wiedervereinigung, der Bedeutungszunahme der Globalisierung und der Digitalisierung verschoben. Denn dieser Wandel ist mit einer erheblichen Bedeutungsabnahme von Gewerkschafts- und Arbeitgebermitgliedschaften, Flächentarifverträgen und gewerkschaftlicher Mitbestimmung einhergegangen.37 Daher wird in der aktuellen Debatte vielfach ein geschwächtes Tarifvertragssystem gesehen, bei dem vor allem gewerkschaftsnahe Autoren ein partielles Machtungleichgewicht zulasten der Arbeitnehmerseite bemängeln, das eine staatliche Stützung der Tarifautonomie etwa durch staatlich gesetzte Mindestlöhne im Niedriglohnbereich erfordere.38

Das dahinter stehende Dilemma zeigte sich bereits regional in Ostdeutschland 1990, wo der Flächentarifvertrag und die Sozialpartnerschaft schnell erodierten: „Nur durch eine flächendeckende Durchsetzung einer harten Regelung der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen durch den Staat hätte … überhaupt der Flächentarifvertrag gerettet werden können. Gerade dazu war aber die Politik bei der hohen Arbeitslosigkeit nicht bereit, denn dieser Weg hätte ganz offensichtlich die marktwirtschaftliche Regeneration in Mittel- und Ostdeutschland maßgeblich erschwert“.39 Ob dies nun in Zeiten von sehr hoher Beschäftigung in Deutschland, die möglicherweise auch Folge überaus expansiver Geldpolitik ist, bei in den letzten beiden Jahrzehnten deutlich flexibler und betriebsnäher gewordenen Tarifverträgen anders zu handhaben wäre, ist umstritten. Möglich wäre dies, indem etwa die Allgemeinverbindlichkeit ausgeweitet würde, um den Transaktionskosten sparenden Flächentarifvertrag gegenüber speziellen Interessen von Spartengewerkschaften zu stabilisieren. Die Gegenposition rät jedoch davon ab: Hiernach besteht auch ein marktwirtschaftlich adäquaterer Weg für die traditionellen Tarifpartner: „Sie müssen eben die Lohnstrukturen ändern. Sie müssen – noch bevor Fachgewerkschaften neu gegründet oder aktiv werden – die besonderen Interessen von deren potenziellen Mitgliedern berücksichtigen. Nur wenn sie dies tun, können sie ihren Einfluss wahren. Mehr als das: Sie können an Einfluss gewinnen, die Lage am Arbeitsmarkt ist günstig.“40

Schlussfolgerungen

Das Stinnes-Legien-Abkommen schaffte eine notwendige Voraussetzung für die Ermöglichung von Sozialpartnerschaft, indem es formal die Chance auf mittelfristigen sozialen Ausgleich etablierte. Dies war umso bedeutsamer, da ansonsten in der Weimarer Republik die Interessengegensätze dominierten. Dass es letztlich scheiterte, ist tragisch, zugleich jedoch auch ökonomisch gut erklärbar. Zentrale Bedingung für dauerhaft funktionierende Sozialpartnerschaft ist, dass es nicht gelingt, die intern oder extern entstehenden Lasten auf die jeweils andere Seite oder Dritte abzuwälzen. Genau dies geschah jedoch in der Weimarer Republik. Sozialpartnerschaft kann wohl nur dann dauerhaft glücken, wenn sie aufgrund von ausreichend verfügbaren Verteilungsspielräumen nicht ein ständiges konfliktreiches „Nullsummenspiel“ zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite ist. Zugleich wird die Wirtschaft überfordert, wenn Verteilungskämpfe zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite Wachstum und Beschäftigung mindern sowie Arbeitslosigkeit oder Inflation im Trend in die Höhe treiben und große Gruppen von Teilhabe am Wohlstandszuwachs ausgrenzen.

  • 1 W. Plumpe: Kapital und Arbeit. Konzept und Praxis der industriellen Beziehungen im 20. Jahrhundert, in: R. Spree (Hrsg.): Geschichte der deutschen Wirtschaft im 20. Jahrhundert, München 2001, S. 178.
  • 2 A. Schmidt-Essen: Ein Schritt zum inneren Frieden, in: Wirtschaftsdienst, 3. Jg. (1918), H. 48, S. 1072. Wieder abgedruckt in diesem Heft, S. 783-785.
  • 3 Vgl. H. J. Rösner: Sozialpartnerschaft, in: R. H. Hasse, H. Schneider, K. Weigelt: Lexikon Soziale Marktwirtschaft, 2. Aufl., Paderborn u. a. O. 2005, S. 419 f.
  • 4 Vgl. L. Funk, H. Lesch (Hrsg.): 100 Jahre Sozialpartnerschaft. Themenheft des Sozialen Fortschritts, 67. Jg. (2018), H. 10.
  • 5 W. Plumpe, a. a. O., S. 179.
  • 6 H. Berghoff: Moderne Unternehmensgeschichte, Paderborn u. a. O. 2004, S. 189.
  • 7 Ebenda, S. 222.
  • 8 Ebenda, sowie im Einzelnen, S. 223 ff.
  • 9 Ebenda, S. 189.
  • 10 Ebenda, S. 225.
  • 11 W. Plumpe, a. a. O., S. 181 f.
  • 12 Ebenda, S. 182.
  • 13 J. Leonhard: Der überforderte Frieden, München 2018, S. 438.
  • 14 H. Berghoff, a. a. O., S. 198.
  • 15 Vgl. A. J. Nicholls: Freedom with Responsibility, Oxford, New York 2000, S. 21 f.
  • 16 Beide Zitate von H. Berghoff, a. a. O., S. 199.
  • 17 H. Schulze: Vom Scheitern einer Republik, in: K. D. Bracher, M. Funke, H.-A. Jacobsen (Hrsg.): Die Weimarer Republik 1918-1933, 2. Aufl., Bonn 1988, S. 622.
  • 18 J. Hacke: Liberal sein oder nicht sein: Die Existenzkrise der Republik, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 63. Jg. (2018), H. 11, S. 53 f.
  • 19 H. Berghoff, a. a. O., S. 222.
  • 20 W. Plumpe, a. a. O., S. 180.
  • 21 Ebenda, S. 180 f.
  • 22 H. J. Rösner, a. a. O., S. 419 f.
  • 23 H. Schulze: Kleine deutsche Geschichte, München 1998, S. 155.
  • 24 K. D. Bracher: Überlegungen zu Verfassung und Scheitern der Weimarer Republik, in: A. Rödder (Hrsg.): Weimar und die deutsche Verfassung, Stuttgart 1999, S. 64.
  • 25 H. Berghoff, a. a. O., S. 199 ff.
  • 26 H. Schulze, a. a. O., S. 161.
  • 27 D. J. K. Peukert: Die Weimarer Republik, Frankfurt a. M. 1987, S. 24.
  • 28 J.-O. Hesse: Wirtschaftsgeschichte, Frankfurt, New York 2013, S. 36.
  • 29 H. Schulze, a. a. O., S. 160.
  • 30 A. Wirsching: „Paradoxe Revolution“, in: Das Parlament vom 23.7.2018, S. 9.
  • 31 K.-H. Paqué: Vollbeschäftigt. Das neue deutsche Jobwunder, München 2012, S. 90.
  • 32 J. Hacke, a. a. O., S. 62.
  • 33 H. Berghoff, a. a. O., S. 227.
  • 34 B. Külp: Verteilung, 3. Aufl., Stuttgart 1994, S. 288.
  • 35 L. Funk: Arbeitskampf, in: H. Oberreuter, J. Althammer, C. Müller (Hrsg.): Staatslexikon, Bd. 1, 8. Aufl., Berlin 2017, Sp. 2065-2072.
  • 36 P. Engelkamp, F. L. Sell: Einführung in die Volkswirtschaftslehre, 5. Aufl., Berlin, Heidelberg 2011, S. 455.
  • 37 Vgl. z. B. H. Biebeler, H. Lesch: Organisationsdefizite der deutschen Gewerkschaften, in: Wirtschaftsdienst, 95. Jg. (2015), H. 10, S. 710-715.
  • 38 Vgl. W. Müller-Jentsch: Gewerkschaften und Soziale Marktwirtschaft seit 1945, Stuttgart 2011, S. 197.
  • 39 K.-H. Paqué: Hat die Deutsche Einheit die Soziale Marktwirtschaft verändert?, in: W. Plumpe, J. Scholtyseck (Hrsg.): Der Staat und die Ordnung der Wirtschaft, Stuttgart 2012, S. 193 f.
  • 40 K.-H. Paqué: Vollbeschäftigt ..., a. a. O., S. 91.

Ein Beitrag von Alfred Schmidt-Essen zum „Stinnes-Legien-Abkommen“ zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften vom 15. November 1918

Soll dem aus tausend Wunden blutenden Deutschland eine neue Zukunft aus den Trümmern des alten erblühen, so ist die Wiedererlangung des inneren Friedens dafür erste Voraussetzung. Je mehr es gelingt, die inneren Gegensätze zu überwinden, desto größer die Energie, die der nationalen Produktion zuströmt. Kampf im Inneren bedeutet Vergeudung von Kräften, die in den Dienst des Aufbaus der Volkswirtschaft im friedlichen Wettbewerb mit dem Ausland gestellt werden können und müssen.

In diesem Sinne ist es zu begrüßen, daß in diesen Tagen ein Ringen seinen Abschluß gefunden hat, das länger als ein halbes Jahrhundert währte und die deutsche Einigkeit gefährdete. Am 15. November ds. Js. ist ein Vertrag zwischen den großen Arbeitgeberverbänden auf der einen und den Gewerkschaften auf der anderen Seite eingegangen worden, der nichts anderes als einen Friedensschluß nach hartnäckig geführtem Kriege bedeutet. Die Gewerkschaften können ihn als vollen Erfolg buchen. Wenige Tage vorher feierten sie ihr 50 jähriges Bestehen. Denn am 26. September 1868 tagte in Berlin der Kongreß, der die Gründung zentraler „Arbeiterschaften“ beschloß. Es ist nicht wenig, was die Gewerkschaften seitdem erreicht haben.

Hervorgegangen sind die Gewerkschaften aus dem Gedanken, daß die Durchsetzung der Arbeiterinteressen nur möglich sei im Wege der Organisation und im Kampf mit dem Unternehmer. Die Idee des Klassenkampfes stand auf dem Panier; der Streik war das wichtigste Mittel. Die Unternehmer stellten sich auf einen entsprechenden Standpunkt. Sie organisierten sich gleichfalls; sie setzten der Gewalt den Zwang entgegen. Zahlreiche Schlachten wurden in diesem Kriege geschlagen, die der Volkswirtschaft schweren Schaden zufügten. Wer die Wirtschaftsgeschichte der letzten fünfzig Jahre kennt, weiß, wie oft die Gewerkschaftsführer die Arbeitsniederlegung anordneten und ganze Reviere mit einem Schlage zum Feiern brachten. Der Ausgang war verschieden, meist aber war das Glück weder der einen noch der andern Partei gänzlich hold. Die soziale Gesetzgebung nahm dann dem Gegensatz viel von seiner Schärfe. Gleichwohl bedrohte er dauernd unser Wirtschaftsleben.

Es konnte nicht ausbleiben, daß die Gewerkschaften, je mehr sich die praktische Arbeit häufte, die sie zu bewältigen hatten und je mehr sie die eigentliche politische Agitation den Parteien überließen, vom Radikalismus abgedrängt und zu größerer Mäßigung geleitet wurden. Sie erlebten es jeden Tag und jede Stunde, welche Schwierigkeiten sich im einzelnen der Durchführung ihrer Ideale, auch wenn wirklich guter Wille auf allen Seiten vorhanden war, in den Weg stellten. Diese durch die Praxis erworbene Mäßigung machte es möglich, daß die Gewerkschaften im Kriege ihre Mitarbeit dem Volksganzen zur Verfügung stellten. An der Lösung der durch den Krieg aufgeworfenen Probleme organisatorischer Art gebührt ihnen ein hervorragender Anteil. Die Kriegsarbeit hat zunächst zu einer Annäherung zwischen der Regierung und den Gewerkschaften geführt, deren Einfluß auf die Leitung des Reichs unablässig wuchs und hat auch die Gewerkschaften mit den Unternehmern und ihren Verbänden häufiger zusammengebracht. Diese Entwicklung findet nun in dem Vertrag vom 15. November ihren Abschluß. Natürlich hat die politische Macht, in deren Besitz die Arbeiterschaft je länger der Krieg dauerte, desto vollkommener gelangte, dabei ihre Rolle gespielt. Es ist aber festzustellen, daß nicht der Umschwung der jüngsten Wochen, die Revolution, die Vereinbarung geboren hat, sondern daß die Verhandlungen darüber schon Monate zurückreichen.

Unter dem Vertrag stehen u. a. die Namen von Stinnes, Springborum, Siemens und Borsig, aber auch von Legien und Stegerwald. Für jeden Kundigen geht schon allein daraus die ungeheure programmatische

Bedeutung dieser Vereinbarung hervor. Denkt man an Friedenszeiten, so ist man fast geneigt zu glauben, daß Feuer und Wasser sich vermählt haben.

Es ist zu hoffen, daß namentlich auch im Ausland die Wichtigkeit dieses Schrittes zum inneren Frieden in der Flucht der sich überstürzenden Ereignisse gebührend gewürdigt wird. Denn die Grundlagen, auf denen die Wiederaufrichtung der deutschen Volkswirtschaft zu erfolgen hat, werden durch den Vertrag zu einem wesentlichen Teil bestimmt. Auch die Erfolgsaussichten sind unter Berücksichtigung der eingetretenen Harmonie zu beurteilen. Die Bereitwilligkeit des Auslandes, sich an dem wirtschaftlichen Neubau Deutschlands zu beteiligen, kann dadurch nur vergrößert werden.

Der Vertrag beginnt mit der grundsätzlichen Feststellung, daß die Gewerkschaften als berufene Vertretung der Arbeiterschaft in aller Form anerkannt werden. Eine Beschränkung der Koalitionsfreiheit der Arbeiter und Arbeiterinnen ist unzulässig, und die Arbeitgeber und Arbeitgeberverbände erklären, die Werkvereine (die sogenannten „wirtschaftsfriedlichen“ Vereine) fortab vollkommen sich selbst zu überlassen und sie weder mittelbar noch unmittelbar zu unterstützen. Die Bestimmungen richten sich gegen eine mögliche Praxis von Arbeitgebern, Arbeiter bestimmter Richtungen nicht zu beschäftigen. Vor dem Kriege beklagten sich die Arbeiter vielfach über ein „Schwarze-Listen-System“ und Aussiebung der Arbeiter durch die Arbeitsnachweise der Arbeitgeber. Inwiefern diese Beschwerden begründet waren, kann im Rahmen dieser Arbeit nicht untersucht werden. Es genügt festzustellen, daß derartigen Klagen durch den Vertrag jetzt der Boden entzogen wird.

Die wirtschaftsfriedlichen Vereine, von ihren Gegnern mit Vorliebe als „gelbe“ bezeichnet, stehen im Gegensatz zu den übrigen Gewerkschaften. Sie verfechten nicht die Idee des Klassenkampfes, sondern der Arbeitsgemeinschaft. Sie betrachten Arbeitgeber wie Arbeitnehmer als Glieder eines übergeordneten Ganzen, der Unternehmung selbst, aus deren Gedeihen beide Teile Vorteil ziehen und der sie daher nach Kräften dienen sollen. Die Werkvereine verwerfen von diesem Standpunkt aus den Streik, der geeignet sei, die Unternehmung zu schädigen. Sie erstreben gütliche Regelung von Streitfragen im Wege der direkten Besprechung mit der Werkleitung zur Erzielung von Kompromissen, unter Berücksichtigung der berechtigten Interesses beider Teile und des Interesses der Unternehmung. Entstanden sind die Werkvereine in Betrieben, in denen ein gewisses patriarchalisches Verhältnis herrschte und sozialpolitische Einrichtungen schon vor Eingreifen der Gesetzgebung und später vielfach über diese hinaus aus freiem Entschluß weitsichtiger Unternehmer in größerem Umfange durchgeführt waren. Hier waren naturgemäß die Reibungsflächen bedeutend verringert. Daß die Unternehmer sich in jeder Beziehung auf Seiten der Werkvereine stellen mußten, ergibt sich aus alledem von selber. Nachdem aber nun mit den sogenannten Kampfgewerkschaften eine Verständigung erzielt ist, durch die eine dauernde Zusammenarbeit von Arbeitgeber und Arbeitnehmer gewährleistet wird, ist der Gedanke der Arbeitsgemeinschaft, in großem Umfange wenigstens, auf andere Weise verwirklicht, und so mag es den Arbeitgebern leichter geworden sein, die Werkvereine, denen ihre Liebe gehörte, sich selbst zu überlassen. Nur die Kampfgewerkschaften sind unter dem Vertrag vertreten, durch Legien und Stegerwald, nämlich die Generalkommission der freien Gewerkschaften, der Gesamtverband der christlichen Gewerkschaften und der Zentralverband der Hirsch-Dunkerschen Gewerkvereine.

Schon lange vor Beginn der Verhandlungen mit den Gewerkvereinen hatten sich die Unternehmer durchweg im Sinne von Punkt 4 des Vertrages ausgesprochen, wonach sämtliche aus dem Heeresdienst zurückkehrende Arbeitnehmer Anspruch haben, in die Arbeitsstelle wieder einzutreten, die sie vor dem Kriege inne hatten. Da dies mit Schwierigkeiten verknüpft ist, so wollen die beteiligten Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände dahin wirken, daß durch Beschaffung von Rohstoffen und Arbeitsaufträgen diese Verpflichtung in vollem Umfange durchgeführt werden kann. Gemeinsame Regelung und paritätische Verwaltung des Arbeitsnachweises ist vorgesehen. Gerade die Neugestaltung des Arbeitsnachweiswesens war bislang ein gefährlicher Zankapfel.

Von großer Bedeutung ist die Bestimmung, daß die Arbeitsbedingungen für alle Arbeiter und Arbeiterinnen entsprechend den Verhältnissen des betreffenden Gewerbes durch Kollektivvereinbarungen mit den Berufsvereinigungen der Arbeitnehmer festzusetzen sind. Die Verhandlungen hierüber sind, so heißt es im Vertrag, ohne Verzug aufzunehmen und schleunigst zum Abschluß zu bringen. Es ist sehr die Frage, ob es möglich sein wird, die hier angestrebten Tarifverträge in absehbarer Zeit allgemein durchzuführen. Die besonderen Verhältnisse in den einzelnen Industriezweigen werden nicht immer die Anwendung dieses Schemas gestatten. Die Lehrbücher der Staatswissenschaften waren bislang über die Notwendigkeit einer Differenzierung einer Meinung. Im Vollzugsrat der Arbeiter- und Soldatenräte Berlins ist bereits Klage geführt worden, daß der Umwandlung der Akkord- in Lohnarbeit in den Berliner Betrieben Widerstände entgegenträten. Es läßt sich von hier aus nicht beurteilen, ob und inwieweit die Begründung mit der Furcht der Unternehmer vor der bevorstehenden Sozialisierung der Betriebe zutrifft, die ein Redner für diese Hemmnisse gab, ob und inwieweit anderseits die Schwierigkeit im Wesen der Betriebe selbst liegt.

Später hat der Vollzugsrat erklärt: Die Frage der Akkordarbeit kann im gegenwärtigen Augenblick grundsätzlich nicht geregelt werden; sie muss vielmehr bis zum Wiederaufbau eines geregelten Wirtschaftslebens zurückgestellt werden.

Noch verwickelter als bei den Kollektivvereinbarungen über das Lohnsystem liegen die Dinge in der Frage des Achtstundentags als Maximalarbeitszeit. Ein Mann, der gewiß nicht im Verdacht stehen kann, andere Interessen als die der Arbeiter wahrzunehmen, der frühere Arbeitersekretär, jetzige Unterstaatssekretär J. Giesberts, M. d. R., schreibt darüber in der „Nordd. Allg. Ztg.“ (Nr. 588 v. 18. Nov.): „Man darf hinter diese Vereinbarungen ein Fragezeichen setzen. Nicht in dem Sinne, als sei der Achtstundentag ein unmögliches Ziel, im Gegenteil, jeder Sozial- und Wirtschaftspolitiker wird es freudig begrüßen, wenn die Arbeitszeit allgemein in dieser Weise begrenzt werden könnte. Das Fragezeichen gilt der Möglichkeit der Durchführung. Man darf indessen die Zuversicht haben, daß wenn Arbeiter und Arbeitgeber dieser größten Industriegruppen hier vorbildlich vorangehen, die nicht erfaßten Gewerbe allmählich nachkommen werden. Der Achtstundentag wurde ja schon vor dem Kriege von den Arbeitern der Großeisenindustrie und allen Industrien mit ununterbrochenem Feuer lebhaft verlangt. Nachdem diejenigen Gruppen der Industrie, die sich am meisten dagegen gewehrt haben, sich freiwillig auf den Boden des Achtstundentags stellen, wird man seine Durchführbarkeit erhoffen dürfen.“ Die Frage des Achtstundentages berührt unsere Wettbewerbsfähigkeit mit dem Auslande unmittelbar. Wenn das Ausland, das in sozialpolitischer Hinsicht schon vor dem Kriege im allgemeinen im Vergleich zu Deutschland weit zurückgeblieben war, durchschnittlich 10 Stunden und länger arbeitet, geraten wir mit achtstündiger Arbeitszeit ins Hintertreffen. Gerade die Zeit des Wiederaufbaus erfordert aber, daß wir unsere Kräfte aufs Äußerste anspannen. Geholfen wäre uns, wenn es auf der Friedenskonferenz gelänge, durch internationale Vereinbarungen den Achtstundentag in der ganzen Welt einzuführen. Jedenfalls müssen unsere Vertreter darauf hinarbeiten. Nachdem die Franzosen, wie aus Straßburg berichtet wird, sofort durch militärischen Zwang den Achtstundentag, wo er im Elsaß von den Arbeiter- und Soldatenräten eingeführt worden war, wieder abschafften, scheint die Neigung auf der Gegenseite allerdings nicht gerade groß zu sein. Im Augenblick kommt uns auf alle Fälle eine Einschränkung der Arbeitszeit sehr gelegen, um den zurückkehrenden Truppen Arbeitsgelegenheit zu schaffen. Der Berliner Vollzugsrat hat sogar bestimmt, daß zur Eindämmung der Arbeitslosigkeit Entlassungen nicht erfolgen dürfen, bevor nicht die Arbeitszeit bis zu 4 Stunden herabsetzt ist. Die Frage ist nur, ob der Achtstundentag über den vorübergehenden Zweck hinaus als dauernde Einrichtung beibehalten werden kann. Das Programm der sozialistischen Regierung, das gleich nach dem erfolgten Umschwung durch einen Aufruf der Volksbeauftragten bekanntgegeben worden ist, sieht vor, daß der achtstündige Maximalarbeitstag spätestens am 1. Januar 1919 in Kraft trete.

Es bleibt noch die Regelung der Vertretung von Arbeitnehmern und Arbeitgebern innerhalb der einzelnen Betriebe übrig. Nach dem Vertrag vom 15. November sind in den schon besprochenen Kollektivvereinbarungen Schlichtungsausschüsse bzw. Einigungsämter vorgesehen, bestehend aus der gleichen Anzahl von Arbeitnehmer- und Arbeitgeber-Vertretern. Das Regierungsprogramm verkündigt, daß die auf Schlichtung von Streitigkeiten bezüglichen Bestimmungen des Gesetzes über den vaterländischen Hilfsdienst beibehalten werden, während dieses Gesetz selbst aufgehoben wird. Inzwischen hat der Berliner Vollzugsrat verfügt, daß zur Wahrnehmung der politischen und wirtschaftlichen Interessen von Arbeitern und Angestellten Betriebsräte innerhalb der Betriebe zu bilden sind, die die Aufgaben der bisherigen Arbeiterausschüsse zu erfüllen haben. Gemeinsam mit der betreffenden Betriebleitung haben sie alle die Arbeiter und Angestellten betreffenden Fragen zu regeln. Sie sollen dauernd mit den Gewerkschaften in Fühlung bleiben. Bei Differenzen mit der Betriebsleitung müssen die Gewerkschaften zugezogen werden, bevor die Arbeiterschaft weitere Schritte unternimmt.

Der Vertrag zwischen den Gewerkschaften und Arbeitgeber-Verbänden sieht ferner die Errichtung eines Zentralausschusses auf paritätischer Grundlage mit beruflich gegliedertem Unterbau seitens der betreffenden Organisationen vor. Er soll zur Durchführung der getroffenen Vereinbarungen, zur Regelung der Demobilisierung und zur Sicherung der Daseinsmöglichkeit der Schwerkriegsbeschädigten dienen. Ferner obliegt ihm die Entscheidung grundsätzlicher Fragen, soweit sich solche namentlich bei der kollektiven Regelung der Lohn- und Arbeitsverhältnisse ergeben, sowie die Schlichtung von Streitigkeiten, die mehrere Berufsgruppen zugleich betreffen.

Berücksichtigt man noch, daß die bei Beginn des Krieges aufgehobenen Arbeiterschutzbestimmungen regierungsseitig wieder in Kraft gesetzt worden sind, daß die Aufhebung der Gesindeordnungen und der Ausnahmegesetze gegen die Landarbeiter erfolgte, daß die Unterstützung von Erwerbslosen und die Ausdehnung der Versicherungspflicht auf dem Gebiete der Krankenversicherung über die bisherige Grenze von 2500 M hinaus vorgesehen ist, so erhellt, daß unter Mitwirkung der daran Beteiligten ein sozialpolitisches Programm zur Durchführung gesehen ist, so erhellt die ganze Tragweite dieses umfassenden sozialistischen Programms. Es ist zu wünschen, daß seine Durchführung im Wege internationaler Vereinbarung ermöglicht wird.

Title:Collective bargaining partnership – an old but endangered alliance?

Abstract:100 years ago, in November 1918, the Stinnes Legien Agreement was drawn up between various employers’ associations and trade unions. It included collective bargaining autonomy and collective agreements, the eight-hour work day and work councils. It soon failed, but served as a model for the legal regulation of collective bargaining relations after the Second World War. In the meantime, however, collective bargaining has declined significantly. Many employers are members of their associations without a collective agreement. At the same time, union memberships are declining. In view of increasingly precarious forms of employment, the government apparently needs to implement stronger regulations on collective bargaining relations again, such as the Minimum Wage Act. Finally, a look back: In 1918, editorial member Alfred Schmidt-Essen commented on the agreement from a current perspective. We document the article.


DOI: 10.1007/s10273-018-2366-8

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