Ein Service der

Artikel als PDF herunterladen

Nord Stream 2 ist eine Ferngasleitung, die die bestehende Kapazität durch die Ostsee verdoppelt und um 55 Mrd. m3/Jahr erhöht. Ihr Bau ist von Gazprom seit langem konzipiert. Dafür sprechen drei wirtschaftliche Tatsachen:

  1. Das ursprüngliche Einheitssystem zur Lieferung nach Europa aus UdSSR-Zeiten ist technisch veraltet, deshalb energieineffizient und wenig zuverlässig; diese Einschätzung gilt sowohl für das Ukrainische Gas-Transmissionssystem (UGTS) als auch für das zuleitende System auf russischem Territorium.
  2. Die ursprünglich angeschlossenen russischen Erdgasfelder gingen langsam zur Neige und weiter nordwestlich gelegene Felder ersetzen sie; die Quellregionen „wanderten“ jüngst in die Barentsee – von dort aus ist die Strecke nach Westeuropa via UGTS um ein Drittel länger als via Nord Stream.
  3. Der Betreiber des UGTS ist so lange in einer Monopolsituation hinsichtlich seiner Leistung Durchleitung und damit auch zur Rentenabschöpfung in der Lage, wie der Durchleitende auf diese Leistung angewiesen ist und keine Alternativen vorhanden sind. Ein effizienter Preis für die Durchleitung, orientiert an den notwendigen Kosten, wird sich eher einstellen, wenn auf die Nutzung des UGTS verzichtet werden kann.

Durch die Zerrüttung des russisch-ukrainischen Verhältnisses nach den Ereignissen 2014 ist hinsichtlich der langfristigen Planung eine gewisse Dringlichkeit erforderlich. Die bestehenden Verträge zur Nutzung des UGTS zwischen dem russischen Gazprom und dem ukrainischen Naftogaz laufen Ende 2019 aus. In Europa aber auch in Deutschland wird über die Opportunität von Nord Stream 2 politisch gestritten, zunächst über die Genehmigung des Baus, inzwischen geht es nur noch um eine allfällige Regulierung des Betriebs. Argumentiert wird durchgängig mit der Sorge um die „Sicherheit der Gasversorgung“ – ein in der Tat zentrales Anliegen. Gestritten wird jedoch, als ob der eben geschilderte Hintergrund unbekannt sei. Gekommen ist es schließlich zu einem Gutachten des Juristischen Dienstes des Europäischen Rates: „in the presence of a risk that disputes occurring outside the Union between the countries of origin of the flows and the countries on which territories they transit might affect the uninterrupted transfer of energy sources in pipelines from the territory of the country of origin to the Union territory, it is prima facie evident that the opening of alternative routes with augmented capacity would increase the ability of the Union to be unaffected by such disputes ...“1

Mit den „disputes outside“ ist offenkundig die Konstellation zwischen Gazprom und Naftogaz gemeint mit der Folge, dass am 1. Januar 2020 die vertraglichen Vereinbarungen zwischen Russland und der Ukraine zur Nutzung des UGTS für die Gasversorgung der EU ausgelaufen sein werden. Die Sicherheit der Gasversorgung Europas ist davon abhängig, dass dann eine Anschlussvereinbarung mit Mengen, Preisen und Laufzeit, gelungen ist. Es ist unwahrscheinlich, dass dies von alleine gelingt.

Im Gutachten des Juristischen Dienstes wird zur Wirkung einer weiteren Pipeline ausgeführt, dass mehr Stränge eines Netzes mehr Versorgungssicherheit bedeuten. Gerichtet ist diese Formulierung gegen das „Argument“, mit dem zusätzlichen Strang Nord Stream 2 werde die Sicherheit der Gasversorgung der EU vermindert, wenn nicht bedroht. Erstaunt fragt man sich: Um was wird da wirklich gestritten? Die Fokussierung auf den Streit um Nord Stream 2 lässt den dringlichen Grund zur Sorge um die Sicherheit der Gasversorgung Europas (und der Türkei) Ende 2019 in den Hintergrund treten. Das gefährdet die EU.

Abbildung 1
Erdgasleitungen nach Europa
Erdgasleitungen nach Europa

Anmerkung: Die Karte ist auf dem Stand vom 31.12.2015.  1 Gasfördergebiet: 1. Arctic Shelf, 2. Yamal Peninsula, 3. Nadym-Pur-Taz region („Urengoy“),
4. Yamburg.  2 Zu erschließende Gasfelder: 1. Shtokman, 2. Kharasaveyskoye, 3. Kruzenshternskoye, 4. Bovanenkovskoye, 5. Severo-Kamennomysskoye, 6. Kamennomysskoye Sea.  3 Haupt-Gas-Export-Leitungen: 1. Nord Stream Gas-Pipeline, 2. Yamal – Europa Gas-Pipeline, 3. Urengoy – Uzhgorod Gas-Pipeline, 4. Blue Stream Gas-Pipeline.  4 Gas-Fernleitungen, im Status der Planung bzw. Errichtung: 7. Nord Stream 2 Gas-Pipeline, 8. TurkStream Gas-Pipeline, 9. Ukhta – Torzhok 2 Gas-Pipeline, 10. Bovanenkovo – Ukhta Gas-Pipeline (second string), 11. Power of Siberia 2 Gas-Pipeline.  5 Gas-Verflüssigungsanlagen, im Status der Planung bzw. Errichtung: 1. LNG-Anlage in der Region Leningrad (Baltic LNG), 2. Ausbau und Wiederherstellung Urengoy-condensate-treatment-Anlage, 3. Novy Urengoy gas chemical complex, 4. Rekonstruktion und Umrüstung der Surgut-condensate-stabilization-Anlage;  6 Andere Projekte: Konstruktion nicht fertiggestellter Sektionen der Urengoy-Surgut-condensate-Pipeline.

Quelle: Kartenausschnitt: © 8. Juli 2016, PJSC Gazprom; eigene Nachbearbeitung.

Nord Stream 2 ist augenscheinlich ein Element der seit Jahrzehnten verfolgten Strategie Russlands, das Gas-Ferntransportsystem zu diversifizieren und energie-ökonomisch zu optimieren. In diesem Zusammenhang steht natürlich auch an, das aus UdSSR-Zeiten übernommene Transportmonopol des UGTS zu brechen. Nord Stream 2 ist aber kein (völliger) Ersatz für die Nutzung des UGTS. Das gilt weder absolut noch ist es gar in kurzer Frist möglich. Selbst wenn das zweite Röhrenbündel der Ostsee-Pipeline alsbald und zügig fertiggestellt werden sollte – was wegen des dänischen Einspruchs wohl nicht zu erwarten ist –, ist die Einigung zwischen Russland und der Ukraine zum 1. Januar 2020 essenziell. Dies legt ein resümierender Artikel nahe, den der führende Experte, Roland Götz, beigesteuert hat:2 2016 wurde das UGTS für 82 Mrd. m3 in Anspruch genommen. Selbst wenn Nord Stream 2 und Turkish Stream bis zum kritischen Termin mit voller Kapazität (87 Mrd. m3 pro Jahr) zur Verfügung stünden, würde es insgesamt aus zwei Gründen nicht reichen:

  1. Langfristig: Gazprom hat die sich erschöpfenden Gasfelder im britischen Teil der Nordsee sowie die Rückführung der Förderung aus dem Groningen-Feld in den Niederlanden im Blick. Dafür ist ein Ausgleich nötig. Gazprom rechnet mit einem Anstieg der Nachfrage in Europa aus Drittquellen in Höhe von 30 Mrd. m3 pro Jahr – die Option, dort mit russischem Pipeline-Gas einzutreten, will das Unternehmen sich offenhalten.
  2. Kurzfristig: Es ist realitätsfern anzunehmen, dass eine Pipeline am Tag nach der Übergabe mit voller Nominalkapazität betrieben werden kann. Die volle Leistung wird erst nach einem mehrjährigen Inbetriebnahme-Prozess erreicht.

Bei einem Ausfall des UGTS ab Januar 2020 ist ein Kapazitätsmangel absehbar, der nach der Lage der Empfängerländer deutlich differenziert. Im Süden gilt:3 Die erste Leitung (16 Mrd. m3 pro Jahr) von Turkish Stream kann vor 2020 fertiggestellt werden. Sollte die UGTS-Nutzung ausfallen, könnte Russland seine Lieferverpflichtungen an die Türkei erfüllen (also die Mengen durchbringen, die derzeit via Ukraine und Trans Balkan Route im Westen der Türkei anlanden). Hier bleibt lediglich offen, ob Bulgarien zu diesem Zeitpunkt via Türkei mit russischem Gas beliefert werden kann, ob also die Anbindung von Turkish Stream nach Bulgarien rechtzeitig erfolgt. Im Norden hingegen ist zu befürchten, dass das Nordseegas wegbricht und Nord Stream 2 nicht rechtzeitg fertig wird. Ohne Nutzungsrecht am UGTS kann Russland/Gazprom vermutlich mindestens die in den Langfristverträgen zugesagten Gasmengen an den darin zugesagten Lieferpunkten mitten in der EU nicht mehr (vollständig) liefern. Das gilt, wenn man die nicht-kontrahierten 30 Mrd. m3 pro Jahr zum Ausgleich für die Produktionsrückgänge in Großbritannien und den Niederlanden weglässt.

Das Verhältnis zwischen den Verhandlungspartnern um die Nutzungsrechte am UGTS, zwischen Russland und der Ukraine, ist extrem zerrüttet. Hinzu kommt: Jahrzehntelang gab es einen beidseitig motivierten Einigungszwang – doch selbst unter dem ist es (2006 und 2009) zur Unterbrechung der Ferntransporte nach Europa gekommen, weil man sich auf einen neuen Vertrag ohne zugespitzte Krise nicht einigen konnte. Neu ist, dass die Ukraine nicht länger von russischen Gaslieferungen abhängig ist, dieses zumindest zu meinen scheint. Resultat dieser erstmaligen Situation ist, dass sich der Zwang zur Einigung zwischen beiden Partnern asymmetrisch verteilt.4 Nach dem Selbstverständnis der Ukraine ist er entfallen. Dabei übersieht sie aber, dass sie weiterhin von Gas aus Russland abhängig ist, auch wenn es nicht mehr direkt aus dem Osten kommt, sondern umgeleitet von Westen – einen partiellen Ausgleich vermögen LNG-Lieferungen via Swinemünde zu schaffen.

Russland hingegen muss sein Gas liefern können – kurzfristig, um vertragstreu zu sein, und auf mittlere Frist, um an seine Erträge zu kommen. Die Ukraine dagegen kann kurzfristig recht hoch pokern, sie kann sich sogar temporär eine destruktive Haltung leisten, was für sie auch ökonomisch rational sein kann. Ihr Kalkül ist möglicherweise, am Ende zu einem Vertragsabschluss zu kommen, der ihr eine äußerst lange Nutzung des UGTS sichert, und das zu Durchleitungsentgelten, die tendenziell Mondpreischarakter haben können – weit oberhalb der Kosten einer kosteneffizienten Alternative, eben von Nord Stream 2.

Die EU-Kommission unterstützt die ukrainische Seite bislang. Das offenbart das Mandat, das die EU-Kommission vom Europäischen Rat erbeten hatte, mit Russland über die Regulierung des Betriebs – nicht des Baus – von Nord Stream 2 verhandeln zu dürfen. Im erbetenen Mandat geht es um zwei Ziele der Verhandlungen, eines ist hier im Wortlaut hervorgehoben: „the agreement should ensure that potential impacts on the current gas transit routes, notably through Ukraine, ... are mitigated.“5

Die dem wirtschaftlichen Effizienzgedanken verpflichtete EU will dem Unternehmen Gazprom somit die Mengen vorschreiben, die durch das UGTS zu speisen sind, unabhängig von wirtschaftlichen Gesichtspunkten und von den Gebühren, die die Ukraine dafür verlangt. Das klingt so, als ob die EU-Kommission mit dem expliziten Mandat antreten dürfen will, die bisherigen ukrainischen Monopolrenten aus dem UGTS auf Dauer zu sichern. Aus welchem Motiv? Es liegt nahe zu vermuten, dass es darum gehe, die vom Westen zu leistende Unterstützung, Makrofinanzhilfe genannt, in ihrer Höhe zu mindern. Wenn das korrekt vermutet wäre, dann ginge es um ein Pokern darum, Russland gegen seinen Willen mit hohen Beträgen in die Unterstützung der Ukraine einzubinden. Kein sonderlich legitimes Spiel wäre das. Man versteht dann, weshalb die EU-Kommission ihren Text nicht selbst öffentlich gemacht hat.

Soweit zur aktiven, antreibenden Rolle der EU in diesem Konflikt. Die EU ist aber auch Opfer. Ihr Interesse besteht darin, die Ukraine zu veranlassen, zu ökonomisch vernünftigen Konditionen eine Weiternutzung des UGTS über 2019 hinaus zu ermöglichen. Hilfreich wäre, wenn das UGTS mit dem zuleitenden System in Russland als Einheit gesehen würde. Öffentlich wahrzunehmen ist, dass es beidseits gealtert ist, und dass die Wanderung der Quellen es ihrer Lage wegen in Teilen obsolet macht. Jede tragfähige Vereinbarung zwischen Russland und der Ukraine erfordert ein realistisches Bild von den Funktionen, die das gemeinsame System und damit das UGTS in Zukunft noch erfüllen kann. Es kann, selbst wenn zunehmend weniger mit langfristigen Verträgen gesichert durchgeleitet (Transmission) wird, immer noch ein valides Element des gesamten Gas-Transport- und -Speicher-Systems in Europa sein – schließlich gibt es im Stromsystem auch (alte) Reservekraftwerke.

Ist das russisch-ukrainische Neuabkommen durchverhandelt, dann werden die (Rest-)Funktionen des UGTS für die nächsten 15 bis 20 Jahre definiert sein, dann wird auch feststehen, welche Ersatzinvestitionen noch bedarfsgerecht sind – die werden, wie die Dinge finanziell stehen, wohl nur mit Garantien, wenn nicht sogar Mitteln der EU in Angriff genommen werden können. Das UGTS als eine Infrastrukturinvestition mit unendlicher Funktion und Lebensdauer anzusehen, wäre hingegen irreal, schon angesichts der Klimaziele der EU. Um all das zu erreichen und seinen ureigenen Interesse gerecht zu werden, hat Europa anzufangen, sich des asymmetrischen Konflikts mit seinen Verführungen mediatorisch anzunehmen. Lediglich um die Genehmigung des Baus von Nord Stream 2 zu streiten, übersieht den Elefanten, der im Raume steht und der auf der EU herumtrampeln könnte.

Beitrag als PDF


DOI: 10.1007/s10273-018-2266-y