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Die Digitalisierung, die Energiewende und der Aufstieg Chinas zu einem wichtigen Konkurrenten stellen die Wirtschaftspolitik vor große Herausforderungen. Die Politik reagiert darauf mit Überlegungen, europäische Champions zu schaffen oder lenkend in die Wirtschaft einzugreifen. Eine horizontale Industriepolitik ohne spezifische Förderung einzelner Branchen halten viele Ökonomen für richtig. Direkte Interventionen können allerdings nicht nur in eine technologische Sackgasse führen, sondern auch dem Wettbewerb schaden. Aber sie sind in einer Wirtschaft, die von Netzwerkeffekten und Pfadabhängigkeiten dominiert wird, vor allem deshalb unabdingbar, weil Investitionen mit großer Unsicherheit über die Zukunft und hohen Risiken verbunden sind. Industriepolitik sollte letztlich das Ziel, mehr Wohlfahrt und Nachhaltigkeit für die gesamte Gesellschaft zu erreichen, in den Vordergrund stellen.

Ordnungspolitik ohne industriepolitische Blindheit

Der Begriff der Industriepolitik hat in Deutschland keinen guten Leumund. Zu sehr wird der Begriff mit wirkungslosen staatlichen Stützungsversuchen, marktferner Wirtschaftslenkung und politisch motivierten Projekten verbunden. Zu Recht wird auf die Vorteile dezentraler Planung in Unternehmen verwiesen, auf das fehlende Wissen des Staates über effiziente Produktionsprozesse und auf die schlechten Erfahrungen mit staatlichem Interventionismus. Treffen diese Erfahrungen auf eine differenzierende und intervenierende Industriepolitik zu, gilt dies nicht für die horizontale Industriepolitik. Mit ihr werden keine spezifischen Förderungen einzelner Branchen verbunden, sondern die Verbesserung industrieller Standortbedingungen für die gesamte Industrie. Horizontale Industriepolitik entspricht einer Ordnungspolitik, die mit Blick auf eine Stärkung der Wachstumschancen der ganzen Industrie gestaltet wird. Während über den Einsatz horizontaler Industriepolitik breiter Konsens besteht, ist die intervenierende Industriepolitik umstritten und wird ökonomisch ausgesprochen kritisch beurteilt, zuletzt auch im aktuellen Jahresgutachten des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.1

Und dennoch ist die differenzierende und intervenierende Industriepolitik nie von der politischen Agenda verschwunden. Drei Gründe können Erklärungsansätze dafür bieten, dass die differenzierende Industriepolitik immer eine wichtige Rolle in der praktischen Politik spielt und gerade heute wieder verstärkt diskutiert wird:2 politökonomische Anreize, Divergenzen zwischen volks- und weltwirtschaftlicher Perspektive und aktuell auftretende massive Strukturwandelphänomene.

Politische Ökonomie

Gegen eine Zurückhaltung bei spezifischen industriepolitischen Interventionen spricht die hohe Attraktivität dieser Maßnahmen für die Politik. Zu interessant ist der direkte Eingriff in Industriestrukturen für politische Entscheidungsträger. Wer auf die ordnungsgebende Funktion des Staates setzt und offenen Marktprozessen vertraut, kann kein bestimmtes Marktergebnis versprechen. Wer konkrete Förderungen bestimmter Branchen oder die Sicherung einzelner Unternehmen plant, kann hingegen ein konkretes Zielbild beschreiben und damit Wähler für sich gewinnen – auch wenn sich die Ziele möglicherweise ex post nicht realisieren lassen. Noch größer ist der politische Druck, wenn sich negative Entwicklungen abzeichnen, die möglichweise durch staatliche Intervention verhindert werden können. Auch wenn ordnungspolitische Argumente für staatliche Zurückhaltung und Offenheit gegenüber den Marktergebnissen sprechen mögen, ist es politisch kaum realistisch, Entwicklungen zu ignorieren, deren negative Auswirkungen für wichtige Wählergruppen spürbar oder zumindest sichtbar sein dürften. Selbst wenn eine gewisse Blindheit hinsichtlich zukünftiger Marktergebnisse ökonomisch notwendig und politisch möglich ist, können politisch Verantwortliche vor nachteiligen Marktentwicklungen kaum die Augen verschließen und auf industriepolitische Intervention verzichten.

Volkswirtschaft und Weltwirtschaft

Eine differenzierende Industriepolitik bekommt oftmals dann Unterstützung, wenn kurzfristige volks- und weltwirtschaftliche Interessen auseinanderfallen. Der internationale Wettbewerb um Investitionen, der über die Verbesserung der Standortbedingungen geführt wird, verbessert nicht nur der nationalen Rahmenbedingungen, sondern auch weltweit die Wachstumschancen. Horizontale Industriepolitik, die diese Wachstumsbedingungen stärkt, stellt sich diesem Wettbewerb und ist sowohl aus nationaler, also volkswirtschaftlicher, als auch aus weltwirtschaftlicher Perspektive positiv zu bewerten.

In anderen Situationen steht aber nicht diese Gemeinsamkeit von Volks- und Weltwirtschaft im Mittelpunkt, sondern die Unterschiedlichkeit. So mag es aus weltwirtschaftlicher Perspektive effizienter sein, wenn eine bestimmte Industrieproduktion mit ihren spezifischen Kostenstrukturen und Qualifikationsanforderungen ins Ausland verlagert wird. Aus inländischer Perspektive ist das mit einem Wertschöpfungs-, Beschäftigungs- und Einkommensverlust verbunden und damit negativ bewertet. Hier liegt ein Einfallstor intervenierender Industriepolitik.

Das Standardbeispiel vermeintlich erfolgreicher industriepolitischer Intervention auf europäischer Ebene entspricht im Ergebnis diesem Muster. Durch die Schaffung von Airbus hat sich der Flugzeugmarkt nicht grundlegend verändert. Das Duopol aus Boeing und McDonnald Douglas wurde durch das Duopol aus Boeing und Airbus abgelöst. Für den Wettbewerb und die Abnehmer war damit noch nichts gewonnen. Für die Entwicklung der europäischen Luftfahrtbranche stellt sich das natürlich anders dar, da diese sich mit Airbus sehr viel dynamischer entwickeln konnte als ohne einen großen europäischen Flugzeugbauer.

Wenn die kurzfristige nationale Vorteilhaftigkeit aber stets dazu führt, dass nationale, intervenierende Industriepolitik betrieben wird, bedeutet das kaum etwas anderes als Protektionismus. Die Folge wäre eine weltwirtschaftliche Desintegration, ein Verlust von Vorteilen der Arbeitsteilung und damit geringere wirtschaftliche Entwicklungsmöglichkeiten sowohl aus volks- wie auch aus weltwirtschaftlicher Perspektive.

Dynamischer Strukturwandel

Ausgangspunkt für die neue Debatte über Industriepolitik ist insbesondere die Beobachtung dynamischer und potenziell disruptiver Strukturwandelprozesse, die von einem einzigen Unternehmen oder den Unternehmen einer Wertschöpfungskette nicht oder nur schwer bewältigt werden können. Diese Prozesse unterscheiden sich vom typischen eher graduellen Strukturwandel, in dem schrumpfende Branchen durch Wachstumsbrachen schrittweise ersetzt werden. Ein solch dynamischer und disruptiver Wandel war der Niedergang der planwirtschaftlich gesteuerten Industrie der DDR nach der Wende und der Wiedervereinigung. Hier wurde mit der Erhaltung bestimmter industrieller Kerne die Grundlage für einen späteren Aufschwung gelegt. Hätte man sich damals ausschließlich auf die laufenden Marktprozesse oder eine rein horizontale Industriepolitik verlassen, wären wichtige Wachstumskerne der Neuen Länder verloren gegangen – vermutlich unwiederbringlich. Aber nicht jeder Strukturwandelprozess hat eine vergleichbare Dynamik und vergleichbar tiefgreifende Wirkungen und kann als Rechtfertigung für staatliche Intervention mit all ihren fundamentalen Unzulänglichkeiten herangezogen werden. Derzeit sind drei Treiber eines schnellen, tiefgreifenden und potenziell disruptiven Strukturwandels zu beobachten, die der Diskussion über Industriepolitik in Deutschland neue Nahrung geben: Klimaschutz, China und die Digitalisierung.

Klimaschutz

Die Herausforderungen eines effektiven Klimaschutzes sind insbesondere für die Industrie bedeutend, die in Deutschland einen besonders hohen Anteil an der Wirtschaftsleistung verantwortet. Wenn die europäischen und deutschen Klimaschutzziele ernstgenommen werden sollen, muss es gelingen, die energie- und emissionsintensive Industrieproduktion klimafreundlicher oder gar klimaneutral zu gestalten und gleichzeitig im internationalen Wettbewerb zu bestehen. Dies gelingt umso besser, je kleiner die klimaschutzbedingten Mehrkosten in Deutschland verglichen mit den wesentlichen Wettbewerbsländern sind.

Gelingt diese Veränderung der Produktion, teilweise aber auch der Konsummuster, bedeutet das eine erhebliche Neuaufstellung der industriellen Produktion mit ihren Verfahren, Wertschöpfungsketten und Geschäftsmodellen. Die Autoindustrie zeigt beispielhaft, wie herausfordernd und potenziell bedrohlich diese Veränderungsprozesse sind. Gelingt der Anpassungsprozess im Wettbewerb nicht, weil beispielsweise die Klimaschutzregulierung an anderen Produktionsstandorten mit deutlich geringeren Mehrkosten verbunden ist, bedeutet das einen deutlichen Rückgang industrieller Wertschöpfung und entsprechende harte Strukturanpassungsprozesse. Aus dieser Herausforderung leitet sich die Aufgabe des Staates ab, den industriellen Strukturwandel zu ermöglichen. Ob dies über Preissignale und Innovationsförderung, also eher den Instrumenten horizontaler Industriepolitik, oder über technologische Regulierung bis hin zu staatlich organisierten Investitionen in Produktionsanlagen wie Batterien, also einer stärker intervenierenden Industriepolitik, geschehen soll, ist Teil einer ausführlichen klima- und industriepolitischen Debatte.3 Allein durch die erheblichen Auswirkungen des Klimaschutzes auf die Industrie ist Klimapolitik heute immer auch Industriepolitik.

China

Die wirtschaftliche Stärke Chinas und der zunehmende Wettbewerb mit chinesischen Unternehmen wirft die Frage auf, welche industriepolitische Reaktion in den etablierten Industrieländern erfolgen soll. Dabei ist es nicht die wirtschaftliche Dynamik Chinas allein, sondern die Tatsache, dass diese auf nicht-marktwirtschaftlichen Ordnungsstrukturen basiert, die industriepolitisch zu bewerten sind. So muss die Rolle der Reziprozität in Handelsfragen und damit der Umgang mit staatlich verzerrtem Handel geklärt werden. Dasselbe gilt für Investitionen in Hochtechnologiebereichen.4 Wenn der unternehmerische Erfolg nur dadurch möglich ist, dass beispielsweise die Finanzierungsbedingungen künstlich verbessert werden, ist dies keine wettbewerbliche Basis für den internationalen Handel. Wenn Auslandsinvestitionen staatlich unterstützt werden und damit Kosten über dem Marktpreis gezahlt werden können, um damit anderen heimischen Unternehmen Technologien zur Verfügung stellen zu können, entspricht dies nicht dem Idealbild des unverfälschten Wettbewerbs. Die Rolle des Staates in der staatskapitalistischen Wirtschaftsordnung Chinas unterscheidet sich deutlich von der, die er in Marktwirtschaften spielt. Daraus ergibt sich ein Wettbewerb der Wirtschaftsordnungen, der bisher aufgrund der großen Bedeutung Chinas als Absatzmarkt und verlängerte Werkbank, aber der vergleichsweise geringen Relevanz als Wettbewerber weitgehend ignoriert wurde. Mit der gewachsenen Bedeutung Chinas als dynamischer industrieller Wettbewerber kommen lang nicht gestellte Fragen mit hoher Dringlichkeit auf die Agenda. Die chinesische Herausforderung ist auch eine Herausforderung für die Industriepolitik.

Digitalisierung

Mit der Digitalisierung und insbesondere den unter dem Stichwort Industrie 4.0 diskutierten Entwicklungen werden die Grundlagen der industriellen Wertschöpfung neu definiert. Für die stark industriegeprägte deutsche Volkswirtschaft ist es von besonderer Bedeutung, die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie auch in einem digitalen Umfeld zu erhalten.5 Die großen Internetunternehmen der USA und aufstrebende, ressourcenstarke Technologieunternehmen aus China stellen die Position der erfolgreichen deutschen Unternehmen infrage.

Die Digitalisierung verlangt technische Infrastrukturen, unternehmensübergreifendes und grundlegendes Know-how und ein passendes Regelungsumfeld – Voraussetzungen, die nicht von einzelnen Unternehmen alleine bereitgestellt werden können und die auf die eine oder andere Weise staatliches Handeln erfordern. Auch wenn es um die Schaffung von internationalen Standards geht, mit denen zukünftige Marktchancen massiv beeinflusst werden, ist das für ein einzelnes Unternehmen im Wettbewerb kaum leistbar. Hier müssen Netzwerkeffekte geschaffen und genutzt werden. Der Staat hat dabei die Aufgabe, den Wettbewerb zu sichern, aber zugleich gemeinsames Handeln auf neuen Märkten nicht über Gebühr zu beschränken. Die Gestaltung der Digitalisierung ist damit auch immer Industriepolitik.

Eine Frage des „Wie“ – nicht des „Ob“

Wirtschaftspolitik ist immer auch industriebezogen. Sie beschränkt sich nicht nur auf Ordnungspolitik, sondern ist faktisch ebenso Prozesspolitik. Und sogar die Ordnungspolitik selbst hat industriepolitische Auswirkungen, die nicht ignoriert werden können. Den Ordnungsrahmen weiterzuentwickeln kann nicht bedeuten, die nationale Wirtschaftspolitik blind zu gestalten. Vielmehr gilt es, die vorhandenen Industriestrukturen mit in den Blick zu nehmen, sodass gute Entwicklungschancen für bestehende Unternehmen entstehen sowie Gründungs- und Ansiedlungspotenziale für neue Unternehmen geschaffen werden.

Der heutige Wohlstand basiert auf Investitionen, die in der Vergangenheit vorgenommen wurden. Diese Investitionen auch weiterhin zu nutzen, ist ein wichtiger Baustein für zukünftigen Wohlstand und begründet industriepolitische Überlegungen. Wenn neue Industrien entstehen, muss die deutsche Politik über entsprechende Rahmenbedingungen begründen, warum sich die neuen Industrien gerade in Deutschland ansiedeln sollen. Bei bestehenden Industrien stellt sich diese Frage nicht in dieser grundsätzlichen Qualität – hier können gewisse Schwächen in Kauf genommen werden, sofern sie die Kosten einer Umsiedelung der Produktion nicht überschreiten. Disruptive Veränderungen erlauben solche Schwächen nicht. Sie stellen bestehende Strukturen grundsätzlich infrage und bringen damit viele neue Alternativen ins Spiel, die bisher aufgrund der bestehenden Investitionen nicht relevant waren. Die potenziell disruptiven Veränderungen sind es, die die Industriepolitik vor neue Herausforderungen stellen.

Die angemessene Frage erscheint heute weniger zu sein, ob es eine staatliche Industriepolitik geben soll, als vielmehr, wie diese ausgestaltet werden muss – und wo ihre Grenzen sind. Industriepolitik, die sich auf Prozesssteuerung und gewünschte Marktergebnisse fokussiert und dort interveniert, wo unternehmerische Entscheidungen anstehen, hat immer willkürliche Elemente. Die politische Intervention darf aber nicht beliebig erfolgen, sonst erodiert sie die Basis einer marktwirtschaftlichen Ordnung. Eine mögliche Kontrolle chinesischer Investitionen in Deutschland muss sich an klaren Kriterien orientieren und darf nicht willkürlich werden. Zudem gilt weiterhin, dass auch eine noch so gut informierte Regierung nicht wissen kann, welches Marktergebnis in einem innovativen Prozess möglich ist und welches Unternehmen dies bestmöglich erreichen kann. „Picking the Winners“, also die Auswahl und Förderung eines bestimmten Unternehmens oder einer bestimmten Technologie, schaltet den Wettbewerb aus und behindert die notwendigen Innovationen und ist insofern keine überzeugende Antwort auf die Dynamiken der anstehenden grundlegenden Veränderungsprozesse.

Nachgewiesene Spillover-Effekte auf ganze Branchen können ein Kriterium für Industriepolitik sein, aber auch die gezielte Marktverzerrung durch einzelne Marktteilnehmer bzw. die dahinter stehenden Staaten. So wie Dumping – also der Verkauf unter Herstellungskosten – heute nachgewiesen und durch entsprechende Zölle beantwortet werden kann, muss über die Möglichkeit diskutiert werden, staatlichen Marktverzerrungen beim Einkauf von Unternehmen zu begegnen. Aber auch hier muss Industriepolitik regelbasiert stattfinden und darf sich nicht in politischer Beliebigkeit ergehen. Es geht um die Fortentwicklung der nationalen und internationalen Ordnungspolitik.

Das Argument der Spillover-Effekte führt aber auch zu einer horizontalen Industriepolitik, also einer Politik für ein wirtschaftspolitisches Umfeld, in dem die Industrie sich gut entwickeln kann.6 Eine breit angelegte steuerliche Forschungsförderung stärkt das Innovationspotenzial der Unternehmen, Lehrstühle und Forschungseinrichtungen zu industrierelevanten Themen verbessern die Grundlagenforschung und schaffen damit längerfristige Möglichkeiten. Anwendungsnahe Forschung in Kooperation mit Unternehmen stärkt die Innovationsfähigkeit dort, wo die Marktteilnehmer die größten Entwicklungschancen sehen. Mit Schwerpunkten zu klimaschonender Produktion oder zur Digitalisierung der Industrie können Impulse gegeben werden, um auf die dominierenden dynamischen Trends zu reagieren. Hier vermischen sich vertikale Elemente und horizontale Industriepolitik, die aber immer auch vertikale Wirkungen hat, da einzelne Marktteilnehmer von ihr stärker profitieren als andere. Die breite Palette der horizontalen Industriepolitik bleibt bedeutsam: angemessene – insbesondere auch digitale – Infrastrukturen; eine allgemeine Gründungs- und Innovationsfreundlichkeit sowie moderate Steuern und andere staatlich beeinflusste Kostenelemente sind Voraussetzungen für Dynamik neuer Unternehmen und bestehender Industrien.

Industriepolitik sollte nicht verteufelt werden. Wenn sie im Kern als regelbasierte Ordnungspolitik mit vertikalen Wirkungen auf die Industrie gestaltet wird, können willkürliche politische Interventionen vermieden werden. Ordnungspolitik darf nicht blind sein für die beschleunigten Veränderungen und ihre Auswirkungen auf die industrielle Basis des Wohlstands in Deutschland.

  • 1 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Vor wichtigen Weichenstellungen – Jahresgutachten 2018/19, Wiesbaden 2018, S. 72 ff.
  • 2 Council of the European Union: Presidency report on Industrial Policy – governance and mainstreaming, Brüssel 2018.
  • 3 H. Bardt: Ökologische Industriepolitik oder angebotsorientierte Umweltpolitik?, in: Wirtschaftsdienst, 88. Jg. (2008), H. 1, S. 31-39.
  • 4 J. Matthes: Unternehmensübernahmen durch chinesische Firmen in Deutschland und Europa – Unter welchen Bedingungen besteht Handlungsbedarf?, IW-Report, Nr. 30/2017, Köln 2017.
  • 5 Institut der deutschen Wirtschaft Köln, IW Consult (Hrsg.): Wohlstand in der digitalen Welt – Erster IW-Strukturbericht, IW-Studien, Köln 2016.
  • 6 Institut der deutschen Wirtschaft Köln, IW-Consult (Hrsg.): Manufacturing in Europe – A growth engine in the global economy, IW-Studien, Köln 2015.

Gute Industriepolitik setzt auf Wettbewerb und Innovation

Um die Rolle der deutschen Volkswirtschaft als stetige Quelle befriedigender Beschäftigungsverhältnisse, eines hohen Lebensstandards und umfangreicher persönlicher Entfaltungsmöglichkeiten zu erhalten, muss sie erneuerungsfähig bleiben. Doch nicht zuletzt angesichts des demografischen Wandels wird es in den kommenden Jahren kaum leichter werden, die Innovationsleistung der deutschen Wirtschaft zu beflügeln. Denn auch künftig wird ein großer Teil des Produktivitätswachstums aus unternehmerischen Entdeckungsprozessen geschöpft werden müssen. Gute Wettbewerbs- und Innovationspolitik kann dazu ermutigen und sie durch geeignete Anreize auslösen. Eine Industriepolitik zu verfolgen, die auf Zuruf selbst unternehmerische Einzelentscheidungen trifft, ist jedoch nicht sinnvoll.

Industriepolitik: Ein schillernder Begriff

Der Begriff Industriepolitik genießt unter Ökonomen traditionell einen schlechten Ruf. Klassische Industriepolitik begünstigt einzelne Unternehmen oder Branchen durch die Zuweisung finanzieller Vorteile oder den Schutz vor Wettbewerbern. Daran ist viel zu bemängeln. So erscheint erstens die vielfach von den Befürwortern industriepolitischer Eingriffe im politischen Diskurs bemühte Sprachfigur, es ginge dabei um die strategischen Interessen der Volkswirtschaft, meist als durchsichtiger Deckmantel:

  • Eine Volkswirtschaft verbindet eine große und vielfältige Schar von Akteuren, um wessen Interessen soll es also gehen? So etwas wie „einheimische Unternehmen“ gibt es zumindest in der modernen Welt der Konzerne längst nicht mehr.
  • Was macht diese Interessen „strategisch“? Dass hier Aktivitäten mit vermeintlichem Weitblick verfolgt werden, obwohl sie sich zumindest in absehbarer Zeit nicht rechnen, reicht wohl kaum zur Rechtfertigung dieser Begriffswahl aus.
  • Konzepte aus der Welt der Unternehmensberatung in die Sphäre der Wirtschaftspolitik zu übertragen, kann leicht den Blick auf volkswirtschaftliche Zusammenhänge und damit auf die verborgenen Kosten eines Eingriffs verstellen.

Zweitens wird bei näherer Betrachtung oft schnell ersichtlich, welche Einzelinteressen im Ringen um die Zuwendung durch Industriepolitik versuchen, sich auf Kosten der Allgemeinheit individuelle Vorteile zu verschaffen: Bei Maßnahmen der klassischen Industriepolitik stehen häufig ehedem staatlich organisierte Bereiche, etwa die Energieversorgung oder das Verkehrswesen, oder andere Bereiche mit enger Bindung an die Politik, wie etwa die Automobilindustrie, im Mittelpunkt. Es lässt sich daher nur schwer übersehen, dass die Begünstigung dieser konzentrierten Einzelinteressen mit den gesellschaftlichen Interessen nur bedingt deckungsgleich sein kann. Denn letztendlich muss der Staat die finanziellen Mittel für diese Maßnahmen anderen Wirtschaftsakteuren entsprechend entziehen.1

Drittens folgt die Bereitschaft der Politik, auf Zuruf zu industriepolitischen Maßnahmen zu greifen, wo es vermeintlich brennt, einer unausweichlichen politischen Logik: Industriepolitische Eingriffe begünstigen typischerweise die Akteure vor Ort oder in einem bestimmten Technologiefeld in konzentriertem und daher vergleichsweise leicht zu beobachtendem Ausmaß. Daher werden die im Zuge eines Eingriffs entstehenden Aktivitäten oft als dessen Erfolg verbucht, während das, was dort oder an anderer Stelle deswegen nicht zustande gekommen ist, bei der Gegenbuchung der (Opportunitäts-)Kosten nur unzureichend erfasst wird.2 Dadurch wird der politische Entscheidungsprozess zugunsten industriepolitischer Eingriffe verzerrt.

Doch es gibt auch eine andere, weit positivere Einordnung des Begriffs, an der Schnittstelle der Industrie- zur Innovationspolitik. Sie greift dort, wo Industriepolitik dazu beiträgt, Innovationspotenziale zu heben, die durch den Marktprozess nicht erschlossen werden können.3 Denn angesichts der Komplexität des Innovationsprozesses ist es längst undenkbar geworden, eine Innovationspolitik zu betreiben, die sich nicht im engen Austausch mit der Sphäre der Unternehmen vollzieht. So gewendet kann industriepolitisches Handeln als Entwicklungskatalysator dienen, das den Unternehmen dabei hilft, ihre eigenen Entfaltungsmöglichkeiten zu entdecken – auch und gerade in denjenigen Bereichen, in denen die gesellschaftliche Rendite dieser Entdeckungen deren private unternehmerische Rendite übersteigt.4

Innovationsfähigkeit als politisches Ziel

Im Augenblick verwirklicht die deutsche Volkswirtschaft noch ein potenzielles, also um konjunkturelle Schwankungen bereinigtes, Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von etwa 1 ½ % pro Jahr. Aber bald wird das im volkswirtschaftlichen Produktionsprozess eingesetzte Arbeitsvolumen aufgrund des demografischen Wandels nicht mehr zum gesamtwirtschaftlichen Wachstum beitragen.5 Stärkere Investitionen in das Produktivkapital könnten dies zwar zum Teil kompensieren, aber es ist alles andere als offensichtlich, warum es dazu kommen sollte. Die Hoffnung, das Wohlstandswachstum auf gewohntem Niveau zu halten, wird neben den Investitionen in Produktivkapital vor allem auf Produktivitätssteigerungen durch Innovationen liegen, der dritten Quelle des langfristigen Wirtschaftswachstums.6

Fortschritte beim aktuellen Stand des Wissens darüber, wie Arbeit und Produktivkapital genutzt werden können, um Wirtschaftsleistung zu erzielen, sind in der Regel das Ergebnis unternehmerischer Entdeckungsprozesse, sie lassen sich nicht mit völliger Sicherheit planen, sondern sind das Ergebnis der Abwägung von sicheren Kosten und möglichem Ertrag. Die Unternehmen werden künftig eher noch stärker als bisher gefordert sein, durch Versuch und Irrtum technisches und organisatorisches Wissen anzusammeln und im Marktprozess nutzbar zu machen. Die Voraussetzungen dafür sind einerseits gut, denn die deutsche Volkswirtschaft hat eine starke industrielle Basis. Die Industrie leistet typischerweise einen disproportional hohen Beitrag zum Wachstum der gesamtwirtschaftlichen Produktivität.7 Dabei ist es vor allem die für Deutschland so wichtige Automobilindustrie, die seit langem als Innovations- und damit auch als Beschäftigungsmotor dient. Deutsche Unternehmen nutzen offene Märkte, um als Ausrüster für Produktionsprozesse in aller Welt erfolgreich zu sein. In jüngster Zeit haben sie vor allem im Bereich der Produktion auf neue digitale Technologien gesetzt, um ihre internationale Marktposition zu behaupten. So hat sich der Begriff „Industrie 4.0“ zum internationalen Markenzeichen entwickelt, die Vision einer intelligenten „Fabrik der Zukunft“ ist greifbar nahe.

Daher ist es verständlich, dass in der Digitalisierung der deutschen Wirtschaft vielfach der künftige Wohlstandsmotor gesehen wird. Dennoch macht die Industrie nur einen Teil der Wirtschaftsleistung aus, und die verhaltene gesamtwirtschaftliche Innovationsleistung der jüngeren Vergangenheit hat ihre Quelle vor allem im mageren Produktivitätswachstum im Dienstleistungsbereich.8 Dort könnte die Digitalisierung ihr Potenzial zur Steigerung der Wertschöpfung vor allem daraus ziehen, dass neue Geschäftsmodelle die alten ablösen, bei denen stärker denn je der Kundennutzen im Mittelpunkt steht. Ohne den entsprechend drastischen Strukturwandel, bei dem bestehende Beschäftigungsverhältnisse untergehen und neue Beschäftigungsverhältnisse entstehen, wird kein (Produktivitäts-)Fortschritt möglich sein.

Innovationspolitik mit ordnungspolitischem Kompass

Während Industriepolitik zweifellos abzulehnen ist, wenn sie als Strukturkonservator eingesetzt werden soll, hat der Staat aus innovationspolitischer Sicht eine fast überragende Rolle.9 Denn er trägt eine große Verantwortung dafür, den nötigen Strukturwandel zu ermöglichen und sogar dort aktiv anzuregen, wo Marktkräfte dafür nicht ausreichen. Eine gute Innovationspolitik hat demnach drei Standbeine. Erstens sollte sie durch eine marktorientierte Wirtschaftspolitik starke Anreize für ein Engagement im unternehmerischen Entdeckungsprozess setzen. Dazu gehört neben der Bereitstellung einer guten physischen Infrastruktur die Sicherung eines funktionierenden Wettbewerbs und eine schlanke Regulierung sowie eine international wettbewerbsfähige Unternehmensbesteuerung, mithin mehr Vertrauen in Marktprozesse.

Zweitens sollte sie die Voraussetzungen für einen intensiven und häufig erfolgreichen Entdeckungsprozess im Hinblick auf neues Wissen schaffen. Dazu gilt es vor allem, den Dreiklang Bildung-Forschung-Wissenstransfer zu stärken. Vor allem müssten die Anstrengungen erhöht werden, den nachfolgenden Generationen die Befähigung zu vermitteln, in der digitalisierten Welt der Zukunft mitwirken zu können.10 Ebenso gehört das noch weiter verstärkte Bemühen dazu, leistungsfähige Einrichtungen der Grundlagenforschung und der angewandten Forschung bereitzustellen. Schließlich geht es dabei auch um eine Stärkung der Innovationsoffenheit und gesellschaftlichen Wertschätzung des Unternehmertums, um die Chancen und Vorteile des technologischen Wandels zu nutzen.

Drittens sollte der Staat dort gezielte Impulse setzen, wo starke externe Effekte das gewünschte unternehmerische Engagement verhindern. Die Beweislast dafür, dass ein derartiges Versagen der Marktkräfte vorliegt, haben zwar immer deren Befürworter, doch es handelt sich dabei nicht um eine fruchtlose akademische Übung: So ist die öffentliche Förderung der angewandten Grundlagenforschung zu Recht ein bewährtes Element deutscher Innovationspolitik. Dies gilt ebenso für die hierzulande umgesetzte gezielte Förderung der vorwettbewerblichen Unternehmensforschung. Denn die Grundlagenforschung erweist sich beileibe nicht als der einzige Fall von Marktversagen im Innovationsgeschehen.11

Das entscheidende Erfolgskriterium für dieses staatliche Engagement für mehr Innovationsleistung ist der Beitrag, den das Portfolio industriepolitischer Projekte insgesamt zum Strukturwandel leistet: Einzelne Fehlschläge diskreditieren dieses Vorgehen nicht, solange das Gesamtbild stimmt und gegenüber dem sich ansonsten ergebenden unternehmerischen Geschehen Mehrwert erzeugt wird. Um die Aussicht auf Erfolg zu wahren, gilt es, die Qualität des Prozesses sicherzustellen, mit dem die gezielte Förderung angewandter Forschungsprojekte gesteuert wird:12 Sie ist ihrerseits als transparenter und lernender Entdeckungsprozess auszugestalten, bei dem die Förderung möglichst technologieoffen und zeitlich klar begrenzt vergeben, kritisch begleitet und gegebenenfalls konsequent eingestellt wird.

Erstens zeichnet sich eine durchdachte innovationspolitische Strategie somit durch gute Verfahren der Identifikation zu fördernder Vorhaben aus. So beabsichtigt die Bundesregierung aktuell, die industrielle Batteriezellproduktion in Deutschland zu fördern,13 einem derzeit von japanischen und südkoreanischen Unternehmen dominierten Markt.14 Als Begründung hierfür dient insbesondere die erwartete hohe Nachfrage. Doch die Prognose dieser Entwicklung ist von sehr hoher Unsicherheit geprägt. Es läge vielmehr nahe, die konträre Einschätzung aus deutschen Konzernzentralen als ein Warnsignal zu sehen und nicht als eine Motivation zum staatlichen Eingriff: Denn sie erwarten im Bereich der Batteriezellfertigung in Deutschland offenbar keine hinreichenden Vorteile, um den Einsatz eigener Mittel zu rechtfertigen.15

Zweitens muss es gelingen, verlässlich die Spreu vom Weizen der Projekte zu trennen und daraus rasch die nötigen Konsequenzen zu ziehen. Zu einer kritischen Begleitforschung gehört daher zunächst ein sorgfältiges Monitoring der Finanzflüsse, das zwingend durch die unabhängige Evaluierung der tatsächlichen ursächlichen Wirkungen der Förderung ergänzt werden muss. Der Erfolg des einzelnen Projekts bemisst sich dabei an dem durch die Förderung erzeugten gesellschaftlichen Mehrwert.16 Der Erfolg des staatlichen Handelns insgesamt bemisst sich daran, ob die geförderten Projekte im Durchschnitt einen derartigen Mehrwert erzeugen können. Vor allem ist sicherzustellen, dass dort, wo Mittel erkennbar nicht zum Projekterfolg führen, die Förderung konsequent beendet wird.

Die jüngst verabschiedete „Strategie Künstliche Intelligenz“ der Bundesregierung folgt im Grundsatz diesem ordnungspolitischen Kompass für eine moderne Innovationspolitik.17 Sie zielt darauf ab, Ausstattung und Vernetzung der Forschung zu diesem Thema voranzutreiben, Rahmenbedingungen für Arbeit und Wettbewerb in den Märkten der Zukunft zu erarbeiten und Innovation und Unternehmensgründungen zu fördern. Dieses Vorgehen reflektiert nicht zuletzt die bewährten Strukturen der außeruniversitär verfassten öffentlich geförderten Forschung entlang des gesamten Spektrums von der Grundlagenforschung bis hin zur vorwettbewerblichen angewandten Unternehmensforschung. Was hier aktuell zu wünschen übrig bleibt, ist eine noch stärkere Hinwendung zur kritischen Evaluierung der Förderprojekte.

Faule Kompromisse vermeiden

Doch die aktuelle politische Diskussion hat aus zwei Gründen eine ganz andere Wendung genommen. So wird erstens bisweilen behauptet, der wirtschaftliche und technologische Aufstieg Chinas und der unbedingte Erfolgswille sowie die Rücksichtslosigkeit des dort dominierenden politischen Regimes setzten die bisherigen Erkenntnisse der Ökonomik im Hinblick auf die Industriepolitik weitgehend außer Kraft. Letztlich müsse nach Jahrzehnten der Liberalisierung der globalen Wirtschaftsordnung das Denken in klar abgegrenzten Antagonismen wieder in den Vordergrund treten. In der Tat liegt im Vorgehen chinesischer Akteure eine gewaltige Herausforderung für das gemeinsame politische Handeln in Europa. Doch die Abwägungsprobleme werden dadurch nicht leichter, sondern eher noch komplizierter.

So ist Deutschland wie kaum eine andere Volkswirtschaft darauf angewiesen, dass die aktuell schwelenden Handelskonflikte nicht eskalieren.18 Aus diesem Grund sollte Deutschland im europäischen Schulterschluss und nicht im Alleingang nach politischen Lösungen für die mangelnde Reziprozität der chinesischen Seite suchen. Gerade Deutschland sollte ohne Not keine Schritte zur Beschneidung der liberalen globalen Wirtschaftsordnung unternehmen. Dies zu leisten und dennoch wehrhaft zu bleiben, ist ein delikater Balanceakt. Nach innen gilt: Wie will sich die Bundesregierung dagegen wehren, dass Unternehmen hierzulande umfangreiche individuelle Vorteile im vermeintlichen nationalen Interesse abgreifen, wenn sie einmal den Damm brechen lässt und quasi auf Zuruf agiert?

Die beste Gegenwehr gegen die drohende Übernahme der Technologieführerschaft durch chinesische Unternehmen dürfte es aus Sicht der Unternehmen sowie der Arbeitnehmer nach wie vor sein, im Wettbewerb immer eine Nase vorn zu haben. Dazu müssten der Strukturwandel und der technologische Fortschritt in Deutschland wohl von einem weit breiteren Konsens getragen werden, als dies aktuell der Fall ist. Eine richtig verstandene Industriepolitik kann ein elementarer Bestandteil einer guten Wirtschaftspolitik sein und einem Erfolgswillen Raum verschaffen, den Marktkräfte allein nicht freisetzen. Das wird sie aber nicht leisten können, wenn ihre eigentliche Motivation nicht der Wille zum Erfolg ist, sondern sie lediglich als Ersatz für die unzureichende Wettbewerbsbereitschaft unserer Gesellschaft dienen soll.

Zweitens – und damit eng verwandt – fühlt sich die Politik gefordert, auf dem Wege der Industriepolitik angesichts des anstehenden Strukturwandels in den Braunkohleregionen für neue Beschäftigungsmöglichkeiten zu sorgen. Es ist völlig unverständlich, warum hier aus den Fehlern beim Aufbau der deutschen Solarindustrie nicht mehr gelernt wurde.19 Sie wurde in der Hoffnung etabliert, damit einen nachhaltigen Beschäftigungsmotor zu schaffen. Aber da in der günstigen Massenfertigung nicht der komparative Vorteil deutscher Unternehmen liegen kann, war es unausweichlich, dass die Solarindustrie in die Knie gehen musste, sobald ihre Förderung zurückgefahren wurde. Neu geschaffene Beschäftigungsmöglichkeiten müssen zum Hochlohnstandort Deutschland passen, wenn sie nachhaltig sein sollen.

Fazit

Das Vorhaben, ein möglichst fruchtbares Klima für Innovationen zu schaffen, ist eine anspruchsvolle politische Gestaltungsaufgabe. Deutschland wird seinen Wohlstand im globalen Wettbewerb vermutlich nur dann in gewohntem Umfang ausbauen können, wenn es gelingt, auch künftig den technischen Fortschritt auf den wesentlichen Gebieten an führender Stelle mitzubestimmen. Dazu sollte die Politik aber auf Maßnahmen der klassischen Industriepolitik, wie etwa beim subventionierten Aufbau von Kapazitäten zur Batteriezellproduktion, verzichten. Sie sollte vielmehr ein wichtiger Impulsgeber in der Innovations- und Technologiepolitik bleiben, etwa beim Thema Künstliche Intelligenz, und dort ihren Einsatz noch verstärken.

* Mein herzlicher Dank gilt Wolf Heinrich Reuter für viele konstruktive Kommentare und Anregungen.

  • 1 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (im Folgenden Sachverständigenrat): Die Zukunft nicht aufs Spiel setzen, Jahresgutachten 2009/10, Kapitel 6: Industriepolitik: Marktprozesse wirken lassen und Innovationen ermöglichen, Wiesbaden 2009.
  • 2 Ebenda.
  • 3 Ebenda.
  • 4 D. Rodrik: Industrial Policy for the Twenty-First Century, KSG Working Paper, Nr. RWP04-047, 2004.
  • 5 S. Breuer, S. Elstner: Die Wachstumsperspektiven der deutschen Wirtschaft vor dem Hintergrund des demografischen Wandels – Die Mittelfristprojektion des Sachverständigenrates, Sachverständigenrat, Arbeitspapier, Nr. 07/2017.
  • 6 Sachverständigenrat: Vor wichtigen wirtschaftspolitischen Weichenstellungen: Jahresgutachten 2018/19, Kapitel 1: Vor wichtigen wirtschaftspolitischen Weichenstellungen, Wiesbaden 2018.
  • 7 S. Elstner, L. P. Feld, C. M. Schmidt: The German Productivity Paradox – Facts and Explanations, Ruhr Economic Papers, Nr. 767, 2018.
  • 8 Ebenda.
  • 9 Sachverständigenrat: Die Zukunft nicht aufs Spiel setzen, a. a. O.
  • 10 S. Elstner, L. P. Feld, C. M. Schmidt: Bedingt abwehrbereit: Deutschland im digitalen Wandel, Sachverständigenrat, Arbeitspapier, Nr. 03/2016.
  • 11 D. Rodrik: Green Industrial Policy, in: Oxford Review of Economic Policy, 30. Jg. (2014), H. 3, S. 469-491.
  • 12 D. Rodrik: Industrial Policy ..., a. a. O.
  • 13 Bundesministerium für Wirtschaft und Energie: Thesen zur industriellen Batteriezellfertigung in Deutschland und Europa, 2018, https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Downloads/S-T/thesen-zur-industriellen-batteriezellfertigung-in-deutschland-und-europa.pdf?__blob=publicationFile&v=4 (31.1.2019).
  • 14 Nationale Plattform Elektromobilität: Roadmap integrierte Zell- und Batterieproduktion Deutschland, AG2 – Batterietechnologie und UAG 2.2 – Zell- und Batterieproduktion der Nationalen Plattform Elektromobilität (NPE), Berlin, Januar 2016.
  • 15 Bosch: Batteriezellen: Bosch setzt auf Zukauf statt Eigenfertigung, Pressemeldung vom 28.2.2018, Stuttgart 2018, https://www.bosch-presse.de/pressportal/de/de/batteriezellen-bosch-setzt-auf-zukauf-statt-eigenfertigung-146944.html (31.1.2019).
  • 16 D. Rodrik: Green Industrial Policy, a. a. O.
  • 17 Bundesregierung: Strategie Künstliche Intelligenz der Bundesregierung, Stand: November 2018, https://www.bundesregierung.de/resource/blob/997532/1550276/3f7d3c41c6e05695741273e78b8039f2/2018-11-15-ki-strategie-data.pdf (31.1.2019).
  • 18 Sachverständigenrat: Vor wichtigen wirtschaftspolitischen Weichenstellungen, a. a. O.
  • 19 Sachverständigenrat: Die Zukunft nicht aufs Spiel setzen, a. a. O.

Paradigmenwechsel in der deutschen Wirtschaftspolitik

Noch vor ihrer Wahl zur Vorsitzenden der CDU forderte Annegret Kramp-Karrenbauer in einem Interview in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 16. September 2018 eine strategische Industriepolitik: „Das haben wir in Deutschland bisher eher abgelehnt. Nun betreiben andere Staaten aber genau das. Und wir müssen uns darauf einstellen: national und europäisch. Auch wenn das ein echter Paradigmenwechsel ist.“

Am 18. Dezember 2018 hat Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier mit seinen europäischen Amtskollegen gemeinsam eine Erklärung verabschiedet. Darin wird die neue Europäische Kommission aufgefordert, so bald wie möglich, eine ehrgeizige und umfassende industriepolitische Strategie vorzuschlagen, dafür strategische Wertketten zu identifizieren und entsprechende Aktionspläne zu entwickeln.1 Dieser Paradigmenwechsel steht in einem deutlichen Kontrast zur herkömmlichen Sichtweise der meisten deutschen Politiker und Ökonomen. Die traditionelle Position wird von der Mehrheit des Sachverständigenrats im Jahresgutachten wie folgt umrissen:

„Um nachhaltig erfolgreich zu sein, sollte ein Innovations­standort jedoch auf eine lenkende Industriepolitik verzichten, die es als staatliche Aufgabe ansieht, Zukunftsmärkte und -technologien als strategisch bedeutsam zu identifizieren.2 Es ist unwahrscheinlich, dass die Politik hinreichend über verlässliches Wissen und genaue Kenntnis der künftigen technologischen Entwicklungen oder Nachfrageänderungen verfügt, um dieses Vorgehen zu einer sinnvollen langfristigen Strategie zu machen. Geht es ihr um nachhaltigen Fortschritt, so sollte sie viel eher auf das dezentrale Wissen und die individuellen Handlungen verschiedener Akteure der Volkswirtschaft vertrauen. Der Staat sollte vielmehr eine gute Infrastruktur bereit- und einen funktionierenden Wettbewerb sicherstellen, dabei jedoch auf die gezielte Unterstützung ausgewählter Technologien oder Unternehmen weitgehend verzichten. Ausnahmen können dann vorliegen, wenn die externen Effekte, wie bei der Grundlagenforschung und der Wahrung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung (etwa im Rüstungsbereich), groß sind.“3

Die ausgeprägte Abneigung deutscher Ökonomen gegen Industriepolitik zeigte sich nicht zuletzt darin, dass schon das Werben für eine Diskussion über „die Möglichkeiten einer aktiveren Industriepolitik für Deutschland und Europa“4 zu einer überraschend erregten Erwiderung durch die „marktliebenden“ Fachkollegen geführt hat.5

Traditionelle Argumente

In ihrem Paradigmenwechsel kann sich die Politik jedoch durchaus auf die wirtschaftswissenschaftliche Literatur berufen. Schon John Maynard Keynes hat darauf hingewiesen, dass es für den Staat nicht darum gehe, Dinge zu tun, die die Privaten bereits tun und diese dann etwas besser oder schlechter zu tun. Vielmehr gehe es darum, die Dinge zu tun, die von den Privaten gegenwärtig überhaupt nicht getan werden.6

Es sind vor allem drei Argumente, mit denen man ein industrie- und innovationspolitisches Handeln des Staates rechtfertigen kann:7

  • Unsicherheit im Sinn von Knight, die sich von Risiko dadurch unterscheidet, dass keine Wahrscheinlichkeitsverteilung für die möglichen Ergebnisse bekannt ist,8
  • Netzwerkeffekte und Externalitäten, die ein koordiniertes Handeln von privaten und staatlichen Akteuren erfordern,
  • Pfadabhängigkeiten, die sich vor allem im Bereich des Energiesektors aus hohen Fixkosten und der langen Lebensdauer von Investitionen ergeben.

Dazu kann aus strategischer Sicht ein industrie- und innovationspolitisches Handeln auch dann geboten sein, wenn in anderen wirtschaftlich bedeutsamen Ländern eine aktive Industriepolitik betrieben wird, die im globalen Wettbewerb zu Nachteilen für die heimischen Anbieter führen kann.

Das Problem der Unsicherheit oder zumindest sehr hoher Risiken kann bewirken, dass private Akteure von innovativen Investitionen Abstand nehmen, obwohl sie diese bezogen auf ihre Ertragspotenziale nicht grundsätzlich negativ einschätzen. Dieser Sachverhalt wird oftmals unter den Begriff des „Kapitalmarktversagens“ gefasst.9 Ein aktuelles Beispiel hierfür ist die Entscheidung der Robert Bosch GmbH, die Entwicklung einer eigenen Produktion von Batteriezellen für die Elektromobilität einzustellen. Diese wurde explizit mit hohen Fixkosten und hohen Risiken begründet: Es bleibe mit Blick auf die dynamischen und nur schwer vorhersehbaren externen Marktfaktoren offen, ob und wann sich diese Investition für Bosch rechnen würde. Eine solch risikobehaftete Investition sei damit im Gesamtinteresse des Unternehmens nicht vertretbar.10

Rückblickend lässt sich feststellen, dass es aufgrund solcher Unsicherheit ohne massive staatliche Unterstützung weder zur industriellen Nutzung der Atomenergie noch zur weiten Verbreitung der Erneuerbaren Energien gekommen wäre. Mit dem Vertrauen auf das „dezentrale Wissen und die individuellen Handlungen“ der Marktakteure wäre man hier nicht weit gekommen. Entscheidend war es vielmehr, dass die Politik „geschützte Märkte“ etabliert,11 die es für die Anbieter attraktiv macht, entsprechende Investitionen vorzunehmen.

Das Problem der Koordination ergibt sich daraus, dass es bei Innovationen immer weniger um isolierte Technologien und Branchen geht. Die meisten modernen Technologien betreffen vielmehr Systeme und ganze Wertschöpfungsketten. Sie sind gekennzeichnet durch Interdependenzen zwischen mehreren Branchen, die dabei fortgeschrittene Materialien und Komponenten, Fertigungssysteme und ganze Servicesysteme entwickeln.12 Ein Beispiel dafür ist die Entwicklung des Smartphones, dessen zentrale Komponenten (Internet, GPS, Touch-Screen-Display, SIRI) als Ergebnis staatlicher Forschungsförderung in den USA entwickelt worden sind.13 Gleichwohl geht es aktuell bei der Elektromobilität nicht nur um das Automobil, sondern um die Ladeinfrastruktur, die dafür erforderlichen Energieversorgungsnetze, Mobilitätsdienstleistungen, das autonome Fahren, Batteriezellen (oder andere Antriebsformen) und die intelligente Verkehrssteuerung. Innovationsprozesse sind also in hohem Maß interdependent und weisen dabei ausgeprägte positive Externalitäten auf, die von den einzelnen Unternehmen bei ihren Innovationsentscheidungen nicht angemessen berücksichtigt werden können. Förderlich für Innovationen sind daher „industrial commons“, worunter Pisano und Shih räumlich konzentrierte kollektive Forschungs-, Ingenieurs- und industrielle Produktionsfähigkeiten verstehen, die Innovationen vorantreiben.14

Das Problem der Pfadabhängigkeit wird von Aghion et al. darin gesehen, dass Unternehmen aufgrund von Externalitäten grundlegender Innovationen tendenziell an bestehenden Technologien festhalten. Dies begünstige insbesondere ein Festhalten an „schmutzigen Technologien“. Die Autoren belegen dies anhand einer Studie, die einen positiven Zusammenhang zwischen Innovationen in „sauberen“ Technologien und den bereits vorhandenen Patenten eines Unternehmens in diesem Bereich aufweist und einen negativen Zusammenhang für den Bestand an Patenten in „schmutzigen“ Technologien.15 Die bisher vergleichsweise geringen Anstrengungen deutscher Automobilunternehmen bei der Entwicklung von Elektroautos können in dieser Hinsicht ebenso als anekdotische Evidenz dienen wie das lange Festhalten deutscher Energieversorgungsunternehmen an konventionellen Energieträgern.

Die Pfadabhängigkeit hat sich vor allem im Wettbewerb mit China als nachteilig erwiesen. Da es chinesischen Unternehmen kaum möglich ist, bei Verbrennungsmotoren den Rückstand zu deutschen Herstellern aufzuholen, ist es für sie naheliegend, diese Entwicklungsstufe weitgehend zu überspringen. Dies bestätigt sich durch die technologische Führungsrolle, über die China jetzt im Bereich Elektromobilität verfügt.16

Die Herausforderung durch „Made in China 2025“

Neben diesen traditionellen Argumenten für eine staatliche Industrie- und Innovationspolitik müssen aus strategischer Sicht auch industriepolitische Aktivitäten wichtiger Konkurrenten berücksichtigt werden. Kaum ein Land verfolgt so konsequent und mit so großem Einsatz eine umfassende industrie- und innovationspolitische Strategie wie China. Mit dem im Mai 2015 beschlossenen „Made­ in China 2025“ strebt dieses Land eine dominante Stellung auf den Weltmärkten für Hochtechnologie-Produkte an, mit den expliziten Zielen der „self-sufficiency“ und der „indigenous innovation“.17 Mit einem hohen Industrieanteil und der zugleich großen Bedeutung von Hochtechnologie-Industrie zählt Deutschland zu den Ländern, die von dieser Strategie in besonderer Weise betroffen sind. China, aber auch andere asiatische Staaten sind insgesamt ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie es mit staatlicher Industriepolitik durchaus möglich ist, über Jahre hinweg erfolgreich Branchen zu identifizieren, die sich im internationalen Wettbewerb behaupten können. Ein Beispiel hierfür ist insbesondere die Entwicklung und Fertigung von Solarzellen, wobei es China gelungen ist, in kurzer Zeit zum weltweit größten Hersteller zu werden. Weltweit kommen heute die drei größten Anbieter von Solarpanelen aus China, das rund zwei Drittel der Weltproduktion in den Jahren 2010 bis 2015 herstellte.18

Die rasante Entwicklung in diesem kapitalintensiven Bereich lässt sich nicht aus der konventionellen Perspektive der komparativen Kostenvorteile erklären. Gang sieht darin vielmehr einen Erfolg des Staatskapitalismus in Form eines gemeinsamen ostasiatischen Entwicklungsmodells, bei dem Staaten eine signifikante und manchmal entscheidende Rolle in der Industrialisierung und der Schaffung von Märkten spielen.19 Zu den Subventionen bei der Entwicklung und Produktion von Solarzellen zählten zinslose oder zinsbegünstigte Darlehen, Steuervergünstigungen, Forschungszuschüsse, günstige Grundstücke, Energiesubventionen sowie technologische, infrastrukturelle und personelle Unterstützung.20 Die Schattenseite der exzessiven Förderungen waren erhebliche Überkapazitäten, die zu einem starken Verfall der Weltmarktpreise führten. Es ist daher unzutreffend, wenn die Mehrheit des Sachverständigenrats das Schicksal der Solarunternehmen in Ostdeutschland als „Paradebeispiel“ für die Fehlschläge einer gezielten Industriepolitik anführt. Es ist vielmehr ein Beleg dafür, wie schwer es für individuelle Unternehmen in Deutschland geworden ist, sich bei der massiven industriepolitischen Förderung ihrer Konkurrenten im globalen Wettbewerb zu behaupten.

Die Notwendigkeit, auf die chinesische Herausforderung mit einer verstärkten europäischen Industriepolitik zu reagieren, zeigt sich auch daran, dass wichtige deutsche Industrieunternehmen dabei sind, ihre anwendungsorientierten Forschungsaktivitäten nach China zu verlagern. So wird Schaeffler die „Fabrik der Zukunft“ in Xiangtan errichten, Bosch eine Industrie-4.0-Referenzfabrik in Xian, und Siemens plant sein globales Forschungszentrum für autonome Robotik in Peking. In einem Gespräch mit Journalisten stellte der Vorstandsvorsitzende von Volkswagen, Herbert Diess, kürzlich fest: „Bisher haben wir europäische Technologie nach China gebracht. Das ist vorbei.“ Gegenüber Europa habe China jene Technologieunternehmen und Fähigkeiten, die es für das Auto der Zukunft brauche.21 Das bestätigt die These von Tassey, wonach Unternehmen ihre Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten in Länder verlagern, die hierfür bessere FuE-Infrastrukturen und eine günstigere finanzielle Förderung vorweisen können.22

Zu einer strategischen Antwort auf die industrie- und innovationspolitischen Ambitionen Chinas gehört auch, dass der Erwerb deutscher Unternehmen durch chinesische Investoren kritisch geprüft wird. Mit der neunten Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung (AWV) vom 12. Juli 2017 hat die Bundesregierung den Kreis der meldepflichtigen Transaktionen vor allem auf Unternehmen aus dem IT-Bereich ausgeweitet.

Nur Europa wird die Herausforderung bewältigen können

Grundsätzlich wird sich die chinesische Herausforderung nur durch gemeinsame europäische Anstrengungen meistern lassen. Nur wenn Europa geschlossen auftritt, besteht die Chance, die Größenvorteile zu entfalten, die sich derzeit für Investoren und Innovatoren auf dem chinesischen Markt bieten. Konkret wäre es daher dringend notwendig, eine gemeinsame Strategie zur Förderung der Elektromobilität in Europa zu entwickeln.

Die relativ spät in Gang gekommenen Bestrebungen der Europäischen Kommission und der Bundesregierung, über eine Europäische Batterie-Allianz eine eigene Fertigung von Batteriezellen zu fördern, geht daher in die richtige Richtung. So hat China dem Anbieter CATL neben massiven Krediten auch dadurch Wettbewerbsvorteile verschafft, dass Elektroautos nur dann staatliche Zuschüsse erhalten, wenn sie heimische Batteriezellen enthalten. Das Konzept der im Oktober 2017 gegründeten europäischen Batterie-Allianz folgt dem hier skizzierten systemischen, innovationspolitischen Ansatz.23 Es ist bereits gelungen, ein „Ökosystem“ von rund 260 Akteuren aus den Bereichen Industrie und Innovation aus allen Segmenten der Batterie-Wertschöpfungskette zu mobilisieren und zu koordinieren. Aber dies ist eben nur ein erster Schritt hin zu einer umfassenden europäischen Strategie zur Förderung der Elektromobilität.

Insgesamt gesehen deckt sich der jetzt bei der deutschen Politik zu beobachtende „Paradigmenwechsel“ in der Innovations- und Industriepolitik zwar nicht mit den gängigen Vorstellungen des deutschen ökonomischen Mainstreams. Er lässt sich aber ökonomisch durchaus gut begründen, insbesondere, wenn er sich nicht in nationalen Initiativen erschöpft, sondern wenn zumindest die Zusammenarbeit mit Frankreich, idealerweise aber mit allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union angestrebt wird. Im globalen Wettbewerb um moderne Technologien werden sich am Ende jene Länder und Wirtschaftsräume durchsetzen, die die innovationsfreundlichsten Ökosysteme schaffen.

* Der Beitrag beinhaltet eine modifizierte und ergänzte Version meines Minderheitsvotums im Jahresgutachten 2018/19 des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (im Folgenden Sachverständigenrat).

  • 1 Joint statement by France, Austria, Croatia, Czech Republic, Estonia, Finland, Germany, Greece, Hungary, Italy, Latvia, Luxembourg, Malta, Netherlands, Poland, Romania, Slovakia, Spain (Friends of Industry), https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Downloads/F/friends-of-industry-6th-ministerial-meeting-declaration.pdf?__blob=publicationFile&v=6 (31.1.2019).
  • 2 Sachverständigenrat: Jahresgutachten 2009, Ziffern 323 ff.
  • 3 Sachverständigenrat: Jahresgutachten 2018/19, Tz. 158.
  • 4 P. Bofinger: Mehr Zentralismus wagen!, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12.8.2017.
  • 5 Mir wurde damals vorgeworfen, die Liebe von Ökonomen zum Markt mit einer Liebe zu einzelnen Marktakteuren verwechselt zu haben. Das dürfe einem Profi nicht passieren, vgl. L. P. Feld, I. Schnabel, C. M. Schmidt, V. Wieland: „Einem Profi sollte das nicht passieren“, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, vom 19.8.2017; sowie N. Potrafke: Der Letzte der Weisen, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 14.9.2017.
  • 6 J. M. Keynes: The End of Laissez-faire. The Collected Writings of John Maynard Keynes, Vol. IX, 1926, S. 272-294.
  • 7 M. Mazzucato: Innovation systems: from fixing market failures to creating markets, in: Intereconomics, 50. Jg. (2015), H. 3, S. 120-125.
  • 8 F. Knight: Risk, Uncertainty, and Profit, Boston 1921.
  • 9 H.-J. Chang, A. Andreoni, M. L. Kuan: International industrial policy experiences and the lessons for the UK, Future of Manufacturing Project: Evidence Paper 4, Foresight, UK-Government Office for Science, London 2013.
  • 10 Bosch: Batteriezellen: Bosch setzt auf Zukauf statt Eigenfertigung, Pressemitteilung, Stuttgart, 28.2.2018.
  • 11 A. Bergek, S. Jacobsson: Are Tradable Green Certificates a cost-efficient policy driving technical change or a rent-generating machine? Lessons from Sweden 2003-2008, in: Energy Policy, 38. Jg. (2010), H. 3, S. 1255-1271.
  • 12 G. Tassey: Rationales and mechanisms for revitalizing US manufacturing R&D strategies, in: The Journal of Technology Transfer, 35. Jg. (2010), H. 3, S. 283-333; M. R. Keller, F. Block: Explaining the transformation in the US innovation system: the impact of a small government program, in: Socio-Economic Review, 11. Jg. (2012), H. 4, S. 629-656.
  • 13 M. Mazzucato, a. a. O.
  • 14 G. P. Pisano, W. C. Shih: Restoring American competitiveness, in: Harvard Business Review, 87. Jg. (2009), H. 7-8, S. 114-125.
  • 15 P. Aghion, J. Boulanger, E. Cohen: Rethinking industrial policy, Bruegel Policy Brief, Nr. 011/04, Brüssel 2011.
  • 16 J. Ni: L‘avenir de la voiture électrique se joue-t-il en Chine?, in: La Note d‘Analyse, Nr. 70, September 2018, France-Stratégie.
  • 17 J. Wübbeke, M. Meissner, M. J. Zenglein, J. Ives, B. Conrad: Made in China 2025: The making of a high-tech superpower and consequences for industrial countries, Merics Paper, Nr. 2/2016, Mercator Institute for China Studies, Berlin 2016.
  • 18 H. Sanderson: Europe’s fledgling battery industry should heed the lessons from solar, in: Financial Times vom 10.10.2018.
  • 19 C. Gang: China‘s Solar PV manufacturing and subsidies from the perspective of state capitalism, in: The Copenhagen Journal of Asian Studies, 33. Jg. (2015), H. 1, S. 90-106.
  • 20 Ebenda.
  • 21 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8.1.2019.
  • 22 G. Tassey, a. a. O.
  • 23 Europäische Kommission: Europäische Batterie-Allianz: Große Fortschritte beim Aufbau einer europäischen Batterieproduktion nach nur einem Jahr, Pressemitteilung vom 15.10.2018, Nr. IP/18/6114, Brüssel 2018.

Gestaltende Technologiepolitik als Kern moderner Industriepolitik

Industriepolitik hat in Deutschland nicht unbedingt einen guten Ruf. So wurde viel Geld in bestimmte Technologien gesteckt, wie etwa den Schnellen Brüter, der nie zum Einsatz kam. Mit Milliarden wurde über Jahrzehnte der Rückbau des Steinkohlebergbaus begleitet, ohne dass die entsprechenden Regionen ihre alte Strahlkraft zurückgewannen. Dennoch sind moderne Volkswirtschaften ohne Industriepolitik kaum denkbar. Der Aufstieg Chinas zu einer führenden Industrienation verdeutlicht das markant.1 Auch in den entwickelten Volkswirtschaften wurde nach der Wirtschaftskrise 2009 die Industrie als Stabilitätsanker wiederentdeckt und daraus industriepolitischer Handlungsbedarf abgeleitet.2 Entsprechend entwickelte die Europäische Kommission Anfang 2014 ein wirtschaftspolitisches Programmpaket für eine industrielle Renaissance Europas.3 Auch wenn der Schwung inzwischen etwas zu erlahmen scheint, bleibt die gegenwärtige Wirtschaftspolitik der EU auf eine Stärkung der Industrie ausgerichtet.4

Formen der Industriepolitik

In der Literatur sind eine Reihe von Strukturierungsversuchen zu den unterschiedlichen Formen der Industriepolitik zu finden.5 Die grundlegendste Unterscheidung ist die zwischen horizontaler und vertikaler Industriepolitik.6 Unter horizontaler Politik werden dabei insbesondere allgemeine Rahmenbedingungen, wie das Rechts- oder Bildungssystem verstanden, die für die Entwicklung industrieller Strukturen notwendig sind. Unter vertikaler Politik werden dagegen stärker selektive Eingriffe in bestimmte Industriebranchen subsumiert.

Um die unterschiedlichen Politikansätze zu veranschaulichen, hilft ein Blick in die industriepolitische Historie der Bundesrepublik Deutschland. Nach 1945 setzte die Industriepolitik sowohl auf selektive Instrumente wie den Aufbau des VW-Konzerns in Staatsregie als auch auf günstige Rahmensetzungen wie die Unterbewertung der D-Mark als generelle Exportförderungsstrategie. Diesen Typus nachholender export­orientierter Industrialisierung finden wir heute insbesondere in China mit seinen Staatskonzernen und Local-Content-Forderungen. Mit der Ölkrise in den ١٩٧٠er Jahren änderte sich der industriepolitische Fokus in Deutschland. Im Vordergrund stand der Restrukturierungsbedarf der Industrie. So sollte neben der Förderung der Kernenergie als Alternative zum Öl insbesondere durch die Subventionierung der Montanindustrie vermeintlich Zeit dafür gewonnen werden, Regionen mit niedergehenden Industrien umzustrukturieren. Ähnlich motiviert dürfte heute die Zollpolitik der US-Administration sein, die den Schutz der einheimischen Industrie anstrebt.

In den 1980er Jahren orientierte sich die Industriepolitik in Deutschland mehr und mehr auf die Förderung des Innovationssystems. Ein Beispiel hierfür ist der Ausbau eines nahezu flächendeckenden Netzes von Instituten der Fraunhofer-Gesellschaft und von Fachhochschulen. Nach der Wiedervereinigung wurde darüber hinaus versucht, gerade auch über den Einsatz von Innovationsfördermitteln industrielle Kerne in Ostdeutschland zu erhalten.

Im Fokus: Technologiepolitik

Blickt man auf die aktuellen Entwicklungen, so liegt der Schwerpunkt der industriellen Fördermaßnahmen eindeutig im Bereich der Technologiepolitik.7 Der Bedarf an technologiepolitischen Eingriffen leitet sich dabei wirtschaftswissenschaftlich gesehen aus unterschiedlichen Arten des Marktversagens ab.8 So müssen aufgrund von Unteilbarkeiten häufig bestimmte Mindestgrößen von Forschungs- und Produktionsaktivitäten erreicht werden, um technologische Fortschritte zu erzielen. Darüber hinaus hat die Erzeugung von technologischem Wissen in der Regel positive externe Effekte. Über Marktanreize alleine würde also das technologische Potenzial nicht ausgeschöpft werden. Entsprechend sind technologiepolitische Eingriffe des Staates bei Vorliegen von Spillover-Effekten, Netzwerkexternalitäten oder Pfadabhängigkeiten unabdingbar.9

So unstrittig die generelle Notwendigkeit von Technologiepolitik heute ist, so uneins ist man sich hinsichtlich ihrer richtigen Ausgestaltung. Hierbei lassen sich vereinfacht zwei polarisierende Sichtweisen unterscheiden:

  • die liberale, nicht-interventionistische Sicht, die die Fähigkeit des Staates zur Identifizierung von Zukunftstechnologien und zur Auswahl von förderwürdigen Technologien bestreitet und die staatliche Aktivität auf die Ausformung der wettbewerblichen bzw. infrastrukturellen Rahmenbedingungen für neue Technologien beschränkt.10
  • die gestaltende, interventionistische Sicht, die eine Schwerpunktsetzung für unerlässlich hält und dem Staat eine aktive Rolle bei der Auswahl und Anwendung strategischer Zukunftstechnologien zuschreibt bzw. diese einfordert.11

Paradebeispiele für eine eher liberale Technologiepolitik sind generelle finanzielle Anreize zur Erhöhung der Innovationsaktivitäten. Dazu wird in Deutschland aktuell einerseits die Einführung einer international bereits weit verbreiteten steuerlichen Förderung von Aufwendungen der Unternehmen für Forschung und Entwicklung (FuE) gefordert, unter anderem von der Expertenkommission Forschung und Innovation, die sie auf kleine und mittlere Unternehmen fokussieren will.12 Wegen der dabei erwarteten hohen Mitnahmeeffekte setzt der Sachverständigenrat dagegen auf Steuererleichterungen für Erträge aus Patenten in Form der sogenannten Patentboxen. Sie könnten von Deutschland auch im internationalen Steuerwettbewerb erfolgreich eingesetzt werden.13

Die internationalen Erfahrungen mit beiden steuerlichen FuE-Förderinstrumenten zeigen allerdings, dass sie vor allem den etablierten forschungs- und patentstarken Unternehmen zugutekommen. Weil sie vergangene FuE-Aufwendungen prämieren, erreichen die steuerlichen Vorteile die Unternehmen erst mit zeitlichem Verzug und setzen zudem gerade für neue und kleine Unternehmen mit geringer FuE nur schwache Anreize für zusätzliche FuE-Ausgaben.14 Weil jede Art der Forschung gefördert wird, hat die steuerliche Förderung keinerlei Lenkungswirkung, kann also vor allem nicht auf eine Maximierung von möglichen Spillover-Effekten z. B. durch Kooperationen ausgerichtet werden.

Eine eher geringe Lenkungswirkung wird ebenfalls bei der finanziellen Förderung marktferner Grundlagenforschung in Universitäten und staatlichen Instituten unterstellt. Allerdings ist bereits hier die strikte Trennung von Grundlagen- und angewandter Forschung kaum möglich. So zeigt eine Untersuchung von Bentley et al.15 für mehrere Länder und Disziplinen, dass für die meisten Forscher an Universitäten die Kombination von Grundlagen- und angewandter Forschung die Norm ist.

Prioritätensetzung

Eine deutlich stärkere staatliche Schwerpunktsetzung ist im Rahmen der von der Bundesregierung im Jahr 2006 initiierten sogenannten Hightech-Strategie zu konstatieren. Sie dient der Verbesserung des Innovationssystems als Voraussetzung dafür, sowohl Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit zu stärken als auch gesellschaftliche Herausforderungen zu bewältigen. Somit besteht eine hohe Überschneidung mit industriepolitischen Zielsetzungen.16 Die Hightech-Strategie verfolgt das Paradigma der „neuen Missionsorientierung“. Im Unterschied zur „klassischen Missionsorientierung“, die Ziele und technologische Entwicklungen definiert, mit denen sie erreicht werden sollen (beispielweise bei der Entwicklung von Atomkraft und Raumfahrt), bezieht sich die Förderung nun stärker auf Beiträge zu Problemlösungen für gesellschaftliche Herausforderungen (Klimawandel, demografischer Wandel, Sicherheit).

Dennoch wird der größte Teil der Mittel in der Hightech-Strategie nach wie vor für klassische thematisch fokussierte Förderungen kooperativer Forschungsprojekte aufgewendet, die überwiegend im offenen Wettbewerb vergeben werden.17 Immer wieder gibt es Kritik an der technologischen Schwerpunktsetzung der FuE-Förderung, aktuell z. B. daran, dass die Gewährung von Fördermitteln zur Digitalisierung zu gering wächst.18 Die Bewertungsmaßstäbe sind dabei nicht immer transparent und nachvollziehbar. Festzuhalten bleibt, dass auch die missionsorientierte Politik mit ihrer größeren Technologieoffenheit und Orientierung auf Bedarfsfelder letztlich immer wieder Richtungsentscheidungen fällen und technologische Prioritäten setzen muss. Die Frage nach der Art und Weise, wie solche Prioritäten festgelegt werden, ist aus ökonomischer Sicht zweifellos die größte Herausforderung für die missionsorientierte Technologiepolitik.

Ein strategisches Element der Prioritätensetzung sind auch sogenannte Forschungsagenturen. So will die Bundesregierung in dieser Legislaturperiode eine „Agentur zur Förderung von Sprunginnovationen“ aufbauen. Als Vorbild werden unter anderem die US-amerikanischen Agenturen DARPA (Defense Advanced Research Projects Agency) und ARPA-E (Forschungsagentur für den Energiebereich) genannt, denen durch ihre Unabhängigkeit und fundierte Innovationsausrichtung revolutionäre Technologien gelungen seien.19 Erstes Ziel der Agentur ist die Identifikation und Förderung von Forschungsideen mit Sprunginnovationspotenzial. Auch in dieser zunächst technologieoffenen Maßnahme müssen also recht bald Entscheidungen über technologische Prioritäten gefällt werden. Dazu sind Ideenwettbewerbe für Spitzenprojekte angekündigt, die auf die Überführung von Ideen aus FuE in die Anwendung zielen und eine Laufzeit von drei bis sechs Jahren haben.20

Versuch und Irrtum

Wirtschaftspolitisches Ziel bleibt allerdings, Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit auch über die Forschungsförderung hinaus dadurch zu befördern, dass die Umsetzung in neue Produktionstechnologien und neue Produkte unterstützt wird. Eine rahmensetzende Politik, die sich auf die Bedürfnisse von Akteuren früher Wertschöpfungsstufen wie FuE konzentriert, dürfte hierbei notwendig aber nicht immer hinreichend sein. Gefordert ist daher oft auch eine gestaltende sektorale Technologie- und Industriepolitik, die die gesamte Wertschöpfungskette in den Blick nimmt und sich dabei auch sektoraler Politikinstrumente (z. B. Investitionsbeihilfen) für die Förderung von Produktionsstätten bedient.21

Als Beispiel für den Fehlschlag einer solchen gestaltenden Technologiepolitik wird exemplarisch auf die Förderung der Solarunternehmen in Ostdeutschland verwiesen.22 Solche Fehlschläge sind aber auch ein Beleg für das hohe Risiko, das private Unternehmen von Investitionen in neue Technologien abschrecken kann. Dieses hohe Risiko verschwindet nicht, wenn der Staat als Ko-Investor und Förderer auftritt, denn Innovationsprozesse verlaufen als „Versuch und Irrtum“ und können in Fehlinvestitionen, aber auch in außergewöhnlichen wirtschaftlichen Erfolgen münden. Als Gegenbeispiel bislang gelungener industriepolitischer Eingriffe kann die Förderung der Halbleiterindustrie in Deutschland und insbesondere in der Region Dresden seit Beginn der 1990er Jahre angeführt werden.23 Das Mikroelektronik-Cluster Silicon Saxony gilt heute als führender Forschungs- und Produktionsstandort in Europa. Zurzeit baut Bosch in Dresden eine der modernsten Chip-Fabriken der Welt.

Die Europäische Kommission hat 2018 erneut Subventionen für die sächsische Mikroelektronik genehmigt, weil es sich um „wichtige Projekte von gemeinsamem europäischen Interesse“ handelt (englisch als „IPCEI“ abgekürzt). Wenn es wegen des bei solchen Vorhaben besonders hohen Risikos an privaten Initiativen zur Förderung der Innovation fehlt, können die Mitgliedstaaten gemäß der IPCEI-Mitteilung diesem Marktversagen begegnen, indem sie gemeinsam die Finanzierungslücke schließen und so zur Realisierung der Vorhaben beitragen. Um für eine solche Förderung in Betracht zu kommen, muss ein Projekt einen Beitrag zu den strategischen Zielen der EU leisten, mehrere Mitgliedstaaten betreffen, private Finanzierungen durch die Begünstigten einbeziehen, positive Spillover-Effekte in der gesamten EU erzielen, mit denen mögliche Wettbewerbsverzerrungen begrenzt werden und äußerst ehrgeizig unter dem Aspekt der Forschung und Innovation gestaltet sein.24

Fazit

Moderne Volkswirtschaften wie die deutsche sind darauf angewiesen, im globalen Innovationsprozess an der Spitze mitzuspielen. Das Land muss daher auch auf aussichtsreiche radikale Innovationen setzen. Solche Zukunftstechnologien sind hoch riskant. Ohne staatliches Engagement könnten Unternehmen dieses Risiko oft nicht tragen. Das heißt aber auch, dass Fehlschläge in der staatlichen Technologiepolitik ebenso wie in der privaten Wirtschaft toleriert werden müssen. Abwarten und Risikoscheu sind umgekehrt mit der Gefahr verbunden, wichtige technologische Entwicklungen zu verhindern, da häufig eine bestimmte Masse erforderlich ist, um bestimmte Innovationsprozesse in Gang zu setzen. So hat Deutschland viel Zeit verloren, um hinreichend in eine neue Antriebstechnologie für Fahrzeuge zu investieren.

Die aktive Priorisierung innerhalb der Technologiepolitik sollte dabei so transparent wie möglich erfolgen – auch um den Einfluss von Lobbyisten zu begrenzen. Die Inte­gration wettbewerblicher Elemente in die Auswahlprozesse ist dabei durchaus nützlich. Technologiepolitik darf aber nicht als bloße Wirtschaftsförderung verstanden werden. Weil die Gesellschaft umfangreiche Mittel zur Verfügung stellt, ist es unabdingbar, dass sich eine gestaltende Technologiepolitik an gesellschaftlichen Zielen und Werten orientiert. Mögliche gesellschaftliche Folgen müssen in die Bewertung von Technologiealternativen eingehen. In der Umsetzung der strategischen Ziele sollte die Technologiepolitik weiterhin in erster Linie auf kooperative Projekte mit großem Potenzial an positiven externen Effekte setzen. Die Förderung kooperativer FuE-Projekte, Netzwerke und Cluster hat gegenüber der Förderung von Einzelprojekten oder generellen Finanzhilfen den Vorteil, dass erwünschte Spillover zwischen den beteiligten Akteuren und damit oft auch darüber hinaus bereits eingebaut sind.

  • 1 M. Schüller: Chinas Industriepolitik: auf dem Weg zu einem Erfolgsmodell?, in: WSI Mitteilungen, Nr. 7, 2015, S. 542-549.
  • 2 P. Aghion, J. Boulanger, E. Cohen: Rethinking industrial policy, in: Bruegel policy brief, Nr. 4, Juni 2011; J. E. Stieglitz, J. Yifu, C. Monga: The rejuvenation of industrial policy, in: The World Bank, Policy Research Working Paper, Nr. 6628, 2013.
  • 3 European Commission: For a European Industrial Renaissance, COM(20140) 14 final, Brüssel 2014.
  • 4 European Commission: Investing in a smart, innovative and sustainable Industry. A renewed EU Industrial Policy Strategy, COM(2017) 479 final, Brüssel 2017.
  • 5 J. Meyer-Stamer: Moderne Industriepolitik oder postmoderne Industriepolitiken?, Friedrich-Ebert-Stiftung, in: Schriftenreihe Moderne Industriepolitik, Berlin 2009; D. Rehfeld, B. Dankbaar: Industriepolitik: Theoretische Grundlagen, Varianten und Herausforderungen, in: WSI Mitteilungen, Nr. 7, 2015, S. 491-499.
  • 6 D. Rodrik: The Past, Present, Future of Economic Growth, in: Challenge, 57. Jg. (2014), H. 3, S. 5-39.
  • 7 M. Gornig, A. Schiersch: Perspektive der Industrie in Deutschland, in: Vierteljahrshefte zur Wirtschaftsforschung, 84. Jg. (2015), H. 1, S. 37-54.
  • 8 M. Fritsch: Marktversagen und Wirtschaftspolitik, Vahlens Handbücher der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, 10. Aufl., München 2018.
  • 9 M. Mazzucato: Innovation systems: from fixing market failures to creating markets, in: Intereconomics, 50. Jg. (2015), H. 3, S. 120-125.
  • 10 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Vor wichtigen wirtschaftspolitischen Weichenstellungen, Jahresgutachten 2018/19, Wiesbaden 2018.
  • 11 A. B. Atkinson: Inequality: What can be done?, London 2015.
  • 12 Expertenkommission Forschung und Innovation: Gutachten zu Forschung, Innovation und technologischer Leistungsfähigkeit Deutschlands 2017, Berlin 2017.
  • 13 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, a. a. O.
  • 14 H. Belitz, C. Dreher, M. Kovac, C. Schwäbe, O. Som: Steuerliche Förderung von Forschung und Entwicklung in KMU – Irrweg für Deutschland?, in: Wirtschaftsdienst, 97. Jg. (2017), H. 5, S. 344-353.
  • 15 P. J. Bentley, M. Gulbrandsen, S. Kyvik: The relationship between basic and applied research in universities, in: Higher Education, März 2015, S. 689-709.
  • 16 B. Dachs, M. Dinges, M. Weber, G. Zahradnik, P. Warnke, B. Teufel: Herausforderungen und Perspektiven missionsorientierter Forschungs- und Innovationspolitik, in: Studien zum deutschen Innovationssystem, Nr. 12-2015, EFI, Wien, Karlsruhe 2015.
  • 17 Ebenda.
  • 18 Expertenkommission Forschung und Innovation, a. a. O.
  • 19 Büro für analytische Sozialforschung (BaS): Ziele der geplanten Agentur für Sprunginnovationen, in: Bildungsspiegel vom 21.11.2018.
  • 20 Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF): Agentur zur Förderung von Sprunginnovationen – Hintergrundinformation, August 2018.
  • 21 S. Wydra et al.: Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft im Hinblick auf die EU-Beihilfepolitik – am Beispiel der Nanoelektronik, in: Arbeitsbericht, TAB, Nr. 137, Juli 2010.
  • 22 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, a. a. O.
  • 23 H. Belitz, D. Edler: Gesamtwirtschaftliche und regionale Effekte von Bau und Betrieb eines Halbleiterwerkes in Dresden, in: DIW Sonderheft 14, Berlin 1998; D. Edler (unter Mitarbeit von J. Blazejczak, T. Böhn, M. Gornig): Gesamtwirtschaftliche und regionale Bedeutung der Entwicklung des Halbleiterstandorts Dresden – eine aktualisierte und erweiterte Untersuchung, DIW Berlin, Juni 2002.
  • 24 EU-Kommission: Staatliche Beihilfen: Kommission genehmigt das Vorhaben Frankreichs, Deutschlands, Italiens und des Vereinigten Königreichs, staatliche Beihilfen in Höhe von 1,75 Mrd. EUR für ein gemeinsames Projekt im Bereich Mikroelektronik zu gewähren, Pressemitteilung vom 18.12.2018, http://europa.eu/rapid/press-release_IP-18-6862_de.htm (10.1.2019).

Industriepolitik mit gesellschaftlichen Zielen verbinden – systemischer Ansatz statt Uraltkontroverse

Die europäische Industriepolitik ist durch den anhaltenden Konflikt zwischen der „französischen“ sektoralen Industriepolitik und dem deutschen „horizontalen Ansatz“ geprägt. Das Gutachten des Sachverständigenrats 2018/19 wirft sich voll auf die Seite des horizontalen Ansatzes: „um nachhaltig erfolgreich zu sein“, müsse man verzichten „Zukunftsmärkte als strategisch bedeutsam zu identifizieren“1.

Die alte Kontroverse

Das Motiv der Industriepolitik liegt in der doppelten Erkenntnis, dass erstens der Industrie in der längerfristigen Entwicklung von Volkswirtschaften eine besondere Rolle zukommt und zweitens man diesen Sektor mit hoher Konzentration und positiven und negativen externen Effekten auch in einer Marktwirtschaft nicht allein den Marktkräften überlassen kann. Mit der Industrialisierung begann der Wachstumsprozess, industrielle „Revolutionen“ haben immer wieder gesellschaftliche Veränderungen eingeleitet. Ein hoher – zunächst steigender später besonders in Industrieländern sinkender – Anteil der Industrie hat die Internationalisierung begleitet, die Bekämpfung der absoluten Armut forciert. Eine starke Industrie hat den europäischen Wohlfahrtstaat ermöglicht und zuletzt auch den Aufholprozess asiatischer Länder begleitet.2 Industriepolitik wurde lange als „Teilpolitik“ gesehen, klar abgegrenzt von Makropolitik, noch mehr von Gesundheits- und Sozialpolitik. Lehrbücher und wissenschaftliche Artikel sind gefüllt vom Gegensatz von Industrie- und Wettbewerbspolitik.

Die sektorale Industriepolitik vertraut auf Planbarkeit und staatliches Wissen, bevorzugt bestimmte Sektoren. Sie entstand aus der französischen „planification“, und führt heute noch zur Forcierung von Rüstung, Raum- und Luftfahrt. Die vor allem von Deutschland forcierte horizontale Industriepolitik geht von Vorteilen dezentralen Wissens in der Marktwirtschaft aus: Der Staat solle Monopole bekämpfen, und zur Forcierung positiver externer Effekte (Forschung, Bildung), Vermeidung negativer externer Effekte und in der „Sozialen Marktwirtschaft“ auch zur sozialen Absicherung eingreifen. Rahmenbedingungen und Infrastruktur, nicht aber gezielte Eingriffe zugunsten von Sektoren sind Kern der Sozialen Marktwirtschaft. Das Jahresgutachten des Sachverständigenrats 2018/19 folgt dem horizontalen Ansatz, bezweifelt „verlässliches Wissen und genaue Kenntnis der künftigen technologischen Entwicklungen und Nachfrageänderungen“.

In den USA haben das Vertrauen in die Marktkräfte und die Skepsis gegenüber staatlichen Eingriffen oft zur Schlussfolgerung geführt, die beste Industriepolitik liege vor, wenn es keine Industriepolitik gäbe. Tatsächlich gab es jedoch immer eine „implizite Industriepolitik“ quasi als Nebenprodukt der Rüstungs- oder Raumfahrtpolitik bzw. durch die Existenz der Spitzenuniversitäten und ihre halbstaatliche Finanzierung.

Der Europäische Einigungsprozess hat mit einem sektoralen Ansatz für Kohle und Stahl begonnen. Der Gründungsvertrag der EG 1957 erwähnt Industriepolitik nicht, da ein Binnenmarkt und die Beendigung der Subventionen im Mittelpunkt stand. Im Maastricht-Vertrag von 1992 wurde Industriepolitik erstmals als Aufgabe definiert, die Wettbewerbsfähigkeit Europas mit einem primär horizontalen Ansatz zu unterstützen, wobei auch neue Technologien und die Informationstechnologie erwähnt wurden.

Empirische Wertungen

Sektorale Industriepolitik hat empirisch oft den strukturellen Wandel verzögert, weil Verflechtungen von Politik, Wirtschaft und Interessenvertretungen immer zu Interventionen zugunsten bestehender Unternehmen geführt haben. Es wurde versucht, nationale, oft verstaatlichte Konzerne am Leben zu erhalten, von Kohle über Stahl zu Papier. Viele nationale Champions waren dennoch nicht zu retten. Neue und junge Unternehmen wurden mit Kosten und Bürokratie konfrontiert. Versuche, europäische Champions in der Computerindustrie als Konkurrenz zu IBM und Microsoft aufzubauen, sind gescheitert. Günstiger ist die Bewertung in der Flugindustrie, wo Airbus ohne europäische Industriepolitik nie entstanden wäre. Auch die Euratom-Verträge sind ein verfehlter sektoraler Ansatz, weil Subventionen immer wieder verlängert wurden, obwohl die Endlagerung nicht geklärt ist. Das geplante Atomkraftwerk Hinkley Point wäre heute ohne massive staatliche Subvention nicht zu errichten. Ähnlich kontraproduktiv sind die Subventionen für fossile Energie, die in Europa auch heute noch höher sind als jene für erneuerbare Energien. Kohlesubventionen wurden 2018 noch bis 2035 verlängert.

In Frankreich – dem Musterland der sektoralen Industriepolitik – ist der Industrieanteil stärker gefallen als im europäischen Durchschnitt und liegt nach einem Spitzenwert von 20 % heute unter 10 %. Unter den Ländern mit primär horizontaler Industriepolitik sticht Deutschland hervor. Hier liegt der Industrieanteil relativ stabil über 20 %, die Leistungsbilanz ist positiv. Dass der Champion der horizontalen Industriepolitik auf der europäischen Ebene vehement für seine Auto- und Chemieindustrie interveniert, falsche Messungen von Emissionen forciert und Betrug bei Emissionsmessungen zulässt, ist ein Beweis, dass theoretische Konzepte zurückgestellt werden, wenn ein Sektor hohe nationale Bedeutung erlangt hat. Das Gutachten des Sachverständigenrats hat versäumt, diese Verstöße gegen den von ihm präferierten Ansatz zu kritisieren.

Industriepolitik in Asien

In dieser Phase der offiziellen Ablehnung der Industriepolitik in den USA und der Suche nach einem neuen Konzept in Europa wurde in vielen asiatischen Ländern eine staatlich gelenkte, auf Schwerpunkttechnologien abzielende Industriepolitik entwickelt. Sie hat beginnend in Japan zu einem rapiden Aufholprozess, hohen Forschungsquoten und Marktanteilsgewinnen etwa in der Autoindustrie geführt. Auch die Erfolge in (Süd-)Korea, Taiwan, Philippinen, Singapur sind auf eine Kombination staatlicher Planung, niedriger Wechselkurse und gezieltem Protektionismus aufgebaut. China hat dann über zentrale Planung, kombiniert mit Marktkräften und Technologieimporten unter staatlicher Kontrolle und mit Sonderwirtschaftszonen den Sprung zurück zur größten Industrienation geschafft und plant in „China 2025“ in mehreren Sparten die Technologieführung, die es bei Solarzellen, Batterien und kleinen Elektroautos schon hat. Es entwickelt mit einem hohen Exportüberschuss eine Finanzkraft, die heute zu internationalen Investitionen und dem Bau von Seidenstraßen (one belt, one road) genutzt wird.

Renaissance der Industriepolitik

Europa konnte bis in die 1990er Jahre den technologischen Rückstand zu den USA deutlich verringern. Mit dem Vordringen der Informations- und Biotechnologie ist der Aufholprozess in der Produktivität in den 1990er Jahren zum Erliegen gekommen. Das Wachstum ist gering, die Arbeitslosigkeit ist gestiegen. Die Befürchtung, dass der Industrieanteil „zu früh“ zurückgeht – bevor technologieintensive Dienstleistungen seine Rolle eingenommen haben –, hat das Interesse an Industriepolitik wiedergeweckt. Globalisierung und hohe Leistungsbilanzdefizite von Griechenland, Italien, aber auch Frankreich und Großbritannien sind ein zweiter Grund für die Renaissance der Industriepolitik in Europa. Zudem hat die Finanzkrise gezeigt, dass Länder mit gleichzeitigem Budget- und Leistungsbilanzdefizit besonders krisenanfällig waren. Die neuesten technologischen Entwicklungen (Roboter, Industrie 4.0) können als vierte Ursache der Renaissance der Industriepolitik genannt werden.

Der wirtschaftlichen Schwäche Europas sollte durch die Lissabon-Strategie begegnet werden, in der das Ziel gesetzt wurde, Europa zur wettbewerbsstärksten Region zu machen. Ein zentraler „horizontaler“ Ansatz war es, die Forschungsquote auf 3 % der Wirtsschaftsleistung zu heben. Nachdem dieses Ziel nicht erreicht wurde, wurde die Lissabon-Strategie durch die etwas differenziertere, aber noch immer primär horizontale „Strategie Europa 2020“ ersetzt, die mehrere Ziele nennt und den Ländern erlaubt, ihre nationalen Zielwerte zu definieren.

In der enger gefassten Industriepolitik wurde der weiterhin primär horizontale Ansatz durch eine sektorale Dimension ergänzt, wobei diese nach Branchengruppen (Nahrungsmittel, Maschinen- und Systemindustrien) unterschiedlich3 sein sollten. Die Kombination horizontaler und sektoraler Maßnahmen wurde von Aiginger und Sieber als „matrixorientierte“ Industriepolitik bezeichnet,4 weil sie in einer Matrix mit Zeilen und Spalten (Sektoren und Maßnahmen) dargestellt werden konnte.

Der höhere Stellenwert der Umweltziele schlug sich zunächst in einer industriepolitischen „Kommunikation“5 nieder, in der die „Nachhaltigkeit“ an die Spitze der Industriepolitik gestellt wurde. Diese Priorität wurde dann wieder6 unter dem Einfluss deutscher und italienischer Industrie-Kommissare zu einem kraftlosen Nebeneinander von undefinierter (aber kostenmäßig verstandener) Wettbewerbsfähigkeit und anderen Zielen. Core Technologies wurden definiert, in denen es besondere Anstrengungen und Programme geben sollte. Für den Industrieanteil wurde ein Zielwert von 20 % an der Wirtschaftsleistung gesetzt.7

Tabelle 1
Definition einer „neuen Industriepolitik“
Alte Industriepolitik Neue Industriepolitik
Steuererleichterung für energieintensive Unternehmen Technologieorientierung/ Dienstleistungskomponente
Unterstützung nationaler Großbetriebe (Champions) Nachhaltigkeit und gesellschaftliche Ziele
Bedeutung niedriger Löhne, Kosten Innovation, Skills, erneuerbare und effiziente Energie
Subventionen (für große, alte Unternehmen) Unterstützung von Marktkräften, Konkurrenz
Planungsoptimismus Entdeckungsprozess
Rahmenbedingungen oder Sektoren Spillovers, Informations- austausch, Dialog
Isolierte Teilstrategien (regional, Umwelt etc.) Systemischer Ansatz, Vision, Nachhaltigkeit
→ Rückgang des industriellen Sektors in Griechenland und Großbritannien um 10 % → Industrie plus qualitäts- verbessernde Dienstleistungen und Umwelttechnologie eröffnen neue Märkte
Neudefinition: Industriepolitik ist die Summe der Maßnahmen, die eine High-Road Competitiveness (Qualitätsstrategie) der Industrie forcieren.

Quelle: K. Aiginger: Industriepolitik als Motor einer Qualitätsstrategie mit gesellschaftlicher Perspektive, in: WSI Mitteilungen, 68. Jg. (2015), H. 7, S. 507-515.

In den USA wird seit 2000 als Reaktion auf das Handelsbilanzdefizit (auch bei technologieintensiven Produkten) versucht, Unternehmen „zurück nach Amerika zu bringen“. Auf analytischer Ebene wurde als Fehler erkannt, dass Unternehmen die Produktivität ihrer neuen Technologien schon in der ersten Innovationsphase (die auf die Erfindung folgt) ins Ausland verlagern. Da die Rückkehr von Unternehmen begrenzt blieb,8 entstanden „vergessene Regionen“ (Rust Belt), die für populistische Forderungen offen sind. Donald Trump versprach, fossile Energien wieder billiger zu machen, Industrie vor Importen unter anderem aus China und Mexiko zu schützen. Abkommen wurden gekündigt oder neu verhandelt. Der Exporterfolg Chinas wurde zur Rückkehr einer überwunden geglaubten interventionistischen Industriepolitik genutzt.

Neukonzeption auf theoretischer Ebene

Die theoretische Literatur hat sich längst über die Kontroverse zwischen rein sektoralem und „nur“ horizontalem Ansatz hinausentwickelt. Es herrscht weitgehend Konsens, dass eine neue Industriepolitik anders sein muss als die traditionelle. Erstens soll sie systemisch statt isoliert sein,9 zweitens ein Entdeckungsprozess, der den strukturellen und technologischen Wandel begünstigt,10 und drittens soll sie sich vorweg an gesellschaftlichen Prioritäten orientieren, statt teure Korrekturen zu erfordern, nachdem eine ideologisch „saubere“ Industriepolitik durchgesetzt wurde.11 Wir fassen diese Veränderung in drei Etappen (vgl. auch Tabelle 1):

  1. Systemisch statt isoliert: Industriepolitik hat historisch immer im Konflikt mit anderen Politiksparten gestanden, sie wurde oft sogar im klassischen Gegensatz zur Wettbewerbspolitik definiert. Der Ansatz der Systemischen Industriepolitik löst dieses Spannungsverhältnis einerseits durch Definition gemeinsamer Ziele aller Politiksparten (pulling forces) – wie z. B. „Wohlfahrt“ – und andererseits durch Erkennen der genauen Ursachen – wie z. B. Globalisierung (pushing forces). Eine erfolgreiche Industriepolitik muss im Zusammenspiel mit anderen Politiksparten (von Handelspolitik bis Innovationspolitik) gestaltet werden und in Industrieländern ist sie von der Innovationspolitik nicht zu trennen.
  2. Wettbewerb und Kooperation im „Entdeckungsprozess“: Industriepolitik soll als Entdeckungsprozess verstanden werden. Regierungen und Privatsektor sollen kooperieren und positive Spillovers zwischen den Unternehmen stärken. Die Regierung soll mit unabhängigen Fachleuten an dem Prozess beteiligt sein, aber vorweg einplanen, dass Unternehmen Informationen überbetonen, die ihren Interessen dienen (embedded but not captured). In der sektoralen Komponente sollen breite Aktivitäten und Sektoren in den Mittelpunkt gestellt werden, nie einzelne Unternehmen. Sie soll neue Aktivitäten forcieren, nicht Unternehmen am Verlassen von Märkten hindern. Sie soll Lock-in-Situationen in alten Technologien beseitigen (Pfadabhängigkeit).
  3. Gesellschaftliche Ziele vorweg einbinden: Industriepolitik soll nur eingreifen, wenn langfristige gesellschaftliche Interessen vorliegen. Das erfordert eine Definition der Ziele einer Gesellschaft, wie sie in den Beyond-GDP-Zielen, dem Drei-Säulen-Ansatz von Welfare, Wealth and Work12 oder den UN-Sustainable Development Goals vorliegen.

Neue Definitionen und Politikansätze

Rückfälle in alte Muster lassen sich nur verhindern, wenn die Begriffe Wettbewerbsfähigkeit und Strukturpolitik neu definiert werden. In Industriepolitik muss mit Konzepten einer verantwortlichen Globalisierung, einer befähigenden Sozialpolitik, und der Eingrenzung des Klimawandels durch eine Umlenkung des technischen Fortschrittes verzahnt sein:

  • Wettbewerbsfähigkeit wurde lange als preisliche Wettbewerbsfähigkeit definiert, die primär durch Kostensenkungen erreichbar ist. Selbst auf Unternehmenebene werden aber Wettbewerbsvorteile durch Qualifikation, Innovation und eine anspruchsvolle Umwelt definiert. Daher sollte Wettbewerbsfähigkeit als „Fähigkeit einer Region definiert werden gesellschaftliche Ziele zu erreichen“13. Dies ist für wohlhabende Länder nur in einer High-Road-Strategie möglich, nicht durch billige Inputs. Damit sollte dem Rückfall in eine Überbetonung von Kostensenkungen, wie sie in der deutschen Diskussion immer wieder erfolgen, ein Riegel vorgeschoben werden.
  • Strukturpolitik wurde oft mit der Empfehlung verbunden, Regulierungen zu lockern, und Löhne auch im niedrigsten Segment abzusenken (Strukturpolitik 1.0). EU-Kommissar Pierre Moskovici definierte Strukturpolitik 2.0 als die Erhöhung der Arbeitsproduktivität durch Investitionen, Ausbildung, Training, Forschung und Qualität des öffentlichen Sektors.14 Peneder macht die Förderung des strukturellen Wandels zum Kern einer neuen Strukturpolitik.15 Beides hätte in einem Gutachten, das strukturelle Eingriffe ablehnt, eine Erwähnung verdient.
  • Verantwortliche Globalisierung16 darf nicht Standards nach unten angleichen, sondern die Anhebung der sozialen und ökologischen Standards verlangen.
  • Investive Sozialpolitik17 verringert Ungleichheit und Arbeitslosigkeit nicht durch noch höhere Ex-post-Zahlungen und Protektionismus, sondern durch „capabilities“, die Wirtschaftssubjekte, die vom Wandel betroffen sind, befähigt auf die Gewinnseite zu wechseln (empowerment).
  • Umlenkung des technischen Fortschritts: Produktivitätssteigerung darf nicht primär durch höhere Arbeitsproduktivität erreicht werden, sondern durch Forcierung der Ressourcen- und Energieproduktivität, wenn die Arbeitslosigkeit schon hoch ist. Das mag dirigistisch klingen, weil es Informationen benötigen könnte, die der Staat nicht hat. Aber der Klimawandel ist nunmehr wissenschaftlich unbestritten, die Ziele des Pariser Abkommens sind unterschrieben. Ob sie besser durch das Elektroauto oder durch Wasserstoffantriebe erreicht werden, ist unklar, aber mit Benzin- und Diesel-Antrieb sind sie sicher nicht zu erreichen. Und die derzeitige Richtung des technischen Fortschritts ist nicht „naturgegeben“, sondern durch die hohen Abgaben auf Arbeit bei gleichzeitig gering besteuerten Emissionen bedingt. Hier wird im Gutachten zwar von einer Emissionssteuer gesprochen, aber nur in einem Nebensatz, dem sofort der Hinweis folgt, dass es keine ergänzenden Fahrverbote geben soll.

Zusammenfassung

Industriepolitik ist ein altes Konzept, das unterschiedlich definiert und angewandt wurde. Empirische Evaluierungen zeigen einen mäßigen Erfolg. Vertikale Politik hat oft den Strukturwandel behindert, horizontale Politik war in den letzten zwei Jahrzehnten nicht imstande, die Forschungsanstrengungen Europas zu heben. Das Steuersystem belastet den Faktor Arbeit. Emissionen, Erbschaften und Vermögen sind gering oder gar nicht besteuert. Die Emissionen steigen entgegen den Zielen von Paris. Europa ist kein Vorreiter in der Dekarbonisierung, Subventionen für fossile Energien sind höher als für erneuerbare, Atomkraftwerke dürfen subventioniert werden, auch wenn die Endlagerung nicht geklärt ist. Kohle darf bis nahe zu dem Zeitpunkt subventioniert werden, für den eine Reduktion der Emissionen um 80 % versprochen wurde. Agrarsubventionen für Großbetriebe sind die wichtigste Ausgabe im EU-Finanzrahmen. Der Staat greift oft in der falschen Richtung ein, die Befürworter der reinen Lehre im Gutachten des Sachverständigenrats kritisieren das nicht, sondern betonen – zu Recht –, dass Interventionen oft zu „kleinteilig“ sind.

Die aktuellen weltwirtschaftlichen, gesellschaftlichen und technologischen Entwicklungen erfordern einen systemischen Ansatz, auch weil die Abgaben und die Staatsquote schon fast 50 % betragen. Industriepolitik muss stärker mit anderen Politiken vernetzt werden, um Synergien zu nutzen und Kosten der doppelten Intervention zu vermeiden. Dann kann sie vergangene Fehler der „kleinteiligen“ Interventionen, aber auch leere Versprechungen vermeiden, indem externe Effekte internalisiert und Pfad­abhängigkeiten beseitigt werden. Eine an gesellschaftlichen Zielen orientierte Industriepolitik trägt zu höheren Einkommen, sozialer Gleichheit (zwischen Personen und Regionen) und der Eingrenzung des Klimawandels bei.

* Der Autor dankt Susanne Bärenthaler-Sieber, Michael Böheim, Klaus Friesenbichler, Michael Peneder, Andreas Reinstaller und Gunther Tichy für Kritik und Dagmar Guttmann und Irene Langer für wissenschaftliche Assistenz.

  • 1 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Vor wichtigen wirtschaftspolitischen Weichenstellungen, Jahresgutachten 2018/19, Wiesbaden 2018.
  • 2 In der internationalen Diskussion über Industriepolitik ist zu beachten, dass die Bezeichnung „industries“ im anglo-sächsischen Sprachgebrauch für alle Sektoren verwendet wird, d. h. neben der „Verarbeitenden Industrie“ (englisch „manufacturing“) jedenfalls auch Bergbau und Energie, aber auch alle Dienstleistungssektoren, einbezieht.
  • 3 Beispiele sind Regulierungsreformen, Standardisierungen und verstärkte Zusammenarbeit.
  • 4 K. Aiginger, S. Sieber: The Matrix Approach to Industrial Policy, in: International Review of Applied Economics, 20. Jg. (2006), H. 5, S. 573-603.
  • 5 European Commission: An Integrated Industrial Policy for the Globalisation Era Putting Competitiveness and Sustainability at Centre Stage, COM(2010), 614, Brüssel 2010.
  • 6 European Commission: A Stronger European Industry for Growth and Economic Recovery, Industrial Policy Communication Update, COM(2012) 582 final, Brüssel 2012; European Commission: For a European Industrial Renaissance, COM(2014) 14, Brüssel 2014.
  • 7 Kritik daran bei M. Peneder: Competitiveness and Industrial Policy: From Rationalities of Failure Towards the Ability to Evolve, in: Cambridge Journal of Economics, 41. Jg. (2017), H. 3 , S. 829-858.
  • 8 Wie die Tochtergründung des chinesischen Konzerns Lenovo in den USA.
  • 9 K. Aiginger: Die Globalisierung verantwortungsbewusst und europäisch gestalten, Policy Crossover Center: Vienna – Europe, Policy Brief, Nr. 2/2017.
  • 10 P. Aghion, J. Boulanger, E. Cohen: Rethinking Industrial Policy, Bruegel Policy Brief, Nr. 04, Brüssel 2014; M. Peneder, a. a. O.
  • 11 P. Aghion et al., a. a. O.; D. Rodrik: Industrial policy for the twenty-first century, Paper prepared for UNIDO, 2004, http://www.hks.harvard.edu/fs/drodrik/Research%20papers/UNIDOSep.pdf; K. Aiginger: Die Globalisierung verantwortungsbewusst ..., a. a. O.
  • 12 K. Aiginger: New Dynamics for Europe: Reaping the Benefits of Socio-ecological Transition, WWWforEurope Executive Synthesis Report, WIFO, Wien 2016, http://www.wifo.ac.at/wwa/pubid/58737 (8.2.2019).
  • 13 K. Aiginger, S. Bärenthaler-Sieber, J. Vogel: Competitiveness under New Perspectives, WWWforEurope Working Paper, Nr. 44, 2013.
  • 14 European Commission: Fostering Investment and Productivity for Inclusive Growth, Structural Reforms 2.0, Background Note for the EFTA-ECOFIN meeting on 7.11.2017, Brüssel.
  • 15 M. Peneder, a. a. O.
  • 16 D. Rodrik, a. a. O.; K. Aiginger, H. Handler: Europe taking the lead in responsible globalization, Policy Crossover Center, Economics Discussion Paper, 2017.
  • 17 T. Leoni: Welfare State Adjustment to New Social Risks in the Post-crisis Scenario. A Review with Focus on the Social Investment Perspective, WWWforEurope Working Paper, Nr. 89, 2015, http://www.wifo.ac.at/wwa/pubid/57899 (8.2.2019).

Title:Industrial Policy – Inefficient State Intervention or Forward-looking Option?

Abstract:Digitalisation, the energy revolution and China’s transformation into an important competitor all pose major challenges to economic policy. Politicians are responding by considering creating “European champions” or intervening in the economy. Many economists consider a horizontal industrial policy without specific support for individual sectors to be the right one. Direct intervention, however, may not only lead to a technological impasse, but could also deter competition. But it is indispensable in an economy dominated by network effects and path dependencies, especially because investments are associated with great uncertainty about the future and high risks. Industrial policy should ultimately focus on the goal of achieving greater welfare and sustainability for society as a whole.

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DOI: 10.1007/s10273-019-2402-3

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