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In der EU-Handels- und Investitionspolitik gibt es viele Baustellen. Um die bestehenden und geplanten Freihandelsabkommen beurteilen zu können, werden die einzelnen Effekte detailliert aufgezeigt. Die Wirkungen der europäischen Handelspolitik sowie des neuen Protektionismus der USA werden untersucht und erläutert.

Die Handels- und Investitionspolitik der EU befindet sich in einer Phase des Umbruchs. In der „Global Europe“-Strategie aus dem Jahr 2006 stand vor allem das Erzielen wirtschaftlicher Vorteile im Zentrum der Bemühungen der EU. Die Turbulenzen um das transatlantische Handels- und Investitionsabkommen (TTIP) und sein vorläufiges Scheitern, sowie die Schwierigkeiten bei der Ratifizierung des Freihandelsabkommens mit Kanada (CETA) haben zu einer strategischen Umorientierung geführt. Nun steht – jedenfalls in der Veröffentlichung der EU-Kommission „Trade for All“ von 2015 – das Ziel im Vordergrund, soziale und ökologische Nachhaltigkeit mit wirtschaftlichen Vorteilen zu verbinden. Damit reagiert Europa auch auf neue Befunde der empirischen Wirtschaftsforschung, die deutlich machen, dass Handelsliberalisierung in der Vergangenheit Gewinner aber auch Verlierer hervorgebracht hat, genauso wie das die neoklassische Theorie vorhersagt.1

Weltweit nehmen sich Politiker mit vermeintlich einfachen Lösungen dieser Verlierer an. So hat Donald Trump die Präsidentschaftswahlen in den USA mit einem dezidiert protektionistischen Kurs gewonnen, der jetzt auch allmählich in reale Politik umgesetzt wird. In Großbritannien haben sich im Brexit-Referendum Kräfte durchgesetzt, die die EU für Fehlentwicklungen im Inland verantwortlich machen. Auch in Deutschland, Frankreich und Italien gibt es starke populistische Parteien. Neben den sozial- und verteilungspolitischen Problemlagen stellt der aggressive Protektionismus des US-Präsidenten Trump und die geostrategische Offensive eines wieder stärker staatskapitalistisch agierenden Chinas Europa vor neue Herausforderungen. Die Politik stemmt sich gegen diese Entwicklungen, indem sie verspricht, sich um die „Verlierer“ zu kümmern. Der „Trade for All“-Standpunkt der Kommission ist eine Ausprägung dieses Versuchs; auch die bisher als neoliberal verschrienen Institutionen Weltbank und Weltwährungsfonds stimmen ein.2 Der französische Präsident Emmanuel Macron und der Präsident der Europäischen Kommission Jean-Claude Juncker forderten jüngst sogar „une Europe qui protège“: ein Europa, das schützt!

Das klingt zunächst gut, doch haben unterschiedliche Gruppen in der Bevölkerung unterschiedliche Vorstellungen davon, was schützenswert ist und welche Instrumente anzuwenden sind. Auch der gerne gestellten Forderung „fairer und freier Handel“ kann man kaum widersprechen; nur weiß keiner wirklich, wie Fairness objektiv definiert werden soll. Was die einen als fair erachten, finden die anderen unfair; das gilt innerhalb von Volkswirtschaften und zwischen ihnen. Klar ist aber, dass gerade die kreative Zerstörung, die von Handelsliberalisierung ausgeht, die Handelsgewinne möglich macht. Verhindert man diese Prozesse, weil man keine Verteilungseffekte zulassen will, verzichtet man auf volkswirtschaftliche Produktivitäts- und Wohlfahrtsgewinne, die gerade für eine alternde Gesellschaft essenziell sind.

Freihandelsabkommen der EU

Status quo im Jahr 2018

Abbildung 1 zeigt, dass 22,2 % der weltweiten Nachfrage durch die EU abgedeckt ist (die Länder der EU vereinen auf sich 22,2 % des weltweiten BIP). Die EU hat Freihandelsabkommen mit Drittstaaten verhandelt, auf die 8,3 % der Weltnachfrage entfallen. Die wichtigsten Freihandelsabkommen sind der Europäische Wirtschaftsraum (Norwegen, Island, Liechtenstein), die Zollunion mit der Türkei, Freihandelsabkommen mit der Schweiz, Mexiko, Chile, Peru, mit Korea (seit 2011), der Ukraine (seit 2014) und Kanada (vorläufig in Kraft seit 2017). Insgesamt sind dies 68 Länder, darunter aber viele sehr kleine, sodass der durch diese Abkommen abgedeckte Anteil der Weltnachfrage immer noch gering ist.

Abbildung 1
Anteile der durch Freihandelsabkommen der EU abgedeckten globalen Nachfrage
Anteile der durch Freihandelsabkommen der EU abgedeckten globalen Nachfrage

1 Indonesien, Philippinen, Malaysia, Singapur, Thailand, Vietnam (mit den vier weiteren ASEAN-Mitgliedern wird nicht verhandelt).  2 Argentinien, Brasilien, Paraguay, Uruguay (mit Venezuela wird nicht verhandelt).
3 Benin, Burkina Faso, Cap Verde, Elfenbeinküste, Gambia, Ghana, Guinea, Guinea-Bissau, Liberia, Mali, Niger, Nigeria, Senegal, Sierra Leone, Togo und Mauretanien.  4 Burundi, Kenia, Ruanda, Tansania, Uganda.

Quellen: EU-Kommission; WTO; Weltbank; eigene Berechnungen.

Die EU ist derzeit in Verhandlung mit einer ganzen Reihe von Staaten. Dabei ist vor allem das Freihandelsabkommen mit Japan zu erwähnen, das politisch abgeschlossen ist, aber dessen Text noch nicht final vorliegt. Dieses würde 6,7 % der Weltnachfrage abdecken. Weitere teilweise schon ausverhandelte aber noch nicht ratifizierte Abkommen mit insgesamt sechs Staaten aus dem Verband Südostasiatischer Nationen (ASEAN-Staaten, darunter Singapur und Vietnam) würden weitere 3,3 % der der Weltnachfrage unter den Schirm europäischer Handelsabkommen bringen. In einer ähnlichen Größenordnung bewegen sich auch die derzeit verhandelten Abkommen mit Indien und mit Mercosur – einer Zollunion in Südamerika, der Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay angehören. Australien und Neuseeland kommen gemeinsam auf 1,9 % der Weltnachfrage; die neuen Wirtschaftspartnerschaftsabkommen mit afrikanischen Regionen fallen derzeit größenordnungsmäßig kaum ins Gewicht. Insgesamt gilt: All die erwähnten Verträge sind im Vergleich mit dem transatlantischen Abkommen TTIP von eher geringer Bedeutung. Auf die USA entfällt insgesamt ein Viertel der Weltnachfrage; ein Abkommen wäre daher für die EU von sehr viel größerer strategischer Bedeutung als die Summe aller anderen in Verhandlung befindlichen Abkommen.

Die Abkommen werden kontrovers diskutiert. Ein zentrales Problem ist, dass der Verhandlungsprozess und die besprochenen rechtlichen Regelungen immer noch einem veralteten Paradigma folgen: Hauptziel der Verhandlungen ist die Verbesserung des Marktzugangs, was durch Absenkung von Zöllen und anderen Barrieren erreicht werden soll. Gerade mit entwickelten Ländern stehen aber Fragen der regulatorischen Zusammenarbeit im Vordergrund, die einer anderen Logik als die der Zollsenkung folgen.3 Es geht nicht um das Absenken auf Null. Was Länder als „optimale Regulierung“ ansehen, hängt von ihren oft recht unterschiedlichen Präferenzen ab, und es stellen sich wichtige Fragen hinsichtlich der demokratischen Legitimierung dieser Prozesse.

In der volkswirtschaftlichen Theorie und Modellbildung sind diese Fragen bisher nicht gut abgebildet. Das heißt, es werden Modelle eingesetzt, die sich für die Analyse des Abbaus von Zöllen sehr gut eignen, die neuen regulatorischen Fragen aber nur unvollständig abbilden und insbesondere die Kosten einheitlicher – und damit aus nationaler Sicht oft suboptimaler – Standards und allgemein des Souveränitätsverzichts nicht berücksichtigen. Natürlich lässt sich entgegen halten, dass diese Bedenken zwar wichtig sind, aber im Rahmen von rechenbaren allgemeinen Gleichgewichtsmodellen kaum vernünftig abbildbar sind, und dass die Modelle weiterhin ihre Berechtigung haben, weil sie Strukturen aufdecken und Hinweise auf Größenordnungen geben können. Außerdem sind die gängigen Simulationsmodelle nicht in der Lage, die Verteilungseffekte und die Anpassungskosten aus Handelsliberalisierungen realistisch zu quantifizieren. Versuche dazu existieren zwar, aber die Wissenschaft hat noch keinen allgemein anerkannten Modellrahmen entwickelt, mit dem quantitative Ex-ante- und Ex-post-Analysen durchgeführt werden können.4 Gleichzeitig sind die benannten Schwachstellen der volkswirtschaftlichen Analysemodelle nicht die einzigen. Die Modelle sind durchgehend statischer Natur, wodurch dynamische Handelsgewinne, für die es in der empirischen Literatur starke Belege gibt, unberücksichtigt bleiben, und die wirtschaftlichen Vorteile von Freihandel unterschätzt werden.

Wie hoch sind die Handelsgewinne?

Abbildung 2 wendet ein Standardmodell der sogenannten „Neuen Quantitativen Handelstheorie“ an, um die Größenordnung und Entwicklung der Handelsgewinne für Deutschland über die Zeit zu quantifizieren.5 Dabei wird jedes Jahr mit einem hypothetischen Autarkiezustand verglichen, in dem außer den Handelskosten alle anderen Parameter (insbesondere jene, die die technologischen Möglichkeiten beschreiben) konstant gehalten werden. Das Modell ist auf Basis der besten verfügbaren Daten (World Input-Output Database – WIOD) kalibriert, umfasst 31 Wirtschaftszweige (einschließlich Dienstleistungen) und 40 Länder. In jedem Sektor existieren Unternehmen mit heterogener Produktivität, die unter Bedingungen monopolistischen Wettbewerbs entscheiden, in welchen Märkten sie tätig sind.6 Das Modell unterscheidet zwischen realem Einkommen und realem Konsum; der Unterschied zwischen diesen beiden Größen ist der Saldo der Handelsbilanz.

Abbildung 2
Handelsgewinne im Vergleich zu einem hypothetischen Autarkiezustand
Handelsgewinne im Vergleich zu einem hypothetischen Autarkiezustand

Die Abbildung zeigt simulierte Handelsgewinne. Dabei wurde ein quantitatives Handelsmodell auf Basis des Melitz-Modells eingesetzt, das mit Hilfe von Daten des WIOD-Projektes kalibriert wurde.

Quellen: G. Felbermayr, J. Gröschl, B. Jung: Wohlfahrtseffekte der Handelsliberalisierung, Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Arbeitspapier, Nr. 3/2017; M. Melitz: The Impact of Trade on Intra-Industry Reallocations and Aggregate Industry Productivity, in: Econometrica, 71. Jg. (2003), H. 6, S. 1695-1725.

Abbildung 2 zeigt, dass Mitte der 1990er Jahre eine Abkehr vom beobachteten Status quo hin zu einem Zustand der Autarkie mit Realeinkommensverlusten von ca. 12 % und mit Einbußen beim realen Konsum von ca. 10 % geführt hätte. 2014 wäre ein solcher Übergang mit Einkommensverlusten von 22 % und von Einbußen im realen Konsum von 13 % einhergegangen. Zwei Dinge fallen ins Auge. Erstens, die aggregierten Gewinne durch Handel haben sich von 1995 bis 2011 ungefähr verdoppelt; seitdem hat es keine weiteren Zugewinne gegeben. Zweitens, die Gewinne im realen Konsum sind deutlich geringer; dies ist auf die Existenz erheblicher Handelsbilanzüberschüsse Deutschlands zurückzuführen. Diese Überschüsse haben sich über die Jahre erhöht, sodass die Expansion der Einkommen nur unterproportional zu Zuwächsen im realen Konsum geführt hat.

Welche Rolle spielte die Handelspolitik?

Nun stellt sich die Frage, was zu dem Anstieg der Handelsgewinne geführt hat. Dieser könnte durch konkrete historische handelspolitische Maßnahmen erklärt werden, durch technologischen Fortschritt, unilaterale Maßnahmen der Handelspartner oder Veränderungen der Präferenz der Konsumenten. Für diesen Zweck, haben Felbermayr et al. in ihrem Gutachten für den Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung zunächst mit Hilfe eines empirischen Handelsflussmodells geschätzt, welche handelsschaffenden Effekte durch verschiedene handelspolitische Maßnahmen verursacht wurden.7 In einem zweiten Schritt lassen sich diese Effekte in Absenkungen von Handelskosten umrechnen, die wiederum mit Hilfe des Neuen Quantitativen Handelsmodells auf ihre Einkommenseffekte überprüft werden können. Diese Methode erlaubt es, den „echten“ (kausalen) Effekt der Maßnahme zu isolieren, und andere Determinanten des Welthandels (wie z. B. den allgemeinen Produktivitätsanstieg in China) herauszurechnen.

Abbildung 3 zeigt die handelsschaffenden Effekte konkreter handelspolitischer Maßnahmen zwischen 2000 und 2014 aus deutscher Sicht. Hier tritt vor allem der Beitritt Chinas zur Welthandelsorganisation (WTO) im Jahr 2001 in den Vordergrund. Dieser hat den deutschen Warenhandel mit China um durchschnittlich ca. 140 % und den Dienstleistungshandel um ca. 80 % ansteigen lassen. Felbermayr et al. zeigen, dass Importe stärker als Exporte gestiegen sind und dass Deutschland insgesamt stärkere handelsbelebende Effekte zu verzeichnen hatte als andere Länder in der Stichprobe. Der 2012 stattgefundene Beitritt Russlands zur WTO hatte jedoch keinen eindeutigen Effekt auf die Handelsvolumen.

Abbildung 3
Handelsschaffungseffekte der Handelspolitik, 2000 bis 2014
in %
Handelsschaffungseffekte der Handelspolitik, 2000 bis 2014

in %

Anmerkung: Die Abbildung zeigt Durchschnittseffekte auf den deutschen Handel; in den Simulationen werden hingegen direktionale sektorspezifische Schätzer verwendet.

Quellen: WIOD 2013; Berechnungen des ifo Instituts mit Hilfe sektoraler Gravitationsgleichungen; G. Felbermayr, J. Gröschl, B. Jung: Wohlfahrtseffekte der Handelsliberalisierung, Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Arbeitspapier, Nr. 3/2017.

Die im Zeitraum von 2000 bis 2014 erfolgten Beitritte von insgesamt 13 Ländern in die EU haben hingegen sehr deutliche Zuwächse um ca. 50 % des Handels mit sich gebracht. Auch der Abschluss des Freihandelsabkommens mit Korea, das seit 2011 in Kraft ist, hat sowohl im Güter- als auch im Dienstleistungshandel zu erheblichen Zuwächsen zwischen 20 % und 25 % geführt. Ein Teil der handelsschaffenden Effekte ist durch beobachtbare Zollsenkungen erklärbar; der größere Teil muss aber durch Absenkung von nicht-tarifären Barrieren zustande gekommen sein. Mit Hilfe von Zolldaten und Handelselastizitäten lassen sich diese Handelskostensenkungen quantifizieren und, gemeinsam mit den Zollsenkungen, in das quantitative Handelsmodell einsetzen. Dies erlaubt die Berechnung von Realeinkommenseffekten der Maßnahmen unter Berücksichtigung der Effekte des allgemeinen Gleichgewichts (insbesondere von Handelsumlenkungseffekten). Abbildung 4 zeigt, was passieren würde, wenn die zwischen 2000 und 2014 erfolgten handelspolitischen Maßnahmen rückgängig gemacht würden.

Es zeigt sich, dass das Realeinkommen Deutschlands im Vergleich zum Status quo des Jahres 2014 um ca. 5 % geringer wäre; damit nimmt Deutschland im Vergleich mit den anderen größeren EU-Staaten eine besondere Rolle ein. Frankreich würde durch eine Rückabwicklung der Maßnahmen Realeinkommensverluste von 3 %, Großbritannien von 2 % erleiden. Dies liegt unter anderem daran, dass die Handelskostensenkungen im Verarbeitenden Gewerbe, in dem Deutschland einen relativ hohen Anteil der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung erzielt, stärker ausgeprägt sind als im Dienstleistungsbereich. Dazu kommt, dass die Handelskosten Deutschlands niedriger sind als diejenigen vieler anderer EU-Mitglieder, sodass das Handelsvolumen vergleichsweise hoch ist. Daher trifft eine Veränderung von Handelskosten auf eine hohe Basis und es kommt zu hohen Einkommenseffekten. Kleinere Länder profitieren naturgemäß mehr, weil sie in stärkerem Ausmaß vom Außenhandel abhängig sind als größere Länder. Der Befund für Großbritannien ist interessant, und mag verständlich machen, warum die Bürger dieses Landes die Vorteile einer EU-Mitgliedschaft nicht so klar sehen wie andere EU-Bürger. Interessant ist auch, dass die den konkreten handelspolitischen Maßnahmen zurechenbaren Gewinne von 5 % ca. 80 % der insgesamt seit 2000 angefallenen Handelsgewinne ausmachen (vgl. dazu Abbildung 2).

Abbildung 4
Realeinkommenseffekte bei einer Rückabwicklung der Handelspolitik, 2000 bis 2014
in %
Realeinkommenseffekte bei einer Rückabwicklung der Handelspolitik, 2000 bis 2014

in %

Quellen: WIOD 2013; eigene Berechnungen des ifo Instituts. Nur Modelle mit nationalen und internationalen Vorleistungsverflechtungen. Handelsbilanz auf Null gesetzt. G. Felbermayr, J. Gröschl, B. Jung: Wohlfahrtseffekte der Handelsliberalisierung, Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Arbeitspapier, Nr. 3/2017. Dabei wurde ein quantitatives Handelsmodell auf Basis des Melitz-Modells eingesetzt, das mithilfe von Daten des WIOD-Projektes kalibriert wurde. Vgl. M. Melitz: The Impact of Trade on Intra-Industry Reallocations and Aggregate Industry Productivity, in: Econometrica, 71. Jg. (2003), H. 6, S. 1695-1725.

Blick nach vorn

Schließlich lohnt sich auch ein Blick nach vorn: Wie hoch sind die Realeinkommenseffekte der in Verhandlung befindlichen Abkommen? Nicht zu allen handelspolitischen Projekten der EU liegen vergleichbare Simulationsrechnungen vor; bei einigen (etwa TTIP) klaffen die Evaluationsergebnisse stark auseinander. Verwendet man ein einheitliches Szenario – vollständige Eliminierung aller Zölle und Absenkung der nicht-tarifären Handelshemmnisse in einem Ausmaß, das dem empirisch messbaren Durchschnitt der bereits in Kraft befindlichen Abkommen entspricht – so erhält man die Ergebnisse, die in Abbildung 5 dargestellt sind.8 Die langfristigen Realeinkommensgewinne (pro Kopf) belaufen sich im Falle eines transatlantischen Abkommens mit den USA auf 215 Euro; das sind 0,55 % des Pro-Kopf-Einkommens des Jahres 2014. Diese Zahlen beinhalten keine positiven oder negativen Effekte durch ein etwaiges Investitionsschutzkapitel, sie enthalten keine dynamischen Effekte (sei es durch die Weiterentwicklung von Regulierung über das Abkommen hinaus, oder durch erhöhtes Produktivitätswachstum aufgrund eines verstärkten Handels), und sie sagen nichts über Verteilungseffekte aus.

Abbildung 5
Realeinkommenseffekte neuer Abkommen
Realeinkommenseffekte neuer Abkommen

Quellen: WIOD 2013; Berechnungen des ifo Instituts. Nur Modelle mit nationalen und internationalen Vorleistungsverflechtungen. Handelsbilanz auf Null gesetzt. Dunkelblau eingefärbte Balken beziehen sich auf umfangreiche quantitative Studien, die in der Literaturliste angeführt werden. Hellblau eingefärbte Balken beziehen sich auf eine eigens für diesen Artikel durchgeführte Schnellabschätzung auf Basis des ifo Handelsmodells. G. Felbermayr, J. Gröschl, B. Jung: Wohlfahrtseffekte der Handelsliberalisierung, Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Arbeitspapier, Nr. 3/2017.

Die Abkommen mit ASEAN würden Pro-Kopf-Gewinne von ca. 93 Euro wert sein; das sind 0,25 % des Status quo; ein Abkommen mit der Eurasischen Wirtschaftsunion würde sehr ähnliche Effekte zeitigen.9 Ein Abkommen mit Indien und die Summe der Wirtschaftspartnerschaftsabkommen mit afrikanischen Staaten (EPA) bringen jeweils ca. 60 Euro pro Person, das sind 0,15 % des Pro-Kopf-Einkommens aus 2014.10 Die Abkommen mit den Mercosur-Staaten, Japan und Australien plus Neuseeland könnten Einkommensgewinne von 40 Euro bis 50 Euro bringen, das sind um 0,1 %.11 Wenn auch einzelne Abkommen für sich genommen nur geringe Effekte haben, so ist die Summe des Programmes sehr viel beträchtlicher: Würden alle Abkommen umgesetzt, so könnte das jährliche Pro-Kopf-Einkommen in Deutschland um fast 700 Euro steigen, das sind insgesamt 55 Mrd. Euro, bzw. 1,7 % des BIP.

Zur Reform der europäischen Handelspolitik

Betrachtet man ökonomische Durchschnittseffekte, so lässt sich feststellen, dass die Handelspolitik der EU von 2000 bis 2014 erfolgreich war: Sie hat zu einem deutlichen Handelswachstum geführt, und dies hat das Realeinkommen der Deutschen im Durchschnitt um ca. 5 % steigen lassen. Das entspricht 80 % der insgesamt seit 2000 angefallenen Handelsgewinne. Die Umsetzung der in Verhandlung befindlichen Handelsabkommen würde einen weiteren Zuwachs von insgesamt 1,7 % des Realeinkommens bringen; dabei entfällt auf ein transatlantisches Abkommen ca. ein Drittel. Das heißt, dass perspektivisch ein neues TTIP – mit einem grundlegend erneuerten Mandat – verhandelt werden sollte. Dies wäre der beste Weg, manche von der US-amerikanischen Administration beklagten Asymmetrien im transatlantischen Verhältnis auszuräumen. So erhebt die EU auf Autos aus den USA einen Importzoll von 10 %, während die USA auf Autos aus der EU einen Zoll von 2,5 % erheben. Bei Kleinlastwagen ist die Situation genau umgekehrt. Eine Bereinigung der Situation könnte die handelspolitische Situation zwischen der EU und den USA verbessern.

Obwohl die Zölle allgemein niedrig sind, versprechen ambitionierte Handelsabkommen immer noch erhebliche Realeinkommensgewinne, für die es nicht notwendig ist, über das bisher übliche Niveau der Absprachen hinauszugehen. Insbesondere sind für die Gewinne keine Investitionsschutzkapitel erforderlich. Das bedeutet nicht, dass solche Bestimmungen nicht zusätzliche positive Effekte erzielen könnten, sondern dass es ein Fehler wäre, wegen der Nicht-Durchsetzbarkeit bestimmter Formen der Rechtsdurchsetzung im Investitionsbereich auf den Abschluss von Freihandelsabkommen insgesamt zu verzichten oder ihren Ratifizierungsprozess zu gefährden. Daher ist zu wünschen, dass Investitionsfragen aus den Handelsabkommen der EU ausgeklammert werden. Dies macht es auch wahrscheinlicher, dass die Abkommen als EU-only-Verträge zu ratifizieren sind, was die Verhandlungsmacht Europas international steigern sollte.

Die Hinzunahme einer immer längeren Liste von Themen in Handelsabkommen, die nicht direkt mit Handelsbarrieren zu tun haben – wie z. B. Umwelt-, Arbeits- oder Sozialstandards –, ist problematisch. Es ist zwar richtig, dass die EU über die Handelspolitik Hebel in der Hand hält, um Drittstaaten zur Einhaltung von Menschenrechten, Sozialstandards oder Umweltschutz zu bewegen. Die Frage ist allerdings, wo die Grenze zwischen berechtigten Anliegen der EU und einer ungerechtfertigten Einmischung der EU in den Regulierungsvorbehalt ausländischer Regierungen liegt. Eine aus ökonomischer Sicht sinnvolle Abgrenzung sollte sich am Vorliegen globaler externer Effekte orientieren. Eine Absenkung von Handelsbarrieren kann dazu führen, dass die Anreize der Handelspartner externe Effekte zu adressieren sinken, was die Bewältigung globaler Probleme wie des Klimawandels erschwert.

So sollte die EU die Gewährung von Handelspräferenzen von einer umfassenden und hinreichend ambitionierten Bepreisung von CO2-Emissionen abhängig machen. Dies muss auch Emissionen durch die Veränderung von Landnutzung (z. B. durch Abholzung) enthalten. Ähnlich liegt beim Thema der Bewahrung der Biodiversität ein globales öffentliches Gut vor, zu dessen Schutz sich EU-Handelspartner verpflichten sollten. Auch die Einhaltung der Menschenrechte gemäß der UNO-Menschenrechtscharta muss eine Vorbedingung für präferenzielle Handelspolitik sein, weil ihre Nicht-Einhaltung zu Migrationsbewegungen führen kann. Hier hat die EU ein rechtfertigbares Interesse, weil sie durch diese externen Effekte Nachteile erleidet.

Allerdings heißt das nicht, dass man mit Ländern wie Brasilien oder Indonesien nur dann ein Handelsabkommen schließen sollte, wenn diese Länder sich zu einer umfassenden und adäquaten Bepreisung von CO2-Emissionen verpflichten. Viel besser wäre es, wenn die EU auf Importe aus diesen Ländern eine Nachbesteuerung des CO2-Gehaltes durchführen würde. Damit wären Importe demselben CO2-Preis unterworfen wie heimische Produkte.12 Es ist dringend geboten, dass in internationalen Klimaverträgen sowie in der WTO die rechtlichen Grundlagen dafür geschaffen werden. Ebenso wäre hierfür dringend erforderlich, dass Europa selbst eine funktionierende Bepreisung von CO2-Emissionen einführt, die die externen Kosten widerspiegelt. Ein solches regelbasiertes System hätte den Vorteil, dass keine potenziell hoch brisanten Ad-hoc-Verhandlungen oder -Entscheidungen notwendig wären, und ein verlässliches System für alle Handelspartner der EU geschaffen würde.

Bei Sozial- oder Arbeitsstandards ist die Situation weniger offensichtlich. Solange der Handelspartner grundlegende Menschenrechte einhält, sollte sich die EU aus Verteilungsfragen im Ausland heraushalten. Zwar stimmt natürlich, dass niedrige Löhne im Ausland die arbeitsintensiven Sektoren in der EU unter Druck setzen. Die EU hat aber keinen Vorteil, wenn sie ausländische Regierungen dazu zwingt, die Arbeitskosten über das Wertgrenzprodukt der Arbeit zu treiben. Damit verteuern sich Importe, die Handelsgewinne im Inland verschwinden, die Arbeitsnachfrage im Ausland verringert sich, sodass dort Arbeitslosigkeit entstehen kann. Das „right to regulate“ wäre verletzt; Entwicklungsländer würden sich um ihre Exportchancen betrogen sehen. Ein globaler Mindestlohn etwa wäre also nicht der richtige Weg. Die Forderung, dass die Gewährung eines präferierten Marktzugangs an die Einhaltung der Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation gebunden sein soll, ist hingegen sinnvoll, weil sie den Handelspartnern hinreichend Spielraum lässt.

Als Antwort auf die verteilungspolitischen Herausforderungen der Globalisierung wäre es sinnvoll, wenn die Mitgliedstaaten der EU ihre Steuer- und Transfersysteme anpassen würden. Eine erfolgreiche Außenhandelspolitik bedarf einer adäquaten „Binnenwirtschaftspolitik“, die eine geeignete Verteilung der Handelsgewinne zum Ziel hat. Jens Südekum hat unlängst die Herausforderungen bei der Kompensation von Globalisierungsverlierern diskutiert und auf die Rolle der Regionalpolitik hingewiesen.13 Die derzeit recht aktive Forschung in diesem Bereich zeigt neue Wege auf: So scheint es in neueren Modellen des Außenhandels durchaus möglich, mit Hilfe von Steuern und Transfers eine vollständige Kompensation der Verlierer herzustellen; in älteren Modellen war dies unmöglich.

Sind die Instrumente zur Durchsetzung fairen Handels fair?

Das WTO-Recht sieht eine Reihe von Instrumenten vor, mit denen sich Länder gegen angeblich unfaire Praktiken ihrer Handelspartner zur Wehr setzen können. Darunter fallen Antidumpingzölle, Ausgleichszölle (countervailing tariffs) gegen Subventionen oder auch Schutzzölle (safeguard tariffs) in Notsituationen. Die EU verwendet die in den WTO-Texten angebotenen Handelsschutzinstrumente relativ häufig.14 Dabei werden Antidumpingzölle am häufigsten eingesetzt. Diese werden gegen Unternehmen bei bestimmten Produkten erhoben, wenn

  1. der Exportpreis eines Gutes unter dem „fairen Wert“ liegt (also im rechtlichen Sinn Dumping vorliegt),
  2. dieser Umstand in der EU wirtschaftlichen Schaden anrichtet und
  3. ein kausaler Effekt nachgewiesen werden kann.

In der Regel wird Dumping daran festgemacht, dass der Exportpreis eines Gutes unter dem heimischen Preis im Land des Herstellers liegt. Ökonomen halten wenig von Antidumpingzöllen, weil es sehr gute Gründe für einen Exporteur geben kann, im Inland einen anderen Preis zu setzen als im Ausland. So könnte es einfach sein, dass die Nachfrageelastizität im Inland niedriger ist als im Ausland, und so ein Monopolist im Ausland einen niedrigeren Preis verlangt. Dazu kommt, dass niedrige Importpreise für die EU immer auch vorteilhaft sind.

Daher lautet das Urteil der Forschung sehr oft, dass Antidumpingzölle eine Art von Protektionismus darstellen und keineswegs das angebliche Ziel eines „fairen“ Handels verwirklichen.15 So hat Michael Finger schon 1992 geurteilt: „Antidumping is the fox put in charge of the henhouse – ordinary protectionism with a good public relations program.“16 So korrelieren Antidumpingverfahren positiv mit positiven Importschocks und schlechter heimischer Sektor-Performance. Bown und McCulloch finden keine Anzeichen, dass die Verwendung von Handelsschutzinstrumenten (darunter Antidumpingzölle) die Anpassung an Handelsschocks erleichtert.17 Die Literatur findet typischerweise erhebliche volkswirtschaftliche Kosten von Antidumpingzöllen,18 die auch darauf zurückzuführen sind, dass die entstehende Unsicherheit eine starke handelshemmende Wirkung entfaltet.

Ein wirkliches Problem liegt dann vor, wenn ein ausländischer Anbieter seine Wettbewerber in der EU strategisch unterbietet, um diese zum Marktaustritt zu zwingen, um dann in einer Monopolsituation die Preise zu erhöhen. Daher sollten Antidumpingzölle eigentlich an den Nachweis eines solchen Beuteverhaltens (predatory pricing) gebunden sein. Dies ist in der Praxis natürlich sehr schwierig. Wahrscheinlich würde es aus ordnungspolitischer Perspektive reichen, wenn die Union und ihre Mitgliedstaaten über glaubwürdige wettbewerbsrechtliche Instrumente verfügen, die gegen den Missbrauch einer Monopolstellung und einer Ausbeutung von Konsumenten eingesetzt werden können. Dann sollte ein Exporteur von vornherein wissen, dass ein auf Beute abzielendes strategisches Preissetzungsverhalten nicht erfolgreich sein wird.

In der Praxis werden Antidumpingzölle häufig mit dem Vorliegen von Produktionssubventionen im Ausland gerechtfertigt. Dies ist eine mögliche Argumentationslinie, wenn im Ausland keine marktwirtschaftlichen Bedingungen herrschen. Dies eröffnet die Möglichkeit, den „fairen Wert“ einer Ware nicht auf dem Heimatmarkt des Produzenten festzulegen, sondern Vergleichspreise aus einem „analogen“ Land zu verwenden. Gerade im Verhältnis zu China haben die EU und die USA von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht. Aber auch hier gilt: Subventionen im Ausland sind volkswirtschaftlich gesehen für das Inland eher ein Segen als eine Belastung. Wenn China subventionierten Stahl nach Europa liefert, so sollte das alle Verwender von Stahl freuen; im Prinzip subventioniert der chinesische Steuerzahler die europäischen Autofahrer oder Häuslebauer, die Stahl nachfragen. Ernst wird es dann, wenn die Subventionen das Ziel haben, eine Monopolstellung auf den internationalen Märkten zu erringen. Gerne wird unterstellt, dass China mit seiner Stahlpolitik eben dieses Ziel verfolge. Doch in der „Made in China 2025“ spielt gerade Stahl keine herausgehobene Rolle. Eher scheinen die Überkapazitäten im chinesischen Stahlsektor das Ergebnis einer dramatisch fehlgeleiteten Planung zu sein, die den chinesischen Staat jetzt teuer zu stehen kommt. Und selbst wenn China eine marktbeherrschende Stellung für seine Stahlproduzenten anstreben sollte, wären im Falle des Missbrauchs von Marktmacht die Wettbewerbshüter gefragt und nicht die Handelspolitiker.

In den letzten Monaten hat die EU ihre Richtlinien zur Berechnung von Antidumpingzöllen erneuert. Der WTO-rechtlich umstrittene Marktwirtschaftsstatus ist nicht mehr Ausgangspunkt der Bestimmung des „fairen Wertes“. Das ist eine willkommene Verbesserung, die allerdings der allzu oft missbräuchlichen Verwendung des Instruments keinen Riegel vorschiebt. In der Debatte wurde immer wieder angemahnt, dass die EU aggressiver gegen die Verletzung der „Spielregeln“ vorgehen muss. Dabei wurde angemerkt, dass die USA im Durchschnitt deutlich höhere Antidumpingzölle erheben als die EU (oft dreistellig). Das ist eine empirisch zutreffende Beobachtung; sie hat aber zur Folge, dass die volkswirtschaftlichen Schäden durch eine solche Politik in den USA auch höher sind. Dazu kommt, dass die Elastizität der Nachfrage für die mit Antidumpingzöllen belegten Produkte in der EU höher ist als in den USA, sodass auch niedrigere Zölle zu einer starken Zerstörung von Handelsströmen führen.19

Investitionsschutz

Ein zweites Thema hat die außenwirtschaftliche Diskussion 2017 maßgeblich geprägt: die Frage, ob und wie weit sich Deutschland gegen Übernahmen heimischer Unternehmen durch ausländische Firmen wappnen muss. Anlass war der dramatische Anstieg chinesischer Direktinvestitionen in Europa, die von einem Wert von praktisch Null um die Jahrtausendwende auf ca. 35 Mrd. Euro bis 40 Mrd. Euro pro Jahr 2016 bis 2017 angewachsen sind. Im Jahr 2014 hat die chinesische Investitionstätigkeit in Europa jene Europas in China überholt. Letztere stagniert bei ca. 10 Mrd. Euro pro Jahr. Zwar machen chinesische Investitionen in Europa nur 7 % des Gesamtvolumens aus (das 2016 bei 467 Mrd. Euro lag), aber die strategische Ausrichtung Chinas hat in Öffentlichkeit und Politik Bedenken ausgelöst. In der Tat konzentrierten sich die Investitionen chinesischer Unternehmen in den Bereichen Maschinenbau, Informations- und Kommunikationstechnologie und öffentliche Infrastruktur (Energie, Stromnetze, Versorgung, Häfen etc.). Die spektakuläre Übernahme des Augsburger Roboterherstellers Kuka 2016 in Höhe von fast 4,7 Mrd. Euro, von OSRAM Ledvance 2017 von 500 Mrd. Euro oder die geplante Investition des Staatskonzerns State Grid Corporation of China (SGCC), in das Übertragungsnetzwerk von 50 Hertz haben die deutsche Diskussion befeuert. Dazu kommt, dass viele Sektoren in China für ausländische Investoren entweder ganz geschlossen sind oder einen chinesischen Partner erfordern. Das gilt für Versicherungen, Telekommunikationsunternehmen, Börsenbetreiber und IT-Anbieter, aber auch für die Kfz-Branche. Darüber hinaus versucht der Staat durch verschiedene Kontroll- und Genehmigungsmechanismen, ausländische Geschäftstätigkeit und Investitionen in bestimmte Wirtschaftsbereiche und Regionen zu lenken bzw. sie dorthin zu beschränken.

Im Februar 2017 haben, in seltener Einigkeit, die Wirtschaftsminister Deutschlands, Frankreichs und Italiens einen Brief an die Europäische Kommission geschrieben, in dem sie ihren wachsenden Sorgen gegenüber den zunehmenden Investitionen Chinas in strategische Anlagen in Europa Ausdruck verleihen. Im September 2017 schlug die Kommission vor, ein europäisches Rahmenwerk zur Prüfung ausländischer Investitionen zu schaffen. Hierbei geht es vorrangig um strategische Anlagen, die für die Sicherheit und die öffentliche Ordnung in der EU kritisch sind. Dabei werden auch kritische Technologien wie künstliche Intelligenz, Halbleitertechnik, Informationstechnologie, Raumfahrt, Nukleartechnik und andere aufgezählt, in denen eine Investitionsprüfung vorgesehen ist. Eine staatliche Intervention sei gerechtfertigt, wenn 1. der Drittstaat keinen marktwirtschaftlichen Regeln folgt und/oder 2. die Investition durch staatliche Beihilfen erst möglich gemacht wird.

Auch die im Juli 2017 verabschiedete Änderung der Außenwirtschaftsverordnung sieht Verschärfungen, wie z. B. längere Prüffristen, vor. Ökonomische Kriterien sind allerdings weder in den geplanten Regeln der EU noch im deutschen Recht vorgesehen. In der Tat ist die EU, und hier insbesondere Deutschland, relativ leicht zugänglich für ausländische Investoren. Auf dem FDI-Regulatory-Restrictiveness-Index der OECD hat Deutschland einen Wert von 0,02. Kein anderes großes OECD-Land hat einen geringeren Wert. Die USA liegen im Mittelfeld mit einem Wert von 0,09, während China mit 0,41 am entgegengesetzten Ende des Spektrums liegt.20 Diese fehlende Reziprozität ist ein Thema bei den laufenden Verhandlungen zu einem neuen EU-China-Investitionsabkommen, die aber nur sehr schleppend verlaufen.

Welche Argumente gibt es für eine strengere Regulierung ausländischer Investitionen im Hightech-Sektor in Deutschland, die darauf hinauslaufen kann, privaten Investoren den Verkauf ihrer Anteile an bestimmte Investoren zu verbieten? In sehr forschungsintensiven Branchen stecken indirekt hohe öffentliche Investitionen, weil Forschung und Entwicklung speziell gefördert und sogar weitgehend öffentlich (an Universitäten oder Institutionen wie der Helmholtz-Gemeinschaft oder der Fraunhofer-Gesellschaft) entsteht. Mit dem Verkauf eines technologieintensiven Unternehmens, werden deutsche Vermögenstitel mitverkauft, die ökonomisch betrachtet gar nicht den Eigentümern des Unternehmens sondern den deutschen Steuerzahlern gehören. Daraus lässt sich ableiten, dass der Staat bei Unternehmensübernahmen „Parteistellung“ hat, und den Ausverkauf von Know-how verhindern darf.

Nun könnte man einwenden, dass diese zwar prinzipiell richtige Überlegung übersieht, dass Unternehmen aus Deutschland (und der EU) nicht nur Ziel von Übernahmen sind, sondern auch – und in einem stärkeren Umfang – selbst Unternehmen im Ausland übernehmen, und damit auch von F&E-Investitionen des Auslands profitieren. Wenn sich Länder abschotten und gegenseitig blockieren, kommt es zwar zu keinen externen Effekten bei öffentlichen F&E-Anstrengungen, aber die Vorteile offener Kapitalmärkte gehen verloren. Besser wäre es, wenn alle Länder offen sind, und jeweils gegenseitig von ihren jeweiligen F&E-Anstrengungen profitieren.

Somit wird zu einem zentralen Kriterium, ob Reziprozität vorliegt, und zwar sowohl in Bezug auf die rechtlichen Bestimmungen als auch auf die Investitionsvolumen. Wenn diese nicht gegeben ist, dann sollte der Staat – nach entsprechender Abwägung – Auflagen erteilen oder Übernahmen durch ausländische Investoren verbieten. Dabei ist nicht wesentlich, ob nun die ausländischen Unternehmen subventioniert werden oder ob marktwirtschaftliche Zustände im Ausland herrschen. Solange China keinen gleichwertigen Zugang auf seinen Markt gewährt, sollte sich Europa eine genaue Prüfung chinesischer Investitionen vorbehalten und diese im Zweifelsfall auch verbieten.

Die Verschärfung der Rechtsgrundlagen in Deutschland und Europa könnte für die erfolgreiche Verhandlung eines Investitionsabkommens, das ein Ende der Investitionsbeschränkungen in China erreicht, förderlich sein. Ohne Druckmittel wird China nicht bereit sein, Zugeständnisse zu machen. Auch die Europäisierung der Investitionsprüfung ist sinnvoll. Seit dem Lissabon-Vertrag ist die EU für ausländische Direktinvestitionen zuständig. Daher verhandelt sie auch im Auftrag des Rates das Investitionsabkommen mit China. Mit dem Instrument einer koordinierten Investitionsprüfung kann sie diesem Auftrag besser Genüge tun.

Trump und der neue US-amerikanische Protektionismus

Ein letztes wichtiges Thema der außenwirtschaftlichen Debatte ist die Frage, ob man einen neuen US-amerikanischen Protektionismus hinnehmen oder auf ihn durch geeignete Gegenmaßnahmen reagieren sollte. Aus theoretischer Sicht sind zwei Dinge wichtig: 1. wie ein kooperatives Gleichgewicht aufrechterhalten werden kann und 2. ob Zollinstrumente eingesetzt oder nicht-tarifäre Handelsbarrieren aufgebaut werden.

Abbildung 6
Realeinkommenseffekte eines Handelskriegs mit den USA
Änderung des Realeinkommens in %
Realeinkommenseffekte eines Handelskriegs mit den USA

Änderung des Realeinkommens in %

Quelle: G. Felbermayr, M. Steininger: Effekte der US-Präsidentschaft Trump – Neuer Protektionismus, in: FIW Policy Briefs, 37. Jg. (2017), H. 11.

Es ist klar, dass ein Abweichen der USA von den im WTO-Abkommen festgelegten Maximalzöllen nach Oben für Europa und Deutschland mit negativen Effekten verbunden wäre. Abbildung 6 zeigt, dass ein uniformer Zoll von 20 % auf alle Güterimporte der USA mit Vorteilen im Ausmaß von 0,26 % des Realeinkommens verbunden wäre. Das mag den einen oder anderen überraschen – es entspricht aber dem gängigen Befund aus der Optimalzolltheorie.21 Durch den Zollsatz sinkt der Absatz ausländischer Anbieter in den USA. In allen gängigen Modellen führt dies dazu, dass ausländische Anbieter aber einen Teil des Zolls auf sich nehmen, sodass die US-amerikanischen Konsumenten nur einen Teil des Zolls selbst tragen müssen. Der Fiskus macht allerdings Kasse und erhebt den vollen Zollsatz auf die Importe. Das führt dazu, dass in den USA die Konsumentenpreise steigen, die Importe verknappt werden, aber die Zolleinnahmen zunehmen. Dies funktioniert solange, bis der Optimalzoll erreicht ist. Dieser liegt relativ hoch, wie neuere Forschung zeigt. Im Ausland kommt es zu spiegelbildlichen Einbußen; ein US- Zoll von 20 % würde das durchschnittliche Realeinkommen Deutschlands um fast 0,30 % sinken lassen. Andere Länder leiden weniger stark, weil sie in geringerem Ausmaß mit den USA Handel treiben.

Erhebt nun auch die EU einen Importzoll von 20 % auf Importe aus den USA, dann verändern die Effekte dort ihr Vorzeichen und drehen ins Negative; sie bleiben negativ in Europa, aber die Größenordnung schrumpft. In Deutschland würde der Verlust auf 0,14 % fallen; in den USA aber auf 0,30 % steigen. In diesem Spiel hätten alle Teilnehmer Verluste zu verzeichnen. Allerdings ist es für Deutschland besser, zu reagieren, als die Zölle der USA einfach hinzunehmen. Im Idealfall kommt es nicht zu einer breiten Anwendung von Zöllen der USA. Die Drohung mit Strafzöllen ist hierfür wichtig. Wenn die US-Administration davon ausgehen kann, dass Europa nicht reagiert, dann sind Zölle für sie vorteilhaft, sonst nicht.

Bisher haben die USA vor allem Antidumpingzölle eingesetzt, z. B. gegen deutschen Stahl oder spanische Oliven. Diese erfordern wenigstens die Unterstellung unfairen Verhaltens und sind durch WTO-Recht reglementiert. Die neuen Bestrebungen nach dem Trade Promotion Act von 1962 Zölle auf Stahl und Aluminium gegen alle Handelspartner einzusetzen, ist aber ganz anderen Natur: Die Zölle richten sich nicht gegen einzelne Unternehmen der Handelspartner, sondern sie sind erga omnes, gelten also gegen alle. Und sie erfordern das Vorliegen eines sicherheitspolitischen Risikos für die USA, was wohl kaum argumentiert werden kann. Sollte es wirklich zu einer weiteren Eskalation seitens Washingtons kommen, sollte sich Europa mit allen Mitteln zur Wehr setzen. Dazu gehört jedenfalls die konsequente Ausnutzung aller Mittel, die die WTO zur Verfügung stellt. Möglicherweise muss Europa auch mit Vergeltungszöllen antworten, weil die USA mehrfach angekündigt haben, Verurteilungen der WTO ohnehin nicht respektieren zu wollen.

Nicht-tarifäre Handelshemmnisse führen anders als Zölle nicht zu Zolleinnahmen. Sie sind daher ein besonders stumpfes Instrument der Protektion. Abbildung 6 zeigt, dass sich die USA mit zusätzlichen nicht-tarifären Barrieren von (zolläquivalenten) 20 % auf jeden Fall schlechter stellen: Selbst ohne Gegenwehr der Handelspartner käme es zu einem Verlust von ca. 1,4 %. Greifen die Handelspartner zu ähnlichen Mitteln, erhöht sich der Verlust auf 2,3 % des realen Pro-Kopf-Einkommens. Europa kann sich insgesamt aber durch Einführung von nicht-tarifären Barrieren nicht besserstellen. Es gilt das berühmte Diktum von Joan Robinson: „Wenn Dein Handelspartner Felsen in seinem Hafen versenkt, um das Anlegen von Frachtschiffen zu behindern, kannst Du Dich nicht besserstellen, wenn Du Felsen in Deinen eigenen Hafen wirfst“22.

Schluss

Die Globalisierung ist in den letzten Jahren unter erheblichen Druck geraten. Doch einfache Rezepte sind oft genug inadäquat. Sie lenken von dem eigentlichen Problem ab, das mit jeglichem Prozess der kreativen Zerstörung verbunden ist: den Verteilungseffekten im Inland. Statt mit Antidumpingzöllen, Handelskriegsrhetorik oder der Behinderung ausländischer Investoren zu reagieren, sollten sozialpolitische Instrumente entwickelt werden, die die Verlierer der Globalisierung kompensieren können. Ein stärker progressives Steuer- und Transfersystem wäre der wichtigste Schritt in diese Richtung. Damit könnten einerseits die erheblichen Vorteile der Globalisierung gesichert werden, gleichzeitig aber das Prinzip „Wohlstand für Alle“ wiederbelebt werden. Dazu braucht es eine neue Verständigung zwischen den widerstreitenden Kräften in unseren Demokratien: einen neuen contrat social.

  • 1 Vgl. z. B. die Arbeiten von D. Dorn, D. Autor, G. Hanson: The China Syndrome: Local Labor Market Effects of Import Competition in the United States, in: American Economic Review, 103 (6), S. 2121-2168 für die USA; und W. Dauth, S. Findeisen, J. Südekum: The rise of the east and the far east: German labor markets and trade integration, in: Journal of the European Economic Association 12 (6), S. 1643-1675 für Deutschland. Die genannten Arbeiten betrachten Arbeitsmarkt­effekte, lassen die Preiseffekte der Handelsliberalisierung aber vollständig außer Acht.
  • 2 Vgl. IMF, World Bank, WTO: Making Trade an Engine of Growth for All – The Case for Trade and for Policies to Facilitate Adjustment, Genf 2017.
  • 3 P. Lamy: The New World of Trade – The Third Jan Tumlir Lecture, Jan Tumlir Policy Essay, Nr. 1, 2015.
  • 4 Modelle, die nur zwischen Typen von Arbeit (hoch- versus niedrig-qualifizierte Arbeitnehmer) und Kapital unterscheiden, sind empirisch wenig erfolgreich. Neuere Arbeiten bieten einen quantitativen Ansatz, der auf Ungleichheit innerhalb eng definierter Gruppen von Arbeitnehmern abstellt, und wenden diesen auf Deutschland an. Vgl. etwa G. Felbermayr, G. Impullitti, J. Prat: Firm Dynamics and Residual Inequality in Open Economies, in: Journal of the European Economic Association, im Erscheinen.
  • 5 Zur Methodik siehe den Überblicksartikel von A. Costinot, A. Rodriguez-Clare: Trade Theory with Numbers: Quantifying the Consequences of Globalization, in: G. Gopinath, E. Helpman, K. Rogoff (Hrsg.): Handbook of International Economics, Bd. 5, 2014, S. 197-261.
  • 6 M. Melitz: The Impact of Trade on Intra-Industry Reallocations and Aggregate Industry Productivity, in: Econometrica, 71. Jg. (2003), H. 6, S. 1695-1725.
  • 7 Vgl. G. Felbermayr, J. Gröschl, B. Jung: Wohlfahrtseffekte der Handelsliberalisierung, Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Arbeitspapier, Nr. 3/2017, Wiesbaden 2017.
  • 8 Vgl. R. Aichele, G. Felbermayr, I. Heiland: Going Deep: The Trade and Welfare Effects of TTIP Revised, ifo Working Paper, Nr. 219, 2016.
  • 9 Vgl. G. Felbermayr, J. Gröschl: Free Trade from Lisbon to Vladivostok: Who Gains, Who Loses from a Eurasian Trade Agreement, in: CESifo Economic Forum, 18. Jg. (2017), H. 2, S. 52-62.
  • 10 Vgl. R. Aichele, G. Felbermayr, J. Gröschl, D. Mitra: Europe and India: Relaunching a Troubled Trade Relationship, ifo Forschungsberichte, Nr. 80, 2017.
  • 11 Für eine ausführliche Analyse des EU-Japan-Abkommens vgl. G. Felbermayr, F. Kimura, T. Okubo, M. Steininger, E. Yalcin: On the Economics of an EU-Japan Free Trade Agreement (GED Study), Bertelsmann Stiftung, Gütersloh 2017.
  • 12 Vgl. Wissenschaftlicher Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium: Die essenzielle Rolle des CO2-Preises für eine effektive Klimapolitik, Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, 2016.
  • 13 Vgl. J. Südekum: Die Globalisierungsverlierer kompensieren – aber wie?, in: Wirtschaftsdienst, 97. Jg. (2017), H. 8, S. 566-570.
  • 14 Zur Diskussion des europäischen Protektionismus vgl. G. Felbermayr: Ein Schaf unter Wölfen? Die Europäische Union und der Freihandel, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 68. Jg. (2017), H. 4-5, S. 18-23.
  • 15 Vgl. B. Blonigen, T. Prusa: Dumping and Antidumping Duties, in: K. W. Bagwell, R. W. Staiger (Hrsg.): Handbook of Commercial Policy, Bd. 1B, North Holland 2016, S. 107-159.
  • 16 M. Finger: Dumping and Antidumping: The Rhetoric and the Reality of Protection in Industrial Countries, The World Bank, in: Research Observer, 7. Jg. (1992), H. 2, S. 121-143.
  • 17 C. P. Bown, R. McCulloch: Trade Adjustment in the WTO System: Are More Safeguards the Answer?, in: Oxford Review of Economic Policy 23. Jg. (2007), Nr. 3, S. 415-439.
  • 18 M. P. Gallaway, B. A. Blonigen, J. E. Flynn: Welfare Costs of U.S. Antidumping and Countervailing Duty Laws, in: Journal of International Economics, 49. Jg. (1999), H. 2, S. 211-244.
  • 19 E. Yalcin, G. Felbermayr, A. Sandkamp: New trade rules for China? Opportunities and threats for the EU, European Parliament‘s Committee on International Trade, Brüssel 2016.
  • 20 Die USA verfügen mit der Commission of Foreign Investment in the United States (CFIUS) über ein zentrales Instrument zur Steuerung ausländischer Direktinvestitionen, das über die Möglichkeiten der Außenwirtschaftsverordnung Deutschlands deutlich hinausgeht.
  • 21 Vgl. dazu ein beliebiges Lehrbuch der Außenwirtschaftslehre, z. B. R. Feenstra: Advanced International Trade, New Jersey 2016.
  • 22 Zitiert nach L. White: The Clash of Economic Ideas, Cambridge (UK), Cambridge University Press, 2012, S. 360.

Title:EU Trade and Investment Policy: Free Trade Agreements, Trade Defense Instruments, and Foreign Direct Investment

Abstract:There are many controversial and contentious aspects of the EU’s trade and investment policy. To evaluate existing and forthcoming free trade agreements, the paper describes their potential economic effects. It analyses the effects of EU trade policy and of the new protectionism of the US.

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DOI: 10.1007/s10273-018-2274-y