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In Deutschland wurde erstmals der antizyklische Eigenkapitalpuffer für Banken aktiviert. Die Eigenkapitalanforderungen wurden um den kleinstmöglichen Schritt erhöht. Außerdem erfolgt die Umsetzung im Vergleich zu anderen europäischen Ländern relativ spät. Dieses Muster der kleinen und späten Umsetzung kann eine Folge des institutionellen Rahmens mit drei zuständigen Institutionen sein. Die übrigen europäischen Länder handeln schneller und entschlossener, wenn die Entscheidung von einer einzigen Institution getroffen wird.

In Deutschland wurde im Mai 2019 ein neuer Schritt der makroprudenziellen Regulierung des Finanzsektors vollzogen. Erstmals empfahl der Ausschuss für Finanzstabilität (AFS) der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin), einen antizyklischen Kapitalpuffer zu erheben, was die BaFin zum 1.7.2019 auch umgesetzt hat.1 Dieser Kapitalpuffer betrifft Kreditinstitute in Deutschland und bedeutet, dass diese Kapital vorhalten müssen, zusätzlich zu den sonstigen Kapitalanforderungen, die mit der Größe ihrer Geschäftsrisiken zunehmen. Dieser Puffer betrifft alle Institute gleichermaßen, dient also der Stabilisierung des Sektors, und wirkt antizyklisch bezogen auf die negativen externen Effekte eines Finanzzyklus, also auch der damit verbundenen Kreditvergabe. Der antizyklische Kapitalpuffer ist demnach kein Substitut für Geldpolitik.

Das Instrument ist 2019 sehr vorsichtig eingesetzt worden, denn die Kapitalanforderungen wurden nur um den Mindestschritt von 0,25 Prozentpunkten (bezogen auf die Summe risikogewichteter Inlandsaktiva) erhöht, und das bei einer durchschnittlichen Ausstattung mit hartem Kernkapital von weit über 10 %.2 Da die allermeisten Kreditinstitute mit ihrem Kapital deutlich über den Mindestanforderungen liegen, ist davon auszugehen, dass sie gar nicht oder nur marginal reagieren müssen. Ferner haben die Institute ein Jahr Zeit bis zur vollständigen Umsetzung. Insofern ist die Erhöhung sehr vorsichtig dosiert, sorgte aber dennoch für Kritik.3

Entstehung makroprudenzieller Regulierung

Als Reaktion auf die große Finanzkrise von 2008/2009 gab es im monetären Bereich, neben der geldpolitischen Lockerung, im Wesentlichen zwei regulatorische Neuerungen. Zum einen wurde die Regulierung von Finanzinstitutionen, gut sichtbar an den erhöhten Kapitalanforderungen für Banken, tendenziell verschärft.4 Zum anderen wurde die „traditionelle“ mikroprudenzielle Regulierung um das neue Instrumentarium der makroprudenziellen Regulierung (MPR) ergänzt.5 Während die Kapitalanforderungen recht zügig fast weltweit erhöht wurden, wird die MPR langsamer implementiert. In der EU wurde sie 2013 auf Basis der EU-Verordnung Nr. 575/2013 in nationales Recht umgesetzt.6 Erste Maßnahmen der MPR betrafen die Auflage erhöhter Kapitalpuffer für globale als auch anderweitige (vor allem nationale) systemrelevante Institute.7

Der jetzt auch in Deutschland eingeführte antizyklische Kapitalpuffer (Countercyclical Capital Buffer) ist seitdem in 14 von 30 Ländern wenigstens einmal eingesetzt worden, vor allem in Nord- und Osteuropa, nicht aber in Südeuropa. Insbesondere haben Tschechien, Dänemark, Frankreich und Luxemburg den Kapitalpuffer schon angewandt und auch der Internationale Währungsfonds (IWF) fordert dessen Einsatz.8 Warum also agiert Deutschland so vorsichtig? Laut Deutscher Bundesbank gilt doch, dass „die Wirkung des Instruments grundsätzlich umso größer [ist], je bindender (in guten Zeiten) die Eigenkapitalrestriktion für die Banken ist“9.

Um diese Frage zu beantworten ist es sinnvoll, sich das Konzept der MPR in Erinnerung zu rufen.10 Über Jahrzehnte gab es im Finanzbereich den wirtschaftspolitischen Zweiklang aus Geldpolitik und Bankenregulierung (im Sinne der mikroprudenziellen Regulierung der meisten Finanzinstitutionen). Geldpolitik ist demnach zuständig für Geldwertstabilität und Bankenregulierung für die Stabilität der einzelnen Kreditinstitute. Dieses Design wurde zwar schon in den 1990er Jahren infrage gestellt, ausgehend von der Beobachtung, dass die Zentralbank als „lender of last resort“ im Extremfall große Kreditinstitute retten würde, und insofern ein zweites Ziel neben der Geldwertstabilität, die Finanzstabilität, verfolgt. Aber Vorschläge, entweder ein weiteres gleichrangiges Ziel zu berücksichtigen oder über ein zusätzliches Instrument nachzudenken, sind weitgehend akademisch geblieben und nie umgesetzt worden.11 Dies hat sich erst mit der Finanzkrise 2008/2009 geändert.

Finanzkrise führt zum Umdenken

Die Krise der Subprime-Kredite, vor allem im Immobilienbereich, hat gezeigt, wie sich über die Zeit hinweg Risiken aufbauen können, die schwer zu erkennen sind, weil bei steigenden Immobilienpreisen und damit höherem Wert der Sicherheiten einzelwirtschaftlich betrachtet diese Kreditrisiken mit der Zeit abnehmen (wie es auch die damals vorherrschenden Risikomodelle angezeigt haben). Daneben hat spätestens die überraschende Zahlungsunfähigkeit der Lehman-Bank mit ihren negativen Folgen für andere Marktteilnehmer offenbart, dass deren Stabilität zwar für sich betrachtet gut gewesen sein mag, aber andere nicht ausreichend vor Ansteckung durch große Insolvenzen schützte.

Der Aufbau selbst verstärkender Risiken durch zu stark steigende Vermögenspreise sowie die Ansteckung eigentlich stabiler Banken durch die Schieflage anderer, sind als negative externe Effekte ansonsten funktionierender Finanzmärkte zu verstehen. Diese Störungen im Finanzsektor beeinträchtigen die Funktionsfähigkeit der Realwirtschaft. Wegen dieser aus gesamtwirtschaftlicher Sicht nicht angemessen berücksichtigten Risiken kann ein staatliches Eingreifen das Marktergebnis grundsätzlich verbessern. Dies rechtfertigt die MPR, die solchen Risiken rechtzeitig entgegenwirken möchte.12

Drei Ziele, drei Instrumente – drei Träger?

Damit wird neben der Geldwertstabilität und der Bankenstabilität als drittes Ziel die Finanzstabilität akzeptiert. Der klassischen wirtschaftspolitischen Vorstellung folgend ist jedem Ziel auch ein Instrument zuzuordnen, demnach die Geldpolitik, die Bankenregulierung und die MPR. Wenn man diesen Gedanken verfolgt, sollte es idealtypisch auch drei Träger geben, die diese Ziele verantworten, neben der Zentralbank, also der EZB bzw. der Deutschen Bundesbank, und der Regulierungsbehörde, hier die BaFin, noch eine dritte Einrichtung. Eine solche dritte Institution ist allerdings in Deutschland, wie in den meisten anderen EU-Ländern, nicht geschaffen worden. Vielmehr dominieren in Europa zwei Modelle: Entweder ist eine einzelne Institution für die MPR zuständig, in der Regel die nationale Zentralbank, oder es sollen mehrere Institutionen zusammenarbeiten. Dabei sind beide Modelle quer über Europa verteilt. Dem ersten folgen etwa Großbritannien, Frankreich, Belgien, Schweden und Tschechien; dem zweiten dagegen unter anderem Deutschland, Italien, die Niederlande, Dänemark und Polen.13

In Deutschland ist der Ausschuss für Finanzstabilität eingerichtet worden, in dem BaFin, Deutsche Bundesbank und Bundesfinanzministerium (BMF) paritätisch vertreten sind. Er ist beim BMF angesiedelt und wird von dessen Vertretern geleitet.14 Er tagt vierteljährlich und beschließt Warnungen und Empfehlungen, die einstimmig getroffen werden sollen, und die die adressierten Institutionen umsetzen sollen, beim Kapitalpuffer ist dies die BaFin. Mit dieser Konstruktion soll zum einen die Neugründung eines weiteren Politikträgers vermieden werden, also einer Institution allein für die MPR, um den damit verbundenen Abstimmungsbedarf zu vermeiden. Zum anderen sollen aber auch alle Institutionen eingebunden werden, die mit der MPR zu tun haben. Wegen der Finanzmarktregulierung ist die BaFin beteiligt, wegen der Nähe des Makroaspekts zur Geldpolitik (und wegen der Einbindung in die Regulierung sowie der analytischen Kapazitäten) ist die Bundesbank vertreten und schließlich ist das BMF beteiligt, weil es die BaFin beaufsichtigt und Träger der Fiskalpolitik ist. Diese Breite hat Vorteile, bringt aber auch Probleme.

Potenzielle Interessenkonflikte

Jede Institution im Ausschuss hat neben dem gemeinsamen Interesse an Finanzstabilität ihre ureigenen Aufgaben und Interessen, die nicht automatisch perfekt zusammenpassen. Hierzu einige, sicherlich vereinfachte Überlegungen:

  • Die BaFin ist qua Mandat die „natürliche“ Regulierungsbehörde in Deutschland (für die großen Kreditinstitute ist auch die EZB zuständig). Schon daher ist fraglich, wie sehr sie institutionell daran interessiert sein kann, dass zwei andere Institutionen mitreden, wenn es um die Regulierung von Banken geht. Hinzu kommt, dass nicht nur gut regulierte Einzelinstitute eine Basis für Finanzstabilität liefern, sondern dass die BaFin dank der zweiten Säule der Bankenregulierung direkt die mögliche Systemwirkung von Kreditinstituten berücksichtigen und eine entsprechende Kapitalunterlegung vorschreiben kann.
  • Die Bundesbank wiederum ist als Teil des Eurosystems zwar für Geldwertstabilität zuständig, hat aber – wie jede andere Zentralbank – immer auch die Finanzstabilität im Blick. Dabei kann es zu Konflikten kommen, wenn z. B. steigende Preise eine straffere Geldpolitik erfordern, aber instabile Banken einer günstigen Refinanzierung bedürfen. Die Schaffung des neuen Instruments der MPR entlastet also die Zentralbank in der Geldpolitik, sodass sie aus Eigeninteresse vermutlich eine Nutzung dieses Instruments befürwortet.
  • Ganz anders stellt sich dies für das BMF dar. Als politisch handelnde Institution, jedenfalls was die Grundsatzentscheidungen anbelangt, kann man das übliche politökonomisch bedingte Verhalten unterstellen, dass expansive Maßnahmen populärer sind als restriktive.

In der Summe könnte man als Außenstehender demnach vermuten, dass in der aktuellen Lage die Bundesbank am ehesten für den Einsatz von MPR eintritt, das BMF vermutlich nicht und die BaFin möglicherweise „dazwischen“ steht. Wie gesagt, dies sind Mutmaßungen, die im konkreten Fall falsch sein mögen. Dabei kommt es für unser Argument nicht darauf an, dass die betroffenen Institutionen genau diese Positionen einnehmen. Vielmehr genügt es vollkommen, dass sie unterschiedliche Rollen wahrnehmen, und deshalb trotz der gemeinsamen Aufgabe nicht immer die gleichen Maßnahmen befürworten werden.

Inhaltliche Divergenzen nicht erkennbar

Der Gesetzgeber trägt den Besonderheiten der Zusammensetzung des Ausschusses für Finanzstabilität sowie den unter Umständen abweichenden Zielvorstellungen seiner Mitglieder auch dadurch Rechnung, dass angestrebt wird, Entscheidungen über Warnungen und Empfehlungen einstimmig zu beschließen.15 Gleiches gilt zur Beschlussfassung über deren eventuelle Veröffentlichung.16 Überdies dürfen die genannten Maßnahmen „nicht gegen die Stimmen der anwesenden Vertreter der Deutschen Bundesbank getroffen werden“17. Letztendlich kann also die Deutsche Bundesbank makroprudenzielle Maßnahmen allein verhindern, für deren Einführung benötigt sie jedoch (mindestens einen) „Koalitionspartner“. Die Vermutung, diesen eher bei der nationalen Aufsichtsbehörde als beim Finanzministerium zu finden, ist naheliegend (aber muss im Einzelfall nicht zutreffen). Nicht zuletzt die nachgerade tägliche Zusammenarbeit bei der Beschaffung sowie der Auswertung der umfangreichen Meldeauflagen für in Deutschland niedergelassene Kreditinstitute spricht für eine enge, aufeinander abgestimmte Verfahrensgrundlage.

Tatsächlich sind die vermuteten Unterschiede zwischen den Trägern in ihren Veröffentlichungen nicht erkennbar. Die von den drei Trägern periodisch vorgelegten Dokumentationen zum Zustand des deutschen Finanzsektors sind von einem sichtbaren inhaltlichen Konsens geprägt. Sowohl der Finanzstabilitätsbericht der Deutschen Bundesbank als auch der Jahresbericht der BaFin enthalten zahlreiche gegenseitige Verweise und thematische Parallelen, die auf identischen Datengrundlagen beruhen (aggregierte Bilanzsummen, Eigenkapitalquoten, Performance-Kennziffern und ähnliches). Die Ergebnisse werden ohne erkennbare Abweichungen interpretiert. Das BMF schließlich hat zwar den Vorsitz im Ausschuss und führt auch seine laufenden Geschäfte, hält sich aber mit Kommentaren zur Arbeit bzw. zu den Beschlüssen des Gremiums zurück.

Zögerliches Handeln

Auch wenn die Analysen und Verlautbarungen der drei Träger der MPR nahezu deckungsgleich sind, so mag dies eher an deren Disziplin als an ihren „wahren“ Positionen liegen. Darauf deuten zwei weitere empirische Befunde hin: zum einen die Verbindung zwischen der Organisation der MPR und ihrer Nutzung, zum anderen die jeweiligen Begründungen für den Einsatz des Kapitalpuffers.

Tabelle 1
Einsatz des antizyklischen Kapitalpuffers
    Implementation Kapitalpuffer (in %)
  Institution1 erste jüngste erster jüngster
Belgien   1.7.2020   0,5  
Bulgarien M 1.10.2019 1.4.2020 0,5 1,0
Dänemark M 31.3.2019 30.6.2020 0,5 1,5
Deutschland M 1.7.2020   0,25  
Frankreich E 1.7.2019 2.4.2020 0,25 0,5
Irland E 5.7.2019   1,0  
Island   15.5.2019 1.2.2020 1,75 2,0
Litauen E 31.12.2018 30.6.2019 0,5 1,0
Luxemburg M 1.1.2020   0,25  
Norwegen   31.12.2017 31.12.2019 2,0 2,5
Schweden E 19.3.2017 19.9.2019 2,0 2,5
Slowakei E 1.8.2018 1.8.2020 1,25 2,0
Tschechien E 1.1.2019 1.7.2020 1,25 2,0
Großbritannien E 28.11.2018   1,0  

Anmerkung: zwölf Länder mit Nutzung, 17 Länder ohne Nutzung des Kapitalpuffers, Deutschland im Übergang. 1 Institution soweit EU-Länder betroffen: E = einzelne Institution, M = mehrere Institutionen.

Quelle: European Systemic Risk Board, letzte Aktualisierung 18.9.2019.

In Europa war Schweden das erste Land, das den Kapitalpuffer eingesetzt hat, und zwar in Höhe von 2 % zum 19.3.2017. Tabelle 1 zeigt für die Staaten, die bisher ein Instrument der MPR eingesetzt haben, deren Organisation, den Zeitpunkt des ersten und jüngsten Einsatzes sowie deren Ausmaße. Auf Schweden folgte Norwegen zum 31.12.2017 mit ebenfalls 2 %, dann die Slowakei zum 1.8.2018 mit 1,25 % sowie Großbritannien zum 28.11.2018 mit 1 %. Diesen Staaten ist mit Ausnahme Norwegens gemeinsam, dass sie die MPR in die Hand einer einzigen Institution legen. Weitere Länder, deren MPR arbeitsteilig organisiert ist, folgen vergleichsweise spät und nutzen den Kapitalpuffer in nur geringem Maße, etwa Dänemark, das erst zum 31.3.2019 einen Kapitalpuffer von nur 0,5 % beschloss. Damit ergeben sich drei auffällige Beziehungen zwischen der Organisation der MPR und der Nutzung des Kapitalpuffers:

  1. Die MPR ist in etwa gleich vielen Ländern in einer oder in mehrere Institutionen organisiert, aber Länder mit nur einer Institution nutzen den Kapitalpuffer häufiger, konkret sieben versus vier.
  2. Länder mit lediglich einer Institution nutzen den Kapitalpuffer deutlich früher.
  3. Sie nutzen ihn deutlich stärker. Eine solche Beobachtung kann offensichtlich noch keine Kausalität zeigen, aber es ist möglicherweise vor diesem Hintergrund kein Zufall, dass Deutschland den Kapitalpuffer erst spät und in so geringem Maße aktiviert.18

Handlungsmotive sind nicht neu

Die Vermutung institutionell bedingter Verzögerungen ergibt sich ebenfalls bei einem Blick auf die vom Ausschuss genannten Gründe für die Aktivierung des Kapitalpuffers, denn diese Problemfelder sind schon längere Zeit virulent. Grundsätzlich wird er im Rahmen regelgeleiteter Ermessensentscheidungen festgelegt. Dabei steht die Entwicklung der Kredit/BIP-Lücke, also die Differenz zwischen dem aktuellen und dem langfristigen Verhältnis von Kreditbestand zu Bruttoinlandsprodukt (BIP), als regelbasierte Komponente im Mittelpunkt, die um einen diskretionären Entscheidungsspielraum bezüglich einer Reihe von Indikatoren wie Zinsspanne, Immobilienpreise und Leistungsbilanz ergänzt wird.19 Steigt die Kredit/BIP-Lücke auf mehr als 2 %, so nimmt regelorientiert der sogenannte Pufferrichtwert linear zu, und zwar von mindestens 0,25 % auf bis zu 2,5 %. Der Ausschuss kann von diesem Orientierungswert entsprechend seines diskretionären Ermessensspielraums abweichen.

Im Frühjahr 2019, zum Zeitpunkt der Entscheidung des Ausschusses für Finanzstabilität, lag die Kredit/BIP-Lücke zwar noch knapp unter 0 %, aber schon über dem langjährigen Durchschnitt von rund -2 % (vgl. Abbildung 1).20 Gleichzeitig ist auch aufgrund des seit mehreren Jahren zu beobachtenden Trends damit zu rechnen, dass die Kredit/BIP-Lücke in naher Zukunft über den Grenzwert von 2 % ansteigen dürfte. Damit stellt sich für den Ausschuss bzw. die BaFin das bekannte Problem der Wirkungsverzögerungen.21 So sind etwa Informationen meist nur mit zeitlicher Verzögerung verfügbar, Entscheidungen bedürfen der Vorbereitung und sehen gerade in der Bankregulierung (lange) Übergangsfristen vor. Schließlich reagieren Banken und Kreditnachfrager typischerweise nicht sofort auf neue Kapitalanforderungen. Insgesamt scheint damit angesichts des anhaltenden Anstiegs der Kredit/BIP-Lücke eine zügige Anhebung des Kapitalpuffers notwendig.

Abbildung 1
Verhältnis von Kreditbestand zu Bruttoinlandsprodukt (BIP) für Deutschland
Verhältnis von Kreditbestand zu Bruttoinlandsprodukt (BIP) für Deutschland

Quelle: Deutsche Bundesbank, Datenstand 4. Quartal 2018. Übernommen aus: Ausschuss für Finanzstabilität, Empfehlung des Ausschusses für Finanzstabilität vom 27. Mai 2019 zur Erhöhung des antizyklischen Kapitalpuffers, AFS/2019/1, S. 16.

Bezüglich der diskretionären Komponente nennt der AFS eine Reihe von Faktoren, die ebenfalls schon seit längerer Zeit Anlass zur Sorge geben. So liegt das reale Wachstum der Bank-Kredite an nicht-finanzielle Unternehmen seit einigen Jahren über dem langfristigen Durchschnitt, und die Risikogewichte, welche Banken bei ihren internen Modellen der Eigenkapitalanforderungen nutzen, wurden in den letzten Jahren im Durchschnitt fast halbiert. Bei den Wohnimmobilien weisen die Indikatoren schon seit geraumer Zeit für einzelne Regionen auf eine Überbewertung in einer Größenordnung von 15 % bis 30 % und damit den anhaltenden Aufbau von Risiken hin. Alle diese Entwicklungen sind nicht neu und deuten darauf hin, dass die Beteiligung mehrerer Institutionen mit unterschiedlichen Interessen die Entscheidungen über den antizyklischen Kapitalpuffer eher verzögern.

Fazit: besser jetzt als noch später

Die makroprudenzielle Regulierung ist ein neues Politikinstrument, das aufgrund der Erfahrungen mit der letzten großen Finanz- und Wirtschaftskrise eingeführt wurde. Deutschland hat erstmals im Mai 2019 den antizyklischen Kapitalpuffer, und damit ein weiteres zentrales Element der MPR, aktiviert. Wie zu erwarten, ist diese Maßnahme kritisch diskutiert worden. Man mag sie als unsinnig ansehen, weil die derzeitige Konjunkturentwicklung offenbar schon wieder im Abklingen ist, man mag sie aber auch im Gegenteil für zu schwach (und spät) ansehen, weil vom gewählten (minimalen) Ausmaß keine spürbare Wirkung zu erwarten ist. Es gibt gute Gründe für den Versuch einer MPR, der im derzeitigen Stadium mit vielen Ungewissheiten verbunden sein muss.22 Aus dieser Perspektive kommt der Einsatz des antizyklischen Kapitalpuffers in Deutschland tendenziell zu spät und zu vorsichtig. Wir vermuten, dass dies mit der dezentralen Organisation der Entscheidung der MPR zu tun haben könnte. Dies gilt es zu beobachten und sofern es sich als systematisch erweist, gegebenenfalls zu reformieren.

* Die Verfasser danken Jochen Keller für sehr hilfreiche Kommentare.

  • 1 Ausschuss für Finanzstabilität: Empfehlung des Ausschusses für Finanzstabilität vom 27. Mai 2019 zur Erhöhung des antizyklischen Kapitalpuffers, AFS/2019/1; Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht: Antizyklischer Kapitalpuffer, https://www.bafin.de/DE/Aufsicht/BankenFinanzdienstleister/Eigenmittelanforderungen/Kapitalpuffer/antizyklischer_kapitalpuffer_artikel.html (16.10.2019).
  • 2 Zum Jahresende 2018 betrug die durchschnittliche T1-Quote deutscher Banken 16,8 % (515 Mrd. Euro) der risikogewichteten Aktiva (RWA) (3060 Mrd. Euro), vgl. Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht: Jahresbericht 2018, Bonn, Frankfurt a. M. 2019, S. 17.
  • 3 Vgl. Deutsche Kreditwirtschaft: Stellungnahme „Zur Anhörung zur Allgemeinverfügung bezüglich der Quote des inländischen antizyklischen Kapitalpuffers“ vom 25.6.2019, https://die-dk.de/themen/stellungnahmen/dk-stellungnahme-anhorung-allgemeinverfugung-bezuglich-quote-inlandischen-antizyklischen-kapitalpuffers/ (3.8.2019).
  • 4 M. Hellwig: Wachstumsschwäche, Bankenmalaise und Bankenregulierung, in: Wirtschaftsdienst, 97. Jg. (2017), Sonderheft, S. 43-48, https://archiv.wirtschaftsdienst.eu/jahr/2017/13/wachstumsschwaeche-bankenmalaise-und-bankenregulierung/ (5.11.2019).
  • 5 C. M. Buch, J. Reich, B. Weigert: Makroprudenzielle Politik, in: Wirtschaftsdienst, 96. Jg. (2016), H. 8, S. 557-562, https://archiv.wirtschaftsdienst.eu/jahr/2016/8/makroprudenzielle-politik/ (5.11.2019).
  • 6 § 10d Kreditwesengesetz (KWG).
  • 7 Regulierung von G-SRI (§ 10f KWG) und A-SRI (§ 10g KWG).
  • 8 International Monetary Fund: Global Financial Stability Report: Vulnerabilities in a Maturing Credit Cycle, April 2019.
  • 9 N. Tente, I. Stein, L. Silbermann, T. Deckers: Der antizyklische Kapitalpuffer in Deutschland, Sonderveröffentlichung Deutsche Bundesbank, 2015, S. 6.
  • 10 S. G. Hanson, A. K. Kashyap, J. C. Stein: A Macroprudential Approach to Financial Regulation, in: Journal of Economic Perspectives, 25. Jg. (2011), H. 1, S. 3-28.
  • 11 Etwa C. A. E. Goodhart: Price Stability and Financial Fragility, in: K. Sawamoto, Z. Nakajima, H. Taguchi (Hrsg.): Financial Stability in a Changing Environment, Berlin u. a. O. 1995, S. 439-509; C. Goodhart: What Weight Should Be Given to Asset Prices in the Measurement of Inflation?, in: Economic Journal, 111. Jg. (2001), H. 472, F335-356.
  • 12 Für eine Lehrbuchdarstellung vgl. H. Gischer, B. Herz, L. Menkhoff: Geld, Kredit und Banken – Eine Einführung, 4. Aufl., Berlin u. a. O. 2019.
  • 13 European Systemic Risk Board: List of National Macroprudential Authorities and National Designated Authorities in EU Member States, 8/2017.
  • 14 Vgl. Gesetz zur Überwachung der Finanzstabilität (Finanzstabilitätsgesetz – FinStabG) vom 28.1.2012 (Bundesgesetzblatt I, S. 2369); Deutsche Bundesbank: Makroprudenzielle Überwachung in Deutschland: Grundlagen, Institutionen, Instrumente, Deutsche Bundesbank: Monatsbericht, April 2013, S. 41-57; N. Tente, I. Stein, L. Silbermann, T. Deckers, a. a. O.
  • 15 Vgl. § 2 Abs. 5 S. 2 Finanzstabilitätsgesetz.
  • 16 Ebenda.
  • 17 Vgl. § 2 Abs. 5 S. 3 Finanzstabilitätsgesetz.
  • 18 Zum Zusammenhang zwischen der institutionellen Ausgestaltung von Financial Stability Committees und deren CCyB-Entscheidungen siehe auch R. Edge, N. Liang: Financial Stability Committees and the Countercyclical Capital Buffer, Working Paper, August 2019.
  • 19 N. Tente, I. Stein, L. Silbermann, T. Deckers, a. a. O.
  • 20 Ausschuss für Finanzstabilität, a. a. O.
  • 21 Vgl. H. Gischer, B. Herz, L. Menkhoff, a. a. O.
  • 22 K. J. Forbes: Macroprudential Policy: What We’ve Learned, Don’t Know, and Need to Do, in: American Economic Review, Papers and Proceedings, 109. Jg. (2019), S. 470-475.

Title:Anti-cyclical Capital Buffer Activated – Too Little, Too Late and Still Right

Abstract:German authorities have implemented a new element of macroprudential regulation for the first time, i.e. they activated the anti-cyclical capital buffer for banks, which will become legally binding from July 2020 onwards. The authorities have chosen to increase capital requirements by the smallest possible step, namely 0.25 percentage points of bank capital. Moreover, the implementation is relatively late compared to other European countries. The authors argue that this pattern of small and late implementation may be a consequence of the institutional setting, that three institutions have to agree on such an action. Generally, it seems that European countries act faster and more decisively if the decision is made by a single institution. Moreover, the arguments provided by German authorities indicate that a decision could have been made earlier.

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DOI: 10.1007/s10273-019-2529-2

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