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Seit 2005 ist Hartz IV in Kraft. Das Gesetz hat Leistungen der Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe zusammengeführt. Seit seinem Inkrafttreten ist die Arbeitslosigkeit deutlich zurückgegangen. Ob dies nun vor allem an der Hartz-IV-Reform lag oder ob andere Ursachen für die positive Entwicklung verantwortlich waren, ist umstritten. Allerdings ist seither die Zahl der Hilfebedürftigen insgesamt kaum gesunken und die Erwerbsarmut (working poor) hat sich seit 2004 deutlich erhöht. Diese Entwicklung legt nahe, dass die Leistungen des Sozialgesetzbuchs II (SGB II) zum Teil nicht dem ursprünglich angestrebten Personenkreis zugutekommen und dass einige Anrechnungen und Sanktionen bei verschiedenen Gruppen von Betroffenen nicht immer verhältnismäßig und anreizkompatibel waren, etwa mit Blick auf die erwerbstätigen Leistungsberechtigten. Deshalb werden verschiedene Änderungen vorgeschlagen: das Vermögen sollte nach weniger strengen Kriterien und Hinzuverdienste sollten zu einem geringeren Prozentsatz angerechnet werden, die Erwerbsbiographie sollte berücksichtigt und damit vorher langjährig Beschäftigte bevorzugt werden, Alternativen zum SGB II sollten gestärkt werden, etwa durch die Erhöhung des steuerlichen Grundfreibetrags und eine bessere Abstimmung mit dem gesamten Steuer-Transfersystem.

Kontroverse um Hartz IV: Erwerbsarbeit muss im Fokus bleiben

Die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zur Grundsicherung (Hartz IV) zählt zweifellos zu den großen Reformen des hiesigen Sozialstaats und ist seit fast eineinhalb Dekaden in Kraft. Angesichts anhaltender politischer Kontroversen und zuletzt weitreichender Reformvorschläge ist es geboten, das System auf den Prüfstand zu stellen. Hierzu sind zunächst Stärken und Schwächen des Grundsicherungssystems zu identifizieren. Vor diesem Hintergrund können dann Reichweite und Grenzen der momentan kursierenden Reformvorschläge diskutiert werden.

Fördern und Fordern als Leitgedanke

Die Grundsicherung für Erwerbsfähige bietet Leistungen für Menschen in einer finanziellen Notsituation, die weder über ein existenzsicherndes Einkommen noch über ein abschöpfbares Vermögen verfügen. Sie dient der Sicherung des Lebensunterhalts und zielt gleichzeitig auf eine Überwindung ihrer Hilfebedürftigkeit. Je nach Größe der Bedarfsgemeinschaft erhalten erwerbsfähige Hilfebedürftige eine pauschalierte, am soziokulturellen Existenzminimum orientierte Regelleistung sowie notwendige Mittel für Kosten der Unterkunft. Der Leitgedanke des für das Regelwerk maßgeblichen Sozialgesetzbuchs II (SGB II) ist, dass sich gesellschaftliche Teilhabe am besten über eine Integration in das Erwerbsleben erreichen lässt. Neben der Förderung setzt das Gesetz explizit auf Eigenverantwortung. Das SGB II realisiert damit eine aktivierende Arbeitsmarktpolitik, also ein Fördern und Fordern der Hilfebedürftigen. Grundlage hierfür sind umfassende Vermittlungs- und Beratungsangebote. Die arbeitsmarktpolitischen Instrumente zur Wiedereingliederung finden sich zum überwiegenden Teil auch in der Arbeitslosenversicherung, wie z. B. die Förderung der beruflichen Weiterbildung oder auch Eingliederungszuschüsse. Zusätzlich kommen öffentlich geförderte Beschäftigung, wie z. B. Arbeitsgelegenheiten, sowie sozialintegrative Leistungen, etwa die Schuldnerberatung, zum Einsatz. Für erwerbsfähige und leistungsberechtigte Personen ist im Grunde jede Arbeit zumutbar. Zudem unterliegen Hilfebedürftige Mitwirkungspflichten, wie z. B. die Teilnahme an Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik. Ausnahmen davon gelten nur für den Fall, dass wichtige Gründe, wie etwa Betreuungsaufgaben, dem entgegenstehen.

Stärken der Grundsicherung

Die Hartz-IV-Reform hat nach den vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnissen einen substanziellen Beitrag zum anhaltenden Arbeitsmarktboom geleistet.1 Bedeutende Wirkungskanäle hierfür sind eine höhere Suchintensität, mehr Zugeständnisse bei der Arbeitsplatzsuche und eine gestiegene Einstellungsbereitschaft der Betriebe. Die Grundsicherung schafft mit ihren Leistungen einen verlässlichen Rahmen für erwerbsfähige Menschen in einer materiellen Notsituation. Mit der Einführung von Hartz IV sind zudem die verschiedenen Problemlagen am Arbeitsmarkt sichtbarer geworden. Oft fehlt es Leistungsbeziehern nicht nur an einem Arbeitsplatz, sondern weitere Faktoren wie gesundheitliche Probleme, Schulden, Wohnungsprobleme, Kinderbetreuung und Pflege können ihre Arbeitsmarktchancen einschränken. Als Hochrisikogruppe hat sich der Personenkreis herauskristallisiert, der multiple Hemmnisse aufweist und deshalb nur sehr geringe Chancen zur Aufnahme einer regulären Beschäftigung hat.2

Evaluationsstudien belegen, dass die im SGB II eingesetzten Maßnahmen positive Wirkungen nach sich ziehen. Teilnehmer an Maßnahmen weisen in aller Regel höhere Beschäftigungschancen auf als eine vergleichbare Gruppe von Nicht-Teilnehmern. Gerade für die Gruppe der Langzeitarbeitslosen ergeben sich für viele der eingesetzten Maßnahmen positive Eingliederungseffekte.3 Richtung und Stärke der Effekte entspricht in etwa den Evaluationsergebnissen für Maßnahmen in der Arbeitslosenversicherung. Betriebsnahe Maßnahmen weisen die höchsten Eingliederungseffekte auf. Keine oder allenfalls schwache Wirkungen zeigen sich bei den Arbeitsgelegenheiten und damit für das Instrument, das allein im SGB II zum Einsatz kommt.

Schwächen der Grundsicherung

Im SGB II gibt es trotz aller Fortschritte am Arbeitsmarkt noch immer eine beträchtliche Zahl von Personen mit relativ geringen Chancen auf eine ungeförderte und gleichermaßen existenzsichernde Beschäftigung.4 Dieser Personenkreis wurde zuletzt durch die Verabschiedung des Teilhabechancengesetzes stärker bedacht: Nach §16i SGB II können Personen, die in den letzten sieben Jahren mindestens sechs Jahre Leistungen nach dem SGB II bezogen haben, durch einen bis zu fünfjährigen Lohnkostenzuschuss von bis zu 100 % gefördert werden. Die Zielgruppe von Personen mit sehr langem Leistungsbezug ist nach den Erkenntnissen der Forschung so definiert, dass Einsperr- und Verdrängungseffekte, mit denen andernfalls zu rechnen wäre, eher unwahrscheinlich sind. Unter Teilhabegesichtspunkten sinnvoll sind auch die im Gesetz vorgesehene Förderung regulärer Arbeitsverhältnisse, die vorgesehene beschäftigungsbegleitende Betreuung durch einen Coach sowie Weiterbildungsmöglichkeiten und betriebliche Praktika.5

Im Gegensatz zu den relativ hohen Anreizen für Grundsicherungsempfänger, in den Arbeitsmarkt einzutreten, sind die Anreize zur Ausweitung einer Beschäftigung, etwa im Sinne einer längeren Arbeitszeit, weit weniger gut ausgeprägt. Hohe Transferentzugsraten bei zusätzlich erzieltem Einkommen führen im Status quo zu einer vergleichsweise starken Anrechnung. Zudem ist das Zusammenspiel von Grundsicherung, Wohn- und Kindergeld suboptimal, was für Betroffene im Falle von Mehrverdienst sogar mit Nettoeinkommensverlusten einhergehen kann.6

Oftmals wird die Grundsicherungsreform für (zunehmende) Ungleichheiten in der Beschäftigung verantwortlich gemacht. Dieser Zusammenhang ist fraglich, weil der Aufwuchs atypischer Erwerbsformen oder auch die wachsende Niedriglohnbeschäftigung bereits weit vor der Hartz-IV-Reform einsetzten und zudem seit Anfang der laufenden Dekade an Fahrt verloren bzw. ganz zum Stillstand kamen.7 Allerdings stellt sich ausgehend davon die berechtigte Frage, ob in der Grundsicherung die Förderung der Aufwärtsmobilität von Beschäftigten in Richtung höherer Stundenverdienste, längerer Arbeitszeiten oder auch stabilerer Erwerbsbiografie ausreicht.

Vor diesem Hintergrund ist festzustellen, dass das Verhältnis des Förderns und Forderns in der Grundsicherung in der Öffentlichkeit oftmals kritisch wahrgenommen wird. Unabhängig von den Effekten der Aktivierung im Einzelfall zeigt die Entwicklung von 2012 bis 2017, dass bei einer nahezu unveränderten Zahl von Leistungsempfängern und Sanktionierten die Zugänge in Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik im SGB II von 2,69 Mio. auf 2,15 Mio. um rund ein Fünftel zurückging. Noch stärker fiel der Rückgang der Förderung der beruflichen Weiterbildung mit einem knappen Drittel aus.

Hartz IV ist eine bedürftigkeitsorientierte Leistung, bei der die vorherige Erwerbsbiografie von Menschen ausgeblendet wird. Für die Höhe der Leistung ist es gleichgültig, ob Transferempfänger jemals gearbeitet haben oder über längere Zeiträume beruflich tätig waren. Maßgeblich ist alleine die Frage, ob zum Zeitpunkt der Inanspruchnahme eine Bedürftigkeit vorliegt. Forschungsbefunde deuten auf ungünstige Anreizwirkungen, wenn voher beruflich Tätige besser gestellt werden. Längere Leistungszahlungen, wie beispielsweise die von der SPD und DIE LINKE geforderte Ausweitung des Arbeitslosengelds für Ältere, verlängern tendenziell auch die Arbeitslosigkeit. Wesentliche Gründe hierfür sind, dass Suchintensität und Konzessionsbereitschaft der Arbeitsuchenden abnehmen. Eine noch längere Suche sorgt nicht – mehr – für einen besseren „Match“, sondern erhöht das Risiko einer Humankapitalentwertung und einer Verringerung der Beschäftigungsfähigkeit.8

Mit Blick auf die Besserstellung langjährig Berufstätiger stellt sich auch die Frage nach der Angemessenheit des sogenannten „Schonvermögens“, also des Vermögens, dass für den Bezug der Grundsicherung als unschädlich zu betrachten ist. Bei einer Anhebung des „Schonvermögens“ oder auch im Falle großzügigerer Regelungen zur „Angemessenheit der Wohnung“ in Phasen des frühen Leistungsbezugs wären nennenswerte negativen Arbeitsmarkteffekte unwahrscheinlich. Doch auch an dieser Stelle ist eine sorgfältige Güterabwägung geboten, denn verbesserte Regelungen zum Schonvermögen schaffen zwar durchaus erwünschte Anreize in Richtung einer individuellen Vorsorge, widersprechen aber im Falle einer akuten Hilfebedürftigkeit zunehmend dem Gebot der sozialen Gleichbehandlung.

Berechtigung und Grenzen von Sanktionen in der Grundsicherung

Forschungsergebnisse zu den Sanktionen im SGB II belegen, dass diese den Abgang aus Arbeitslosigkeit in Beschäftigung beschleunigen.9 Gleichzeitig können Sanktionen der Evidenz zufolge aber auch zum Rückzug vom Arbeitsmarkt beitragen und die materielle Lebenssituation der Sanktionierten massiv beeinträchtigen. Die Kritik an der Grundsicherung macht sich zumeist an der Intensität des Forderns fest. Dabei reichen die Vorschläge von moderaten Veränderungen der Sanktionspraxis (z. B. SPD und FDP), über eine sanktionsfreie Grundsicherung10 bis hin zu einem bedingungslosen Grundeinkommen (z. B. Bündnis 90/Die Grünen und DIE LINKE). Auf Sanktionsfreiheit zielende Ansätze unterscheiden sich in wesentlichen Grundprämissen vom Status quo. Die Befürworter sehen durch ein „laissez faire“ im Sozialstaat mehr Chancen, durch Freiräume und intrinsische Motivation individuelle Initiative anzuregen. Die Kritiker wollen dagegen gängige Arbeits- und Sozialnormen wahren und an der „fürsorglichen Belagerung“ von Personen in finanzieller Not festhalten.

Wie die Sanktionsforschung belegt, würden durch den Wegfall bestehender Mitwirkungsanforderungen in der Grundsicherung nachhaltig Arbeitsanreize verloren gehen. Darüber hinaus wären mittel- und längerfristig auch Bildungsanreize gefährdet und dies vermutlich gerade bei den Personen, die sich in aller Regel selbst nicht gut helfen können. Grundeinkommensansätze, die ohne Sanktionen auskommen wollen, sind jedoch mit weiteren Problemen behaftet. Sie implizieren ein Verständnis des Staats als „Kümmerer in allen Lebenslagen“. Zudem ist mit Trittbrettfahrerverhalten und einer damit verbundenen Übernutzung des Sozialsystems zu rechnen. Im Ergebnis laufen die fiskalischen Konsequenzen von Grundeinkommensansätzen auf eine stärkere Alimentierung Nicht-Erwerbstätiger zulasten der aktiven Bevölkerung hinaus.

Die schwerwiegenden Einwände gegenüber sanktionsfreien Grundeinkommensansätzen sind aber auch nicht als „Freibrief“ für die geltenden Sanktionsbestimmungen zu sehen. Zu scharfe Sanktionen, wie etwa die nach mehreren Pflichtverletzungen möglichen „Totalsanktionen“, beeinträchtigen nicht nur in massiver Weise die materiellen Lebensbedingungen für die Sanktionierten. Durch die erst dadurch herbeigeführte besondere Notsituation gefährden Totalsanktionen die Möglichkeiten einer Mitwirkung der Betroffenen an ihrer Arbeitsmarktintegration.

Anrechnung von Erwerbseinkommen auf den Transferbezug

Anrechnungsregelungen von Erwerbseinkommen bei gleichzeitigem Bezug bedürftigkeitsorientierter Leistungen können unterschiedliche Ziele verfolgen. Zum einen kann man mit solchen Regelungen einen leichten Zugang in den Arbeitsmarkt für besonders schwer vermittelbare Personen anstreben, zum anderen auf Anreize zu einer Ausweitung von Stundenverdiensten und Arbeitszeit und eine damit möglichst schnelle Beendigung der Hilfebedürftigkeit setzen. Technisch geht es um die Frage nach der Höhe eines anrechnungsfreien Grundbetrags (im gegenwärtigen System: 100 Euro) und um die sogenannte „Transferentzugsrate“ für jeden weiteren hinzuverdienten Euro. Letztere macht je nach Fallkonstellation mindestens 80 % aus und liegt damit deutlich oberhalb üblicher Grenzbelastungen im Steuer- und Transfersystem, wie etwa dem Spitzensteuersatz im Einkommensteuertarif.

Bei Reformvorschlägen, wie z. B. denen von Bündnis 90/Die Grünen und FDP, geht es aber nicht allein um großzügigere Anrechnungsregelungen im Falle von Mehrverdienst. Darüberhinaus streben diese Ansätze eine partielle Neuordnung des Niedrigeinkommensbereichs an. Dies ist im Grunde ein weites Feld, denn generell sind vielfältige Interaktionen zwischen Grundsicherung, Wohngeld, Kindergeld, Sozialversicherung und Steuerrecht zu bedenken. Solche Ansätze stehen vor der Herausforderung, sowohl Einkommensungleichheiten zu begrenzen und möglichst kräftige Anreize zu einer Ausweitung von Beschäftigung zu generieren. Entsprechende Reformen müssen aber immer auch die damit verbundenen fiskalischen Kosten ins Blickfeld nehmen. Der etwa vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung zuletzt ins Spiel gebrachte Erwerbszuschuss, der in Verbindung mit geringeren Transferentzugsraten das Wohn- und Kindergeld wie auch die Aktivierung der Begünstigten obsolet machen würde, läge mit Zusatzkosten von 2 Mrd. bis 3 Mrd. Euro jedoch im Rahmen fiskalpolitischer Möglichkeiten.11

Zusätzliche Ansatzpunkte zur Weiterentwicklung

Verbesserungen im System der Grundsicherung wären darüber hinaus durch weitere, weniger im Fokus der öffentlichen Diskussion stehende Maßnahmen zu erreichen. Zunächst wird es darauf ankommen, präventive Ansätze zur Vermeidung des Grundsicherungsbezugs zu intensivieren. Ansatzpunkte hierfür sind Bildung, Aus- und Weiterbildung auf der einen Seite sowie gesundheitliche Vorsorge auf der anderen Seite. Bildungsarmut kann am besten im frühkindlichen Bereich vermieden werden, wodurch ein etwaiger Nachschub an wenig wettbewerbsfähigen Personen erst gar nicht entstehen würde.12 Prävention endet aber nicht in Schule und Ausbildung. Körperlich und mental stark belastende Tätigkeiten dürfen angesichts einer stetigen Verlängerung des Erwerbslebens nicht zu lange ausgeübt werden, wobei hier die fortschreitende Digitalisierung helfen kann.13

Darüber hinaus geht es auch um eine stärkere Förderung von Aufwärtsmobilität.14 Dies beginnt mit der sozialen Stabilisierung, etwa durch eine öffentlich geförderte Beschäftigung, und setzt sich mit einem intensiven Fallmanagement fort. Besonderes Augenmerk muss aber auch der Nachbetreuung von bereits integrierten Personen gelten. Zu denken ist dabei insbesondere an das Nachholen einer Vollqualifizierung, berufsbegleitende Formen der Teilqualifizierung sowie die gezielte Unterstützung von Betriebs- und Tätigkeitswechseln einerseits und räumlicher Mobilität andererseits. Der Vorteil von Aufwärtsmobilität liegt in deren doppelter Rendite. Zum einen profitieren Personen, die durch eine qualitativ hochwertigere Beschäftigung besser und womöglich nachhaltiger in den ersten Arbeitsmarkt integriert wären. Zum anderen würden genau diese Personen Einstiegspositionen frei machen. Andere vormals nicht beschäftigte Personen mit weniger guten Voraussetzungen für eine Beschäftigung könnten dann nachrücken (Schornsteineffekt).

Ein weiterer Schlüssel zur Verbesserung der Lebenssituation von Grundsicherungsempfängern und anderen Menschen im unteren Einkommensbereich ist eine spürbare Ausweitung der sozialen Grundversorgung der Bevölkerung. Solche geldwerten Sachleistungen schließen bezahlbaren Wohnraum, ein gutes und kostengünstiges Angebot an öffentlichem Nahverkehr sowie Betreuungseinrichtungen für Kinder und Pflegebedürftige sowie Vergünstigungen für kulturelle und sportliche Veranstaltungen ein.15

Fazit: Hartz IV – Reformansätze

Der Beitrag hat gezeigt, dass es zwar Handlungsbedarfe in der Grundsicherung gibt, aber keine Gründe für einen „Neuanfang“. Das SGB II steht vor der ständigen Herausforderung, einerseits die sozialen Lebensbedingungen der Hilfebedürftigen würdevoll auszugestalten und andererseits hinreichende Arbeitsanreize zu schaffen. Möglichkeiten der Weiterentwicklung liegen in einer angemesseneren Definition des Schonvermögens, einer großzügigeren Anrechnung zusätzlichen Erwerbseinkommens, einem systematischen Ausbau erwerbsorientierter Transfers, der Abschaffung von Totalsanktionen, der Etablierung eines sozialen Arbeitsmarktes, mehr sozialer Prävention und Grundversorgung und der Förderung von Aufwärtsmobilität. Entsprechende Schritte würden dazu beitragen, die positiven Wirkungen der Grundsicherung am Arbeitsmarkt aufrechtzuerhalten und gleichzeitig den sozialen Ausgleich zu verbessern.

  • 1 S. Klinger, T. Rothe, E. Weber: Makroökonomische Perspektive auf die Hartz-Reformen: Die Vorteile überwiegen, IAB-Kurzbericht, Nr. 11, Nürnberg 2013; B. Hochmuth, B. Kohlbrecher, C. Merkl, H. Gartner: Hartz IV and the Decline of German Unemployment: A Macroeconomic Evaluation, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Institute for Employment Research, Nürnberg 2018.
  • 2 J. Beste, M. Trappmann: Erwerbsbedingte Abgänge aus der Grundsicherung: Der Abbau von Hemmnissen macht‘s möglich, IAB-Kurzbericht, Nr. 21, Nürnberg 2016.
  • 3 K. Bruckmeier, T. Lietzmann, T. Rothe, A.-T. Saile: Grundsicherung für Arbeitsuchende nach SGB II: Langer Leistungsbezug ist nicht gleich Langzeitarbeitslosigkeit, IAB-Kurzbericht, Nr. 20, Nürnberg 2015.
  • 4 T. Lietzmann, P. Kupka, P. Ramos Lobato, M. Trappmann, J. Wolff: Sozialer Arbeitsmarkt für Langzeiterwerbslose: Wer für eine Förderung infrage kommt, IAB-Kurzbericht, Nr. 20, Nürnberg 2018.
  • 5 Vgl. B. Christoph, S. Gundert, A. Hirseland, C. Hohendanner, K. Hohmeyer, P. Ramos Lobato: Ein-Euro-Jobs und Beschäftigungszuschuss: Mehr soziale Teilhabe durch geförderte Beschäftigung?, IAB-Kurzbericht, Nr. 03, Nürnberg 2015; S. Gundert, K. Hohmeyer, P. Ramos Lobato, B. Christoph, A. Hirseland, C. Hohendanner: Soziale Teilhabe durch geförderte Beschäftigung: Dabei sein und dazugehören, in: IAB-Forum, Nr. 1, 2016, S. 48-53.
  • 6 K. Bruckmeier, J. Mühlhan, U. Walwei, J. Wiemers: Arbeit muss sich lohnen – auch im unteren Einkommensbereich! Ein Reformvorschlag, in: IAB-Forum, 21.12.2018.
  • 7 U. Walwei: Von der Deregulierung zur Re-Regulierung. Trendwende im Arbeitsrecht und ihre Konsequenzen für den Arbeitsmarkt, in: Industrielle Beziehungen, 22. Jg. (2015), H. 1, S. 13-32.
  • 8 J. Schmieder, T. von Wachter, S. Bender: The causal effect of unemployment duration on wages: Evidence from unemployment insurance extensions, in: American Economic Review, 106. Jg. (2016), S. 739-777.
  • 9 B. Boockmann, S. L. Thomsen, T. Walter: Intensifying the Use of Benefit Sanctions – An Effective Tool to Shorten Welfare Receipt and Speed up Transitions to Employment, Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW), Discussion Paper, Nr. 09-072, 2009; J. Schneider: Impacts of Benefit Sanctions on Reservation Wages, Search Effort and Re-employment, in: Activation of Welfare Recipients: Impacts of Selected Policies on Reservation Wages, Search Effort, Re-employment and Health, Dissertationsschrift, Berlin 2010; T. Walter: The Employment Effects of an Intensified Use of Benefit Sanctions, in: ders.: Germany’s 2005 Welfare Reform. Evaluating Key Characteristics with a Focus on Immigrants, in: ZEW Economic Studies, Bd. 46, 2012, S. 51-72; G. J. Van den Berg, A. Uhlendorff, J. Wolff: Sanctions for young welfare recipients, in: Nordic Economic Policy Review, Bd. 1, 2014, S. 177-208.
  • 10 Für die Forderung nach einer sanktionsfreien Grundsicherung siehe z. B. www.sanktionsfrei.de; www.tacheles-sozialhilfe.de.
  • 11 K. Bruckmeier et al.: Arbeit muss sich lohnen ..., a. a. O.
  • 12 L. Wößmann, F. Kugler, M. Piopiunik: Einkommenserträge von Bildungsabschlüssen im Lebensverlauf: Aktuelle Berechnungen für Deutschland, in: ifo-Schnelldienst, 70. Jg. (2017), H. 7, S. 19-30.
  • 13 I. Mühlenbrock: Alterns- und altersgerechte Arbeitsgestaltung. Grundlagen und Handlungsfelder für die Praxis, Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, 1. Aufl., Dortmund 2016; U. Walwei: Konsequenzen der Digitalisierung für strukturelle Arbeitsmarktprobleme. Chancen und Risiken, in: Zeitschrift für Sozialreform, 62. Jg. (2016), H. 4, S. 357-382.
  • 14 U. Walwei: Aufwärtsmobilität am Arbeitsmarkt: Wenn nicht jetzt, wann dann?, in: IAB-Forum, 17.8.2017.
  • 15 M. Promberger: Resilience among vulnerable households in Europe. Questions, concept, findings and implications, IAB-Discussion Paper, Nr. 12, Nürnberg 2017.

Erfolge der Grundsicherung nicht gefährden: Weiterentwicklung statt neuer Antworten

Für viele Beobachter markiert der 14. März 2003 einen Wendepunkt in der deutschen Arbeitsmarktpolitik. An diesem Tag hielt der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder eine vielbeachtete Rede vor dem Deutschen Bundestag, in der er für „Mut zur Veränderung“ warb – mit dem Ziel „wieder an die Spitze der wirtschaftlichen und der sozialen Entwicklung in Europa zu kommen“.1 In der Regierungserklärung zur Agenda 2010 bezeichnete er den Bereich Arbeit und Wirtschaft als das „Herzstück“ der Reformagenda und verwies auf folgende zentrale Elemente: Öffnung der Arbeitsmärkte für neue Formen der Beschäftigung und Selbstständigkeit, Verbesserung der Bedingungen für die Vermittlung von Arbeitslosen, Neudefinition der Rechte und Pflichten der Arbeitsuchenden, Neuorganisation der Bundesagentur für Arbeit sowie Abgabenentlastung geringer Einkommen.

Handlungsdruck Mitte der 2000er Jahre

Der politische Handlungsdruck Mitte der 2000er Jahre war immens. Verschärft durch die andauernden Auswirkungen und finanziellen Belastungen der Wiedervereinigung befand sich die Arbeitsmarktentwicklung in Deutschland tatsächlich bereits seit den 1970er Jahren „auf einer schiefen Ebene“ – mit der Folge, dass Rezessionen seitdem immer neue Wunden in Form einer sukzessive ansteigenden Arbeitslosigkeit hinterließen.2 Lange galten die strukturellen Probleme des Arbeitsmarkts und des Sozialstaats als kaum lösbar. Insbesondere wurde der deutsche „Reformstau“ im internationalen Vergleich augenfällig.3 Vor allem angesichts der wachsenden Sockelarbeitslosigkeit sollten durch umfassende Reformen erstens Langzeitarbeitslose besser in Beschäftigung gebracht, und zweitens erwerbsfähige Hilfebedürftige in der neu geschaffenen Grundsicherung verstärkt aktiviert werden.

Auch wenn die Erfolge auf dem Arbeitsmarkt nicht allein den Hartz-Reformen zuzuschreiben sind, hat sich die Zahl der Arbeitslosen seit 2005 etwa halbiert und die Zahl der Beschäftigten erreicht immer neue Rekordwerte. Gleichzeitig besteht jedoch das Problem verfestigter Langzeitarbeitslosigkeit fort, da dieser Personenkreis von der langen Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs nur sehr eingeschränkt profitiert. So waren 2017 von den insgesamt rund 2,5 Mio. Menschen, die im Jahresdurchschnitt bei einer Agentur für Arbeit oder einem Jobcenter arbeitslos gemeldet waren, rund 900 000 Personen bzw. 36 % seit mindestens einem Jahr auf der Suche nach einer Beschäftigung.4

Indirekte Effekte der Hartz-Reformen

Vor diesem Hintergrund sind auch die Gesamteffekte der Hartz-Reformen weiterhin umstritten. Dies könnte auch damit zusammenhängen, dass sich ihre Wirkungen möglicherweise vor allem indirekt ergeben haben – und zwar vornehmlich über den Kanal der Beschäftigten. So zeigt eine neuere empirische Untersuchung, dass der Rückgang der Arbeitslosigkeit zu 75 % dadurch zu erklären ist, dass weniger Menschen arbeitslos wurden.5 Demnach ist die Wahrscheinlichkeit, arbeitslos zu werden, ein Jahrzehnt nach den Reformen um fast ein Drittel gefallen, während die Wahrscheinlichkeit, als Arbeitsloser eine Stelle zu finden, im gleichen Zeitraum nur um gut 10 % gestiegen ist. Entgegen einer verbreiteten Vermutung erklärt also die Tatsache, dass mehr Menschen aus Arbeitslosigkeit heraus eine Stelle fanden (etwa durch verstärkte Aktivierung), die Erfolge der Reformen nur zu einem geringen Anteil.

Wurden also die beiden Hauptziele der Hartz-Reformen – eine geringere Langzeitarbeitslosigkeit und eine verstärkte Aktivierung – tatsächlich gar nicht erreicht? Dazu müssen die fortbestehenden Herausforderungen auch in Relation zu unbestrittenen Erfolgen gesetzt werden. So ist insbesondere der starke Anstieg der Erwerbsquote älterer Arbeitnehmer seit Mitte der 2000er Jahre bemerkenswert. Während sich die Partizipationsrate in vielen Bevölkerungsgruppen seitdem erhöht hat (Frauen, Geringqualifizierte, Ausländer), ragt die Gruppe Älterer noch heraus. Dass der Anteil der Erwerbspersonen an der Wohnbevölkerung im Alter von 55 bis 64 Jahre von 43 % (2000) auf mehr als 71 % (2016) gestiegen ist, hängt auch mit reduzierten Anreizen zur Frühverrentung zusammen.6 Entsprechende Reformen wurden zeitlich bereits vor den Hartz-Reformen ergriffen,7 wenngleich die Verkürzung des Arbeitslosengeldes I für Ältere und der Wegfall der geförderten Altersteilzeit nicht ohne Wirkung blieben. Gleichzeitig war dieser Anstieg bei Älteren nicht mit einem Rückgang der Erwerbsquote in der jüngeren Bevölkerung verbunden.

Reformbedarf in der Grundsicherung?

Trotz ihrer gesamtwirtschaftlich positiven Auswirkungen (vor allem der starke Rückgang der Arbeitslosigkeit in Verbindung mit gestiegenen Erwerbsquoten) sind die Hartz-Reformen sehr unpopulär. Zuletzt hat sich die Debatte um einen Reformbedarf nochmals intensiviert. Der Fokus richtet sich insbesondere auf das System der Grundsicherung („Hartz IV“), wobei in diesem Zusammenhang keineswegs neue Aspekte diskutiert werden – bestimmte Regelungen werden im Prinzip seit ihrer Einführung im Jahr 2005 kritisiert.8 Es stellen sich also „alte“ Fragen, die heute allerdings auch vor dem Hintergrund veränderter wirtschaftlicher Rahmenbedingungen – angesichts der demografischen Entwicklung sowie von Globalisierung und Digitalisierung – an der einen oder anderen Stelle neue Antworten erfordern könnten. Dennoch gilt es, auch im Lichte der mittlerweile verfügbaren Evaluationsstudien, an etablierten Grundprinzipien einer fördernden, aber auch fordernden Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik festzuhalten.

So gibt es erstens die wiederkehrende Diskussion um eine angemessene und existenzsichernde Leistungshöhe der Grundsicherung. In dieser Debatte, die auch eine verfassungsrechtliche Dimension enthält, treffen Argumente für eine höhere Leistung, um Armut zu vermeiden und gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen, auf Argumente, die Erwerbsanreize und das Lohnabstandsgebot anmahnen. Tatsächlich sollte es einen objektiven Maßstab zur Ermittlung eines existenzsichernden Niveaus der Grundsicherung geben. Nur mangelt es an einer sachgerechten (Daten-)Grundlage zu seiner Bestimmung, und es dominieren festgefahrene politische Positionen anstelle sachlicher Argumente. Dabei könnte der Mindestlohn als Vorbild dienen: Zu seiner Anpassung hat der Gesetzgeber eine ständige unabhängige Kommission eingerichtet, die in regelmäßigen Abständen eine Empfehlung abgibt. Sie nimmt eine Gesamtabwägung vor und orientiert sich an der Tarifentwicklung. Eine vergleichbare Kommission könnte Empfehlungen für die Höhe der Grundsicherung – in Orientierung an Veränderungen bei den Lebenshaltungskosten oder der Lohnentwicklung – abgeben, ohne dem Verfahren die letztlich entscheidende demokratische Legitimation zu entziehen.

Erfolgsfaktoren nicht infrage stellen

Zweitens wird die Unabhängigkeit der gewährten Leistungen von der bisherigen Erwerbsbiografie in Frage gestellt. In diesem Zusammenhang wird häufig ein zu geringes „Schonvermögen“ bzw. nicht anrechenbares Vermögen kritisiert, wenngleich manche kritische Einschätzungen nicht den geltenden Regeln und der Behördenpraxis gerecht werden. Tatsächlich stellen sich viele in der Praxis durchaus sehr relevante Detailfragen. Grundsätzlich muss jedoch die Gewährung eines steuerfinanzierten Existenzminimums in Form der Grundsicherung weiterhin unabhängig vom vorherigen Einkommen der Empfängerinnen und Empfänger gestaltet sein. Denn genau dies ist ein wichtiger Faktor für den Erfolg der Arbeitsmarktreformen: Die Abschaffung von Frühverrentungsanreizen durch Einschnitte bei passiven Leistungen, insbesondere durch die Abschaffung der an das vorherige Einkommen gekoppelten ehemaligen Arbeitslosenhilfe.9

Drittens wird die mit einer Inanspruchnahme von Leistungen der Grundsicherung einhergehende Stigmatisierung sowie die bürokratische Komplexität des Gesamtsystems kritisiert. Die Inanspruchnahme hat sich zwar nach den Reformen eher erhöht, aber weiterhin beanspruchen vermutlich rund 40 % der Anspruchsberechtigten die ihnen nach SGB II (bzw. SGB XII) zustehenden Leistungen nicht.10 Gleichzeitig ist das SGB II auch das bei Weitem am meisten von Widerspruchsverfahren und Klagen geprägte Sozialgesetzbuch. Dies zeigt den strittigen, nicht immer nachvollziehbaren Charakter von Entscheidungen der zuständigen Behörden. Selbstverständlich sollte es das Ziel sein, ein möglichst unbürokratisches System ohne Zugangshürden aufzubauen. Daher sind weitere Schritte zum Bürokratieabbau vorzunehmen, und es ist eine deutlich bessere Information und Kommunikation seitens der Jobcenter anzustreben. Potenziale dazu ergeben sich im Zuge der Digitalisierung. Um Stigmatisierung zu vermeiden, braucht es niedrigschwellige Angebote. Einen Ansatzpunkt bietet möglicherweise die Weiterentwicklung von Kindertageseinrichtungen, um vor allem Kinder und Familien besser zu erreichen.11

Fehlanreize im System beseitigen

Viertens gibt es aktuell verschiedene Vorschläge, die vor allem den Aspekt mangelnder Erwerbsanreize aufgrund zu hoher Transferentzugsraten in den Blick nehmen.12 Diese Ansätze empfehlen übereinstimmend, verschiedene Leistungen (Arbeitslosengeld II inklusive Kosten der Unterkunft, Wohngeld und Kinderzuschlag) zusammenzufassen, Tarifverläufe durch die Beseitigung von „Sprungstellen“ zu glätten und höhere Erwerbsanreize durch geringere Transferentzugsraten bei höheren Verdiensten bzw. Arbeitszeiten (also oberhalb der derzeit dominierenden geringfügigen Beschäftigung im Bereich des Bezugs von ergänzenden Leistungen nach dem SGB II) zu schaffen.

Aus dieser Beseitigung von Fehlanreizen im gegenwärtigen System könnten erhebliche Beschäftigungswirkungen resultieren: Je nach Vorschlag werden etwa 100 000 bis 200 000 Vollzeitäquivalente vorausberechnet. Dieser Effekt ergibt sich vor allem durch eine Ausweitung der geleisteten Arbeitsstunden und nur in geringerem Umfang durch zusätzliche Wechsel bislang arbeitsloser Personen in Beschäftigung. Demgegenüber stehen recht überschaubare Kosten – teilweise sind die Vorschläge sogar aufkommensneutral konzipiert. Allerdings würde sich der Kreis der Transferempfängerinnen und Transferempfänger deutlich ausweiten, da zur Glättung der Tarifverläufe Leistungen bis in mittlere Einkommensbereiche vorgesehen sind. Dadurch ergibt sich zumindest ein (politisches) Akzeptanzproblem.

Mitwirkungspflichten weiter durchsetzen

Fünftens wird die Angemessenheit von Sanktionen bzw. Leistungskürzungen kritisiert. In der Tat entfalten Sanktionen im SGB II sowohl beabsichtigte als auch unbeabsichtigte Wirkungen.13 Dennoch bedarf es Regeln – und um Mitwirkungspflichten durchzusetzen, müssen Verstöße sanktioniert werden. Sinnvoll erscheint jedoch, eine maximale Höhe der Leistungsminderung festzulegen, Sonderregelungen für jüngere Erwerbsfähige abzuschwächen sowie bei der Sanktionierung die Art des Verstoßes stärker zu berücksichtigen. Dies kann an der einen oder anderen Stelle zu stärkeren oder schwächeren Sanktionierungen führen. Das grundsätzliche Festhalten am Prinzip aus Leistung und Gegenleistung ist in der steuerfinanzierten, solidarischen Grundsicherung jedoch ein unabdingbares Gebot gesellschaftlicher Fairness gegenüber jenen, die zur Finanzierung der Sozialpolitik beitragen.

Weiterentwicklung statt neuer Antworten

Zweifellos muss das System der Grundsicherung in einer sich wandelnden Arbeitswelt ständig weiterentwickelt werden. Dafür gibt es zahlreiche Stellschrauben: Insbesondere könnten ein transparentes Verfahren zur Festlegung der Höhe des Existenzminimums, klare Regeln und Grenzen für Sanktionen sowie geringere Ermessensspielräume im Verwaltungsvollzug dazu beitragen, die Debatte zu versachlichen. Die Beseitigung von Fehlanreizen im System könnte außerdem zu mehr Beschäftigung führen. Darüber hinaus sollte jedoch an bewährten Grundprinzipien festgehalten werden.

Deshalb sind grundsätzlich neue Antworten auf „alte“ Fragen nicht in Sicht – und auch nicht notwendig, zumindest nicht innerhalb des bestehenden Systems der Grundsicherung. Eine Modernisierung muss daneben stattfinden. Dabei sollte ein (noch) stärkerer Fokus auf präventive Sozialpolitik, frühkindliche Bildung und kritische Phasen des Übergangs im Lebensverlauf gerichtet werden. So sollten im Sinne eines vorbeugenden Ansatzes auch Beschäftigte gefördert und gefordert werden, ihre Fähigkeiten und Kompetenzen – unter Einbeziehung der Unternehmen – laufend zu aktualisieren, um mit dem Strukturwandel Schritt zu halten. Gerade ältere und geringer qualifizierte Erwerbstätige sind von den üblichen Weiterbildungsmaßnahmen der Betriebe faktisch ausgeschlossen. Sie laufen deshalb in besonderem Maße Gefahr, am Arbeitsmarkt an Terrain zu verlieren.

Schließlich stellt sich im Kontext der Hartz-IV-Debatte auch die grundsätzliche Frage nach der künftigen Entwicklung und Ausrichtung unseres Sozialstaats. Wir befinden uns womöglich aktuell an einer Wegscheide. Ein möglicher Ansatz besteht darin, künftig noch zielgenauer Personen mit konkreten Bedarfslagen durch Transferleistungen und Unterstützungsangebote zu adressieren. So könnte der Kreis der Leistungsempfänger minimiert werden. Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass der Arbeitsmarkt auch in Zukunft genügend Einstiegsmöglichkeiten bietet. Dies spricht gegen eine zu starke Regulierung von Erwerbsformen wie befristeten Verträgen oder Leiharbeit sowie für eine Anpassung der Lohnuntergrenzen (gesetzlicher Mindestlohn und allgemeinverbindliche Tarifverträge) mit dem gebotenen Augenmaß.

  • 1 Deutscher Bundestag: Plenarprotokoll 15/32, Berlin 2003.
  • 2 J. Möller: Die deutschen Arbeitsmarktreformen: Nicht perfekt, aber unter dem Strich positiv, in: WSI Mitteilungen, Nr. 6/2010, S. 324-327.
  • 3 W. Eichhorst, S. Profit, E. Thode: Benchmarking Deutschland: Arbeitsmarkt und Beschäftigung, Heidelberg, Berlin 2001.
  • 4 Bundesagentur für Arbeit: Statistik/Arbeitsmarktberichterstattung: Berichte: Blickpunkt Arbeitsmarkt – Die Arbeitsmarktsituation von langzeitarbeitslosen Menschen 2017, Nürnberg 2018.
  • 5 B. Hartung, P. Jung, M. Kuhn: What Hides behind the German Labor Market Miracle? Unemployment Insurance Reforms and Labor Market Dynamics, IZA Discussion Paper, Nr. 12001, 2018.
  • 6 H. Schneider, U. Rinne: The labor market in Germany, 2000-2016, IZA World of Labor 2017, Nr. 379.
  • 7 M. Knuth, T. Kalina: „Vorruhestand“ verfestigt die Arbeitslosigkeit: kalkulierte Arbeitslosigkeit Älterer behindert Aktivierung der Arbeitsmarktpolitik, IAT-Report, Nr. 2002-02.
  • 8 Die folgenden Aspekte finden sich so auch in anderen Beiträgen, vgl. etwa M. Blömer, C. Fuest, A. Peichl: Raus aus der Niedrigeinkommensfalle(!) – Der ifo-Vorschlag zur Reform des Grundsicherungssystems, in: ifo Schnelldienst, 72. Jg. (2019), H. 4, S. 34-43.
  • 9 H. Schneider: Wie nachhaltig ist das deutsche Jobwunder? Eine Reformbilanz, IZA Standpunkte, Nr. 51.
  • 10 K. Bruckmeier, J. Wiemers: A new targeting: a new take-up? Non-take-up of social assistance in Germany after social policy reforms, in: Empirical Economics, 43. Jg. (2012), H. 2, S. 565-580; K. Bruckmeier, J. Pauser, R. T. Riphahn, U. Walwei, J. Wiemers: Mikroanalytische Untersuchung zur Abgrenzung und Struktur von Referenzgruppen für die Ermittlung von Regelbedarfen auf Basis der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2008. Simulationsrechnungen für das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, 2013.
  • 11 S. Schmitz, C. K. Spieß: Familien im Zentrum: Unterschiedliche Perspektiven auf neue Ansatzpunkte der Kinder-, Eltern- und Familienförderung, Heinz und Heide Dürr Stiftung, Berlin 2019.
  • 12 Vgl. etwa M. Blömer, C. Fuest, A. Peichl, a. a. O.; K. Bruckmeier, J. Mühlhan, J. Wiemers: Erwerbstätige im unteren Einkommensbereich stärken: Ansätze zur Reform von Arbeitslosengeld II, Wohngeld und Kinderzuschlag, IAB-Forschungsbericht, Nr. 09/2018.
  • 13 K. Bruckmeier, T. Kruppe, P. Kupka, J. Mühlhan, C. Osiander, J. Wolff: Sanktionen, soziale Teilhabe und Selbstbestimmung in der Grundsicherung, IAB-Stellungnahme, Nr. 5/2018.

Was sind die wichtigsten Ansatzpunkte für eine Reform von Hartz IV?

In den letzten Monaten hat sich die Debatte über einen Reformbedarf bei Hartz IV intensiviert. Die Kritik an Hartz IV setzt an verschiedenen Aspekten der geltenden Regelungen an, und es wird eine Vielzahl von Reformvorschlägen diskutiert – von minimalinvasiven Eingriffen im bestehenden System bis hin zu Radikalreformen wie der Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens.1

Unstrittig ist, dass Hartz IV „gewirkt“ hat – irgendwie. Wie und ob die Wirkungen so gewünscht waren, wird teilweise kontrovers diskutiert. Kritiker bemängeln beispielsweise, Hartz IV sei ungerecht und begünstige ein Anwachsen des Niedriglohnsektors in Deutschland. Befürworter des bestehenden Systems halten dem entgegen, die Hartz-Reformen hätten den Abbau der Arbeitslosigkeit in Deutschland seit 2005 erst ermöglicht, eine Abschaffung von Hartz IV würde diesen Erfolg gefährden. Kritiker zweifeln wiederum an der These der positiven Arbeitsmarktwirkungen der Hartz-Reformen und führen andere Gründe für den Abbau der Arbeitslosigkeit an.2 In diesem Beitrag möchten wir nicht in diese grundsätzliche und teilweise ideologische Debatte einsteigen, sondern eine Reihe spezifischer Kritikpunkte am bestehenden System sowie konkrete Reformoptionen diskutieren.

Durch die Hartz-Gesetze wurden unter anderem Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zum neuen Arbeitslosengeld II (ALG II, umgangssprachlich „Hartz IV“) zusammengelegt. Zusätzlich zum ALG-II-Regelbedarf werden die Beiträge zur Krankenkasse gezahlt sowie Leistungen für Kosten der Unterkunft (KdU), einige unregelmäßige Leistungen (auf Antrag) sowie einige geldwerte Vergünstigungen. Falls ein Leistungsempfänger ohne wichtigen Grund die Aufnahme einer zumutbaren Arbeit verweigert, kann die Regelleistung gekürzt werden. Die Transferentzugsrate für Hinzuverdienste bzw. zur Anrechnung der Einkünfte der Bedarfsgemeinschaft liegt zwischen 80 % und 100 %.

In der aktuellen Reformdebatte werden verschiedene Aspekte des bestehenden Systems kontrovers diskutiert. Dazu zählen:

  1. Die Leistungshöhe,
  2. die Unabhängigkeit der gewährten Leistungen von der bisherigen Erwerbsbiografie der Empfänger,
  3. mangelnde Erwerbsanreize wegen hoher Transferentzugsraten,
  4. geringes „Schonvermögen“,
  5. die Angemessenheit von Sanktionen bzw. Leistungskürzungen in bestimmten Fällen,
  6. die Stigmatisierung durch den Gang zum Amt (mit der Folge der Nichtinanspruchnahme durch anspruchsberechtigte Bedürftige) sowie
  7. die Komplexität des Sozialsystems insgesamt.

Über jeden dieser Punkte kann man unterschiedlicher Auffassung sein. In Blömer et al. geben wir einen Überblick über die Reformdebatte und vergleichen die aktuell diskutierten Vorschläge.3 In diesem Beitrag analysieren wir vor dem Hintergrund der genannten Probleme des Hartz-IV-Systems verschiedene Aspekte und Varianten eines eigenen Reformvorschlags, den wir kürzlich vorgelegt haben.4

Der ifo-Reformvorschlag

Das ifo Institut hat im Februar 2019 einen eigenen Reformvorschlag unterbreitet, der sich darauf konzentriert, die Beschäftigungsanreize des Grundsicherungssystems zu verbessern.5 Ziel des Vorschlages ist es, Fehlanreize abzubauen, die Empfänger von Grundsicherung derzeit daran hindern, höhere eigene Einkommen zu erzielen und die Abhängigkeit von Transfers zu überwinden oder wenigstens zu reduzieren. Damit die Betroffenen der Niedrig­einkommensfalle entkommen können, muss sich Arbeit lohnen. Aus unserer Sicht liegt genau hier das Hauptproblem: die bestehenden Hartz-IV-Hinzuverdienstregelungen bevorzugen Kleinstjobs bis 100 Euro,6 während es darüber hinaus selten lohnenswert ist, die Arbeitszeit auszuweiten.7 Ein solches System ist schädlich, denn es bestraft Leistung dort, wo sie sich besonders lohnt: wenn man durch eigene Anstrengung der Abhängigkeit von Transfers entkommen will. Obwohl gerade die Hartz-Reformen das Ziel hatten, die Anreize zur Arbeitsaufnahme zu verbessern, ist das Problem hoher impliziter Grenzsteuerbelastung von niedrigen Einkommen nach wie vor nicht befriedigend gelöst.

Empfängerkreis

Wer empfängt Hartz IV und wer sollte es empfangen? Hartz IV empfangen sowohl (Langzeit-)Arbeitslose als auch sogenannte „Aufstocker“, deren Arbeitseinkommen nicht bedarfsdeckend ist. Als ein Kritikpunkt an einer Reform von Hartz IV und insbesondere der von uns vorgeschlagenen Senkung der Transferentzugsraten wird immer wieder die Ausweitung der Zahl der Transferempfänger angeführt. Es ist richtig, dass im bestehenden System ein Anstieg der Transferempfänger ein Problem steigender Armut bedeuten kann, wenn mehr Personen in die Bedürftigkeit „abrutschen“. Gleichzeitig könnte es aber auch einen Erfolg des Sozialstaates signalisieren, wenn die Zahl der Transferempfänger zunimmt, weil sich die Nicht-Inanspruchnahmequote reduziert und dadurch „verdeckte Armut“ zurückgeht.8 Bei einer Reform des Systems kann ebenfalls der Empfängerkreis steigen (oder sinken), z. B. führen sowohl eine steigende Transferleistung als auch sinkende Transferentzugsraten zu einer Ausweitung des Einkommensbereichs, in dem man Hartz IV erhalten kann. Dies wäre ein gewünschter Effekt einer solchen Reform und für sich genommen nicht problematisch. Die Zahl der Transferempfänger ist deshalb bei einer Reform des Systems keine ökonomisch sinnvolle Zielgröße.9 Es ist jedoch auch klar, dass man damit im politischen Prozess für negative Schlagzeilen sorgen kann und eine kluge Moderation notwendig ist.

Folgen niedriger (und hoher) Transferentzugsraten

Eine Reduktion der Transferentzugsraten bzw. Anrechnungsquoten führt zu einer Ausweitung des Empfängerkreises. Das ist durch zwei Effekte getrieben: Zum einen gibt es eine mechanische Ausweitung, weil nun mehr Personen Anspruch auf Hartz IV haben. Zum anderen könnten Personen ihr Arbeitsangebot reduzieren, um „in Genuss“ der Leistungen zu kommen. Der zweite Effekt ist jedoch aufgrund der anderen mit Hartz IV verbundenen Diskussionspunkte (unter anderem Sanktionen, Vermögensprüfung, Stigma durch Gang zum Amt) empirisch nicht besonders stark. Im Gegenteil, zahlreiche Studien zeigen, dass es durch eine Senkung der Transferentzugsraten zu einer Ausweitung des Arbeitsangebots und der Beschäftigung kommen würde.10 Allerdings ist es für die Höhe der Beschäftigungswirkungen und die fiskalischen Wirkungen wichtig, in welchen Einkommensbereichen Transferentzugsraten gesenkt werden.

Bei einer Reform der Transferentzugsraten sind verschiedene Varianten denkbar. Da eine Besserstellung aller Haushalte im Vergleich zum Status quo nur mit erheblichen fiskalischen Mehrkosten möglich ist,11 der ifo Vorschlag jedoch aufkommensneutral ausgelegt ist, wird es Gewinner und Verlierer einer solchen Reform geben. In unserem Vorschlag werden Bedarfsgemeinschaften mit Kindern tendenziell bessergestellt als Bedarfsgemeinschaften ohne Kinder. Letztere können einfacher ihr Arbeitsangebot ausweiten und so durch Mehrarbeit die Einkommensverluste kompensieren, die sich im statischen Fall ohne Verhaltensanpassung ergeben würden. Konkret fällt für Bedarfsgemeinschaften ohne Kinder der durch die derzeitigen Hinzuverdienstregelungen festgelegte Freibetrag in Höhe von 100 Euro pro Monat weg. Haushalte mit Kindern erhalten weiterhin die Möglichkeit, die ersten 100 Euro anrechnungsfrei hinzuverdienen, da diese Haushalte mit höheren Fixkosten der Arbeitsaufnahme belastet sind. In Anlehnung an verschiedene Vorschläge,12 keinen anrechnungsfreien Hinzuverdienst bei Kleinst- und Minijobs zuzulassen, sieht der ifo-Vorschlag für Haushalte ohne Kinder eine Grenzbelastung von 100 % bis zu einer Grenze von 630 Euro pro Monat vor.13 Für Beschäftigungen über diese Grenze hinaus gilt in beiden Varianten ein anrechnungsfreier Hinzuverdienst von 40 %, d. h. eine Grenzbelastung von 60 %. Für Haushalte mit Kindern sieht der ifo-Vorschlag ab 100 Euro eine Grenzbelastung von 80 % statt 100 % vor, bis zu einer Grenze von individuell 630 Euro pro Monat. Darüber hinausgehende Hinzuverdienste unterliegen ebenfalls einer Grenzbelastung von 60 %.

Die Grenze von 630 Euro ist jedoch nicht in Stein gemeißelt. So ließe sich der Bruttobetrag, ab dem die Grenzbelastung von 100 % bzw. 80 % auf 60 % gesenkt wird, weiter verringern. In weiteren Berechnungen simulieren wir deshalb aufbauend auf dem ifo-Vorschlag die Effekte einer Reform, in der die Grenzbelastung bereits bei 470 Euro pro Monat bzw. 320 Euro pro Monat Bruttoeinkommen auf 60 % gesenkt wird.14 Die übrigen Reformparameter bleiben gleich.

Tabelle 1 zeigt die simulierte Wirkung auf Aufkommen sowie Beschäftigung. Ohne Verhaltensanpassungen (d. h. ohne Anpassungen bei Beschäftigung und Inanspruchnahme von Transfers) zu berücksichtigen, fallen die Aufkommenswirkungen der Varianten etwas schwächer aus als im ursprünglichen ifo-Vorschlag. Zwar gibt es nach wie vor einen leicht positiven Effekt auf das Staatsbudget, durch die höheren Ausgaben für bestehende Aufstocker ist der Budgeteffekt in der statischen Betrachtung – also ohne Arbeitsangebotseffekte – geringer als im ifo-Vorschlag.15 Die Beschäftigungseffekte sind dagegen etwas stärker aufgrund des noch früher platzierten Wechsels auf 60 % Grenzbelastung als im ifo-Vorschlag. Dies ergibt ein größeres Fenster für die Gestaltung der Hinzuverdienstregelungen, ohne das Staatsbudget stark zu belasten. Durch den etwas stärker ausgeprägten Arbeitsangebotseffekt in den Varianten 1 und 2 bleibt eine negative fiskalische Wirkung aus und die zusätzlichen Einnahmen belaufen sich wie im ifo-Vorschlag auf ca. 4 Mrd. Euro.

Tabelle 1
Varianten zur Grenzbelastungszone: Aufkommens- und Beschäftigungswirkungen
  Aufkommen statisch
in Mrd. Euro
Aufkommen dynamisch
in Mrd. Euro
Beschäftigung
in 1000 Vollzeitäquivalenten
ifo-Vorschlag (60 % ab 630 Euro/Monat) 1,2 4,4 216
Variante 1 (60 % ab 470 Euro/Monat) 0,9 4,4 267
Variante 2 (60 % ab 320 Euro/Monat) 0,5 4,3 318

Anmerkungen: Budgetwirkung der Reform im Vergleich zum Status quo; positive Werte bedeuten eine Entlastung, negative eine Belastung des Budgets; Beschäftigungswirkungen im Vergleich zum Status quo; Vollzeitäquivalente bemessen den Beschäftigungseffekt umgerechnet in Vollzeitbeschäftigte mit 40 Wochenarbeitsstunden.

Quelle: ifo-Mikrosimulationsmodell.

Bei der Simulation der Verhaltensreaktionen wird von einem unveränderten Inanspruchnahmeverhalten der Haushalte wie im Status quo ausgegangen. Durch eine klarer gestaltete Transferleistung mit weniger Bürokratie und Aufwand dürften sich jedoch die Inanspruchnahmebarrieren bzw. das mit Hartz IV verbundene Stigma verringern, was die positiven Aufkommenswirkungen etwas abschwächen würde. Ein solches Resultat wäre durchaus wünschenswert, da dadurch mehr der „richtigen“ Empfänger die Leistung auch erhalten.16 Blömer und Peichl beziffern in Überschlagsrechnungen die zusätzlichen fiskalischen Kosten einer 100%igen Inanspruchnahme im Status quo auf ca. 3 Mrd. bis 6,5 Mrd. Euro pro Jahr.17 Das durch die Reform erwirtschaftete Mehraufkommen kann als Puffer dienen, um zusätzliche Ausweitungen des Empfängerkreises kompensieren zu können. Aus diesem Grund sollte der ifo-Vorschlag auch nach einer möglichen Ausweitung des Empfängerkreises noch aufkommensneutral sein.

Komplexität des Systems

Das deutsche Sozialsystem ist insgesamt zu kompliziert und teilweise inkonsistent. Derzeit gibt es in Deutschland eine Vielzahl von Behörden, die mehr als 150 steuer- und beitragsfinanzierte Sozialleistungen verwalten. Ein Grund für die Grenzsteuersatzverläufe von teilweise über 100 %18 ist auch, dass ALG II, Wohngeld und Kinderzuschlag – aufgrund der jeweiligen Zuständigkeit von drei Ministerien – nicht aufeinander abgestimmt sind. Hier sind weitere Reformen dringend notwendig. In unserem Vorschlag adressieren wir dieses Problem nur insofern, als wir Wohngeld und Kinderzuschlag mit den Hartz-IV-Leistungen zusammenfassen. Grundsätzlich sollten die Leistungen administrativ so gestaltet werden, dass eine Stigmatisierung möglichst vermieden wird. Wünschenswert in diesem Zusammenhang ist auch eine weitere Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung und Verknüpfung der Daten aus unterschiedlichen Ämtern und Registern.19 Dies könnte schließlich zu einer automatischen Auszahlung der Ansprüche an alle Berechtigte führen.20

Sanktionen

Sind Leistungskürzungen bei tatsächlich oder vermeintlich fehlender Bemühung des Transferempfängers, eigenes Einkommen zu erzielen, gerechtfertigt? Aus der Sicht der Steuerzahler, welche die Transferleistungen finanzieren, ist die Sanktionierung mangelnder Bereitschaft zur Arbeitsaufnahme bei den Empfängern ein wichtiger Aspekt der Fairness des Gesamtsystems („Solidarität ist keine Einbahnstraße“). Ob Sanktionen in den richtigen Fällen verhängt werden und ob sie Verhaltensänderungen bei den Sanktionierten hervorrufen, ist eine empirische Frage.21 Wir bewerten das Sanktionssystem im Rahmen unseres Reformvorschlags nicht.

Kindergrundsicherung?

Breuer diskutiert die bestehenden, kindbezogenen Leistungen und dokumentiert einen u-förmigen Verlauf über die Bruttoeinkommen, bei der gerade im mittleren Einkommensbereich, nach Auslaufen von SGB-II-Leistungen und Kinderzuschlag, eine erhöhte Belastung der Haushalte durch geringe Leistungen für Kinder die Einkommen senkt.22 Einzig die Struktur des Kindergelds entspricht bereits einer Kindergrundsicherung, da das Kindergeld unabhängig von Einkommen oder Vermögen ausgezahlt wird. Forderungen nach einer Kindergrundsicherung gehen insbesondere in die Richtung, die Höhe anzupassen. Diese Gestaltungsspielräume sind prinzipiell mit dem ifo-Vorschlag vereinbar.

Fazit

Die bestehenden Regelungen im Bereich der sozialen Grundsicherung haben den erheblichen Nachteil, dass sie durch nicht aufeinander abgestimmte Transfers und Transferentzugsregeln teilweise zu impliziten Grenzsteuersätzen von bis zu 100 % und mehr führen. Der ifo-Vorschlag zur Reform der sozialen Grundsicherung führt dazu, dass (mehr) Arbeit sich auch bei niedrigen Stundenlöhnen wieder lohnt. Durch die verbesserten Anreizstrukturen können Betroffene der Abhängigkeit von Transfers aus eigener Kraft leichter entkommen als im Status quo. Die Beschäftigung nimmt zu, ohne dass zusätzliche Kosten für den Staatshaushalt entstehen. Die Vorgabe der Aufkommensneutralität bedeutet, dass vor Verhaltensanpassungen einige Haushalte gewinnen, während andere verlieren. Diese Verluste werden jedoch bei den meisten, wenn auch nicht bei allen Haushalten, durch ausgedehnte Beschäftigung überkompensiert. Wenn man Einkommensverluste ganz ausschließen will, müsste man etwas höhere fiskalische Kosten in Kauf nehmen.

Reformbedarf besteht aber nicht nur bei den Hinzuverdienstregelungen. Auch wenn kurzfristig die Bereitschaft und Kraft der Politik zu Reformen begrenzt ist: Langfristig ist ein besser integriertes und aufeinander abgestimmtes Gesamtsystem der Steuern, Abgaben und Transfers erforderlich.23

  • 1 Wobei in der Debatte zu beobachten ist, dass Begriffe wie „Bürgergeld“ oder „Grundeinkommen“ inflationär und zum Teil nur aus Marketinggesichtspunkten teilweise bewusst irreführend verwendet werden.
  • 2 Für (makro-)ökonomische Analysen der Hartz-Reformen vgl. T. Krebs, M. Scheffel: Macroeconomic evaluation of labor market reform in Germany, in: IMF Economic Review, 61. Jg. (2013), H. 4, S. 664-701; T. Krebs, M. Scheffel: Labor Market Institutions and the Cost of Recessions, IMF Working Paper, Nr. 87, 2017; A. Launov, K. Wälde: Estimating Incentive and Welfare Effects of Nonstationary Unemployment Benefits, in: International Economic Review, 54. Jg. (2013), H. 4, S. 1159-1198; C. Dustmann, B. Fitzenberger, U. Schönberg, A. Spitz-Oener: From Sick Man of Europe to Economic Superstar: Germany’s Resurgent Economy, in: Journal of Economic Perspectives, 28. Jg. (2014), H. 1, S. 167-188; C. Odendahl: The Hartz myth: A closer look at Germany’s labour market reforms, Policy Brief, Centre for European Reform, London 10.7.2017; B. Hartung, P. Jung, M. Kuhn: What Hides behind the German Labor Market Miracle? Unemployment Insurance Reforms and Labor Market Dynamics, IZA DP, Nr. 12001, Bonn 2018; B. Hochmuth, B. Kohlbrecher, C. Merkl, H. Gartner: Hartz IV and the Decline of German Unemployment: A Macroeconomic Evaluation, IAB-Discussion Paper, Nr. 3/2019, Nürnberg 2019; sowie J. Bradley, A. Kügler: Labor market reforms: An evaluation of the Hartz policies in Germany, in: European Economic Review, Vol. 113 (2019), H. C, S. 108-135. Vereinfacht zusammengefasst zeigen die Studien, dass die Reformen wichtig für den Rückgang der (strukturellen) Arbeitslosigkeit waren, aber nicht der einzige Erklärungsfaktor hierfür sind.
  • 3 M. Blömer, C. Fuest, A. Peichl: Die Hartz-IV-Reformdebatte, in: ifo Schnelldienst, 72. Jg. (2019), H. 6, S. 21-25.
  • 4 M. Blömer, C. Fuest, A. Peichl: Raus aus der Niedrigeinkommensfalle(!). Der ifo-Vorschlag zur Reform des Grundsicherungssystems, in: ifo Schnelldienst, 72. Jg. (2019), H. 4, S. 34-43.
  • 5 M. Blömer, C. Fuest, A. Peichl: Raus aus der Niedrigeinkommensfalle(!)., a. a. O.
  • 6 Bruckmeier und Becker zeigen in ihren Auswertungen mit den PASS-Daten eine deutliche Häufung von Kleinstjobs mit Monatseinkommen knapp unter 100 Euro sowie von geringfügigen Beschäftigungen, vgl. K. Bruckmeier, S. Becker: Auswirkung des gesetzlichen Mindestlohns auf die Armutsgefährdung und die Lage von erwerbstätigen Arbeitslosengeld-II-Bezieherinnen und -Beziehern, Studie im Auftrag der Mindestlohnkommission, 2018. Von Praktikern in Job-Centern wird zudem oft vermutet, dass es sich bei der Vielzahl dieser Tätigkeiten um sogenannte „Tarnkappenjobs“ handelt, die Schwarzarbeit verschleiern sollen, vgl. B. Rürup, D. Heilmann: Arbeitsmarktreformen: Was noch zu tun bleibt, in: Wirtschaftsdienst, 92. Jg. (2012), H. 5, S. 339-344.
  • 7 Vgl. A. Peichl, F. Buhlmann, M. Löffler, M. Blömer, H. Stichnoth: Grenzbelastungen im Steuer-, Abgaben- und Transfersystem – Fehlanreize, Reformoptionen und ihre Wirkungen auf inklusives Wachstum, Bertelsmann Stiftung, Gütersloh 2017; K. Bruckmeier, J. Mühlhan, A. Peichl: Mehr Arbeitsanreize für einkommensschwache Familien schaffen, in: ifo Schnelldienst, 71. Jg. (2018), H. 3, S. 25-28.
  • 8 Zahlreiche Studien weisen teilweise eine recht hohe Quote der Nicht-Inanspruchnahme (QNI) aus. So simulieren Bruckmeier, Pauser, Walwei et al. eine QNI der Haushalte von 33,8 % (das entspricht 1,75 Mio. Haushalten) und Bruckmeier und Wiemers für die Jahre 2005 bis 2007 eine QNI von 41 % bis 49 %. Vgl. K. Bruckmeier, J. Pauser, U. Walwei, J. Wiemers: Simulationsrechnungen zum Ausmaß der Nicht-Inanspruchnahme von Leistungen der Grundsicherung, Forschungsbericht, IAB, Nürnberg 2013; K. Bruckmeier, J. Wiemers: A new targeting: a new take-up?, in: Empirical Economics, 43. Jg. (2012), H. 2, S. 565-580.
  • 9 Dies sieht man an folgendem (nicht ernst gemeinten) Extrembeispiel: Wenn man die Zahl der Transferempfänger minimieren wollte, müsste man nur die Regelsätze auf Null setzen – Niemand hat Anspruch und damit haben wir keine Transferempfänger mehr, Problem also erledigt. Auch wenn dieses Beispiel zugegebenermaßen extrem überspitzt ist, so ist es doch Realität, dass im deutschen Sozialsystem verschiedene Transferleistungen (wie z. B. der Kinderzuschlag) auch deshalb existieren, um die Zahl an Hartz-IV-Empfängern in den Statistiken zu reduzieren, während sich die tatsächliche Einkommenssituation der betroffenen Haushalte kaum verbessert und die Empfänger weiterhin zu einem (anderen) Amt gehen müssen.
  • 10 Eine weitere Ausweitung des Niedrigeinkommenssektors kann jedoch zu Lohneinbußen bzw. niedrigerem Reallohnwachstum bisher Beschäftigter führen, was die Opposition von Seiten der Gewerkschaften zu solchen Vorschlägen erklären könnte, vgl. auch H.-P. Grüner: Die politische Zukunft von Hartz IV, in: ifo Schnelldienst, 72. Jg. (2019), H. 6, S. 18-21.
  • 11 Vgl. z. B. M. Blömer, A. Peichl: Ein „Garantieeinkommen für Alle“, ifo Forschungsberichte, Nr. 97, ifo Institut, München 2018.
  • 12 Untersucht z. B. in A. Peichl, N. Pestel, H. Schneider, S. Siegloch: Reform der Hartz IV-Hinzuverdienstregelungen: Ein verfehlter Ansatz, in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik, 12. Jg. (2011), H. 2, S. 12-26; und M. Blömer, A. Peichl: Anreize für Erwerbstätige zum Austritt aus dem Arbeitslosengeld-II-System und ihre Wechselwirkungen mit dem Steuer- und Sozialversicherungssystem, Studie im Auftrag der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, München 2019.
  • 13 Das entspricht in etwa dem Monatseinkommen, das sich bei einer Beschäftigung von zwei Tagen (16 Stunden) pro Woche und 4,33 Wochen pro Monat zum Mindestlohn in Höhe von 9,19 Euro pro Stunde ergibt.
  • 14 Die Werte 470 Euro bzw. 320 Euro pro Monat sind so gewählt, dass diese Bruttoeinkommen etwa bei zwölf bzw. acht Wochenarbeitsstunden zum Mindestlohn von 9,19 Euro pro Stunde erreicht werden.
  • 15 Bei den statischen Wirkungen werden die Kosten berücksichtigt, die durch die Modifikation der Transfers bei bestehenden Empfängerzahlen entstehen. Während bei den statischen Wirkungen die zusätzliche Inanspruchnahme der Transferleistungen durch neu entstehende Ansprüche nicht berücksichtigt wird (sogenannter reiner „Morning-After-Effekt“), berücksichtigen die dynamischen Aufkommenswirkungen sowohl die Arbeitsangebotsanpassungen als auch den Bezug von Transferleistungen bei zusätzlich entstehenden Ansprüchen.
  • 16 Für eine Simulation mit verändertem prinzipiellen Inanspruchnahmeverhalten wären Ad-hoc-Annahmen über die Wirkung einer Transfer­umgestaltung auf das Stigma notwendig. Dies kann nicht aus den Daten, die sich bei vorhandenem Rechtsstand ergeben, geschätzt werden. Zudem dürfte sich ein geringeres Stigma auch nicht sofort nach einer Reform einstellen.
  • 17 M. Blömer, A. Peichl: Ein „Garantieeinkommen für Alle“, a. a. O.
  • 18 Vgl. K. Bruckmeier, J. Mühlhan, A. Peichl, a. a. O.
  • 19 Vgl. Nationaler Normenkontrollrat: Mehr Leistung für Bürger und Unternehmen: Verwaltung digitalisieren. Register modernisieren, Berlin 2017.
  • 20 Vgl. z. B. M. Blömer, A. Peichl: Ein „Garantieeinkommen für Alle“, a. a. O.
  • 21 Beispielsweise dokumentieren van den Berg, Uhlendorff und Wolff einen positiven Effekt der Sanktionen auf die Wiederbeschäftigungswahrscheinlichkeit, der aber auch mit niedrigeren Löhnen einhergehen kann, vgl. G. van den Berg, A. Uhlendorff, J. Wolff: Under Heavy Pressure: Intense Monitoring and Accumulation of Sanctions for Young Welfare Recipients in Germany, IZA Discussion Paper, Bonn 2017. Die Härte der Sanktionen in Deutschland liegt im OECD-Mittelfeld, vgl. H. Immervoll, C. Knotz: How demanding are activation requirements for jobseekers, OECD Social, Employment and Migration Working Papers, OECD, Paris 2018.
  • 22 C. Breuer: Ein Grundeinkommen für Kinder, in: Wirtschaftsdienst, 98. Jg. (2018), H. 7, S. 481-488.
  • 23 Für Möglichkeiten eines integrierten Systems bzw. für Entlastungen für Geringverdiener außerhalb des Systems der Grundsicherung vgl. M. Löffler, A. Peichl, N. Pestel, H. Schneider, S. Siegloch: Effizient, einfach und gerecht: Ein integriertes System zur Reform von Einkommensteuer und Sozialabgaben, in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik, 13. Jg. (2012), H. 1; M. Blömer, F. Buhlmann, M. Löffler, A. Peichl, H. Stichnoth: Kinderfreibeträge in der gesetzlichen Rentenversicherung: Verteilungs- und Verhaltenswirkungen, in: Wirtschaftsdienst, 97. Jg. (2017), H. 4, S. 266-271; oder C. Breuer: Dilemma Hartz IV: Geringverdiener entlasten, in: Wirtschaftsdienst, 99. Jg. (2019), H. 2, S. 82-83.

Hartz IV – weder Rolltreppe aus der Armut noch Fahrstuhl in die Armut

Rund 15 Jahre nach der Verabschiedung des „vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ (Hartz IV genannt), in dem es vor allem darum ging, die Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammenzulegen, steht dieses Gesetz immer noch im Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion. Im November 2018 waren im ZDF-Politbarometer1 49 % aller Befragten der Meinung, dass Hartz IV grundlegend verändert werden muss und rund ein Drittel war der Auffassung, dass zumindest kleinere Änderungen erfolgen sollten. Nur 11 % der Befragten sprachen sich dafür aus, die staatlichen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts von Menschen, die länger arbeitslos sind, so zu belassen wie sie heute sind.

Nahezu alle im Bundestag vertretenen Parteien wollen der breiten Unzufriedenheit offenbar Rechnung tragen und die Grundsicherung für Arbeitslose durch ein weiteres – es wäre das elfte – „Gesetz zur Weiterentwicklung von Hartz IV“ reformieren. Die Partei DIE LINKE schlägt vor, das Arbeitslosengeld II durch eine im Vergleich zum derzeitigen Regelsatz deutlich erhöhte Mindestsicherung abzulösen sowie alle Sanktionen abzuschaffen. Die SPD würde zwar im Grundsatz die Sanktionen beibehalten, aber nur soweit sie nicht „sinnwidrig und unsinnig“ sind. Sie will Langzeitarbeitslosen künftig ein Bürgergeld gewähren und auf diese Weise die von der SPD selbst auf den Weg gebrachten Hartz-IV-Regelsätze „hinter sich lassen“2. Bündnis 90/Die Grünen streben eine Garantiesicherung an. Und die FDP spricht sich dafür aus, die Sanktionen zwar abzuschwächen, aber sie grundsätzlich beizubehalten. Sie würde ebenfalls ein Bürgergeld als Ersatz für das Arbeitslosengeld II einführen. Lediglich CDU/CSU und die AfD plädieren derzeit dafür, Hartz IV nicht grundlegend zu reformieren. Will man freilich politisch anstehende Sozialstaatsreformen auch mit einem inklusiveren Wachstumsmodell verbinden bedarf es grundlegender Reformen in der Steuer- und Abgabenbelastung vor allem geringer Einkommen.

Folgen und (unbeabsichtigte) Kollateralschäden von Hartz IV

Das Hartz-IV-Gesetz führte zu einer umfassenden Reform der sozialen Sicherung. Insbesondere waren monetäre Kürzungen bei Arbeitslosenhilfeempfängern die Folge. Denn es wurden einheitliche Leistungen für Arbeitsuchende nach Sozialgesetzbuch II (SGB II) gewährt, die seitdem auch ehemaligen – arbeitsfähigen – Empfängern von Sozialhilfe zugesprochen wurden. Während frühere Empfänger von Sozialhilfe nach der Reform auch Zugang zu arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen erhielten, orientierte sich für die bisherigen Bezieher der Arbeitslosenhilfe die neue Grundsicherung für Langzeitarbeitslose nicht länger am Einkommensniveau vor Eintritt der Arbeitslosigkeit (53 % des letzten Nettoarbeitsentgelts bzw. 57 % mit Kindern). Gleichzeitig erfolgte neben der Senkung der Transferhöhe auch eine Verkürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeld I, selbst wenn sie viele Jahre Beiträge zur Sozialversicherung gezahlt hatten.

Da sich Leistungen der Grundsicherung nur an Menschen richten, die weder selbst noch gemeinsam mit anderen Haushaltsmitgliedern (Bedarfsgemeinschaft) über ein ausreichendes Einkommen oder Vermögen verfügen, verloren im Januar 2005 rund 15 % der ehemaligen Arbeitslosenhilfe-Haushalte ihre Leistungsansprüche.3 Deutlich zahlreicher waren die Haushalte, die durch die Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe (= Arbeitslosengeld II) Einkommensverluste hinnehmen mussten. Gemäß Berechnungen auf Basis des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP)4 musste mehr als die Hälfte der Menschen, die zuvor entweder Sozialhilfe oder Arbeitslosenhilfe bezogen hatten, durch die Einführung von Hartz IV Einbußen ihres verfügbaren Einkommens hinnehmen. Zu den Elementen der Hartz-IV-Reform zählte nämlich auch das Absenken des Regelbedarfs für Kinder von 65 % auf 60 % und für Jugendliche von 90 % auf 80 % sowie eine erweiterte Anrechnung von Vermögenswerten wie auch Einkünften von Partnern in der Bedarfsgemeinschaft. Der Rückgang des durchschnittlichen Äquivalenzeinkommens betrug in der Gruppe der „Verlierer“-Haushalte rund 30 %. Dem stand 2005 jedoch auch etwa ein Drittel von Personen gegenüber, die materielle Gewinne im Vergleich zum Vorjahr und gegenüber dem alten Rechtskreis zu verzeichnen hatten, wozu insbesondere die Gruppe der Alleinerziehenden zählte.

Die Gesamtauswirkungen des Hartz-IV-Gesetzes auf die personelle Einkommensverteilung blieben hingegen gering. Die Ergebnisse einer Simulationsstudie5 gehen von einer lediglich moderaten Zunahme von Einkommensarmut (gemessen an 60 % des Median-Einkommens) um etwa einen halben bis einen Prozentpunkt aus. Im Rahmen des vierten Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung zeigte eine Studie des Instituts für Angewandte Wirtschaftsforschung, dass lediglich zuvor im Zeitraum von 1999 bis 2005 ein Anstieg der Einkommensungleichheit festgestellt werden kann, aber von 2006 bis 2008 eine relative Konstanz erreicht wurde. So kam es weder durch die Änderungen im Transfersystem noch durch die 2007 erfolgte Einführung des Elterngeldes zu „substanziellen Folgen für die Gesamtverteilung der Nettoäquivalenzeinkommen in Deutschland“6.

Für die aus dem Rechtskreis des SGB III in das SGB II gewechselten Langzeitarbeitslosen galt auch nicht länger der Grundsatz, „unterwertiger Beschäftigung entgegen[zu]wirken“7. Nach Inkrafttreten von Hartz IV galt seitdem für Langzeitarbeitslose nahezu jede Arbeit als zumutbar.8 So konnte nicht nur wegen des geringeren neuen Grundsicherungsniveaus, sondern selbst nach Aufnahme einer neuen Erwerbstätigkeit der Lebensstandard deutlich sinken. Denn die gemäß dem Grundsatz des Förderns angebotenen zumutbaren Arbeitsgelegenheiten hatten das Ziel, die Dauer oder zumindest den Umfang der Hilfebedürftigkeit zu verringern. Inwieweit die Eigenverantwortung der Langzeitarbeitslosen durch die Arbeits- und Sozialreformen tatsächlich gestärkt und die Betroffenen aktiviert wurden, ist nicht untersucht worden. Sowohl qualitative als auch experimentelle Studien belegen jedoch, dass (Langzeit-)arbeitslose vielfach davon überfordert waren. Viele Betroffene erlebten die befristeten Eingliederungsmaßnahmen weniger als Sprungbrett und als produktive Maßnahme, sondern eher als einen beruflichen Abstieg. Die Folge war oft Resignation und die Erfahrung, ausgeschlossen zu sein.9

Nach der Einführung von Hartz IV erhielten im Januar 2005 etwas mehr als 6 Mio. Personen Hartz-IV-Leistungen. Bis Ende 2007 kamen weitere rund 5,48 Mio. hinzu, sodass in den ersten drei Jahren nach Einführung des Gesetzes bereits 11,6 Mio. Personen – das entspricht rund 14 % der Gesamtbevölkerung – zeitweise Leistungen der Grundsicherung in Anspruch10 nahmen. Zwar ist die Zahl der Langzeitarbeitslosen nach Inkrafttreten deutlich gesunken und lag im Februar 2019 bei weniger als 756 000 Personen.11 Aber die Zahl der Hilfebedürftigen insgesamt liegt seit 2011 weitgehend konstant bei etwa 6 Mio.12 Eine Analyse des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zur Dauer des Leistungsbezugs belegt, dass etwa 1,18 Mio. Personen seit der Einführung von Hartz IV bis Ende 2013 durchgehend im Leistungsbezug waren; also volle acht Jahre ununterbrochen.13 Ob die Zahl der Sozialtransfers beziehenden Personen ohne die Hartz-IV-Reformen heute geringer oder höher wäre, bleibt eine Frage, die sich wissenschaftlich nicht angemessen beantworten lässt.

Wachsende Erwerbsarmut und dauerhafte Niedriglöhne

Während sich die Gesamtarmutsquote infolge der Hartz-IV-Reformen nicht erhöhte und von 2007 bis 2014 auch die Zahl der erwerbsfähigen Leistungsbeziehenden im Jahresdurchschnitt von etwa 5,3 Mio. auf knapp 4,4 Mio. gesunken ist, blieb die Zahl der erwerbstätigen Arbeitslosengeld-II-Beziehenden (Aufstockende) bei etwa 1,3 Mio. konstant, was rund 29 % aller erwerbsfähigen Leistungsbeziehenden entspricht (2007 waren es 23 %). Arbeitsmarktstudien des IAB zeigen, dass die Arbeitssituation von Aufstockenden sowohl von geringen Stundenzahlen als auch von geringen Stundenlöhnen14 geprägt ist. Eine Studie von Helmut Rudolph15 belegt freilich, dass das „Aufstockenden-Phänomen“ nicht erst mit den Hartz-Reformen entstanden ist, sondern bereits früher existierte.

Mit der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns im Januar 2015 bestand die Hoffnung, dass die Zahl der Empfänger von Hartz-IV-Leistungen und somit auch der Aufstockenden signifikant sinken würde. Analysen im Auftrag der Mindestlohnkommission belegen jedoch, dass das bisher nicht der Fall war. Der Grund dafür liegt in einer häufig relativ geringen Wochenarbeitszeit sowie in der Zahl Nichterwerbstätiger in einer Bedarfsgemeinschaft.16 Zur Frage, ob es für die betroffenen Personen einen qualitativen Unterschied macht, wenn sie einen höheren Anteil ihres Einkommens durch Arbeit anstatt über den ergänzenden Bezug von Sozialleistungen erhalten, liegen bislang keine Erkenntnisse vor. Die Entlohnung war seit Einführung des Mindestlohns davon geprägt, dass die realen Bruttostundenlöhne zwischen 2013 und 2015 um 5 % anstiegen und sich im untersten Dezil erstmals seit Jahren im gleichen Zeitraum deutlich überproportional mit rund 13 % erhöhten. Jedoch stiegen die Erwerbseinkommen im untersten Dezil kaum, weil die Arbeitszeit bei Niedrigerwerbseinkommensbeziehenden gesunken ist und deshalb auch Bruttomonats- und -jahreslöhne stagnierten.17

Ein weiterer sozialpolitischer Wirkungsindikator für eine aktivierende Arbeitsmarktpolitik ist die Senkung von Erwerbsarmut. Eine Person gilt gemäß einer Definition der Europäischen Union als erwerbsarm, wenn sie im Jahr mehr als sechs Monate erwerbstätig ist und in einem Haushalt lebt, der mit weniger als 60 % des Medians des Nettoäquivalenzeinkommens auskommen muss. Eine Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) zur Entwicklung der Erwerbsarmut in Deutschland für 2004 bis 2014 belegt, dass sich die Erwerbsarmutsrate („working poor“) bezogen auf die Erwerbstätigen im erwerbsfähigen Alter zwischen 2004 (5 %) und 2014 nahezu verdoppelt hat.18 In Deutschland nimmt auch im europäischen Vergleich die Erwerbsarmut am stärksten zu. Gleichzeitig ist auch die Beschäftigungsrate am stärksten angestiegen. Diese Entwicklung begründet Zweifel daran, ob Arbeit im Niedrigeinkommensbereich wirklich als der beste Schutz vor Armut angesehen werden kann.

Man kann es als Erfolg betrachten, dass nach der Einführung der Hartz-IV-Sozialreformen die Armutsrisikoquote in Deutschland – selbst infolge der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 – nicht mehr signifikant angestiegen ist.19 Es sei jedoch daran erinnert, dass sich der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR) in seinem Jahresgutachten 2006/0720 mehrheitlich für ein Bündel an weiterführenden Kombilohnmodellen ausgesprochen hat. Dazu zählt auch das Modell, den Regelsatz für erwerbsfähige Angehörige einer Bedarfsgemeinschaft um 30 % abzusenken (!) und als „Anreiz zur Arbeitsaufnahme“ die Anrechnung der Erwerbseinkommen dann großzügiger zu gestalten (mit Hilfe einer weiterreichenden Absenkung der Transferentzugsrate). In einem Minderheitsvotum wurden diese Vorschläge, die in der Bundesregierung auch nicht aufgegriffen wurden, abgelehnt. Der mittlerweile emeritierte Verteilungsforscher Richard Hauser kommentierte solche in der Sozialpolitik seinerzeit an Einfluss gewinnenden arbeitsmarktökonometrischen „workfare“-Modellvorschläge bei einer Sitzung des Expertenkreises zum zweiten Armuts- und Reichtumsbericht mit einer Frage, die seinerzeit betroffenes Schweigen auslöste: „Müssen wir denn jetzt erst die Leute in die Armut treiben, damit dann endlich auch die Arbeitsmarktanreize wirken?“. In der ersten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu den Grundsicherungsleistungen wurde im Jahr 2010 erklärt: „Das Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 des Grundgesetzes hält den Gesetzgeber an, die soziale Wirklichkeit zeit- und realitätsgerecht im Hinblick auf die Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums zu erlauben.“21, wobei es dem Gesetzgeber freigestellt bleibt, das Existenzminimum durch Geld-, Sach- oder Dienstleistungen zu sichern.

Kein gewachsenes Armutsrisiko der Mittelschicht

Die Armutsrisikoquote ist auf Basis des SOEP von 2005 bis 2015 nicht – signifikant – gestiegen. Doch wie hat sich die Dynamik in der Einkommensentwicklung im Zeitraum von zehn Jahren vor und zehn Jahren nach der Einführung der Hartz-IV-Gesetze empirisch entwickelt? Jan Goebel und Peter Krause22 haben mit Hilfe der SOEP-Daten vergleichend die Veränderung von Einkommenspositionen betrachtet und die Bevölkerung jeweils in fünf gleich große Einkommensgruppen unterschieden.

Veränderungen von Einkommenspositionen liefern empirische Belege dafür, ob und wenn ja wie oft es Personen und Haushalten gelingt, in einem Zeitverlauf von jeweils fünf Jahren, defizitäre und untere Einkommenspositionen zu überwinden. Umgekehrt beschreiben sie auch das Risiko, von mittleren in untere Einkommenslagen abzusteigen.23 Vergleicht man die Verbleibquoten im untersten Quintil für die Zeiträume vor und nach der Hartz-IV-Reform, kann man feststellen, dass der Anteil der Aufstiege in den Jahren vor Hartz IV (1997 bis 2002) noch bei 46 % lag und in der Zeit nach Hartz IV (2002 bis 2006) auf 41 % gesunken ist; ein Wert, der auch in der aktuellsten Referenzperiode (2012 bis 2016) beobachtet werden kann und somit einen markanten Anstieg für das Verharren im untersten Einkommensquintil für die letzten 15 Jahre markiert.

Auch für das der unteren Mittelschicht zuzuschreibende zweite Einkommensquintil nahm die Verbleibquote dieser Einkommensposition zu.24 Die Vermutung war, dass mehr Menschen als zuvor infolge der Hartz-IV-Gesetze einen gesellschaftlichen Abstieg erfahren würden. Die Mobilitätsbetrachtung der Einkommensquintile zeigt jedoch, dass die faktische Abstiegswahrscheinlichkeit aus der mittleren Mittelschicht nicht angestiegen ist und auch in den beobachteten Perioden vor den Hartz-IV-Reformen bereits bei rund 23 % innerhalb eines Fünfjahreszeitraums lag.

Freilich ist in dieser Einkommensschicht die Wahrscheinlichkeit für einen Aufstieg in ein höheres Einkommensquintil um einige Prozentpunkte gesunken, wenngleich für die jüngste Periode von 2012 bis 2016 die Wahrscheinlichkeit von 39 % nahezu wieder genauso hoch war wie in einem Fünfjahreszeitraum vor den Hartz-Reformen. Das generelle Bild des ansteigenden Verharrens im gleichen Einkommensquintil setzt sich auch in höheren Einkommensquintilen fort und ist besonders markant im höchsten Einkommensquintil, wo im aktuellsten Beobachtungszeitraum eine Verbleibquote von 69 % (gegenüber 61 % zwanzig Jahre zuvor) zu beobachten ist.

Wenn man sich bei der dynamischen Einkommensbetrachtung an Einkommensschwellen orientiert, die explizit den Bereich der Risikoarmutsschwelle25 beschreiben, zeigt sich ein analoges Ergebnis: Vor allem das Verharren bzw. die wiederholte Erfahrung von Armut ist in den letzten Jahren gestiegen. Man kann also bilanzieren, dass Hartz IV weder die Qualität einer Rolltreppe nach oben in der Einkommensverteilung hatte noch mehr Personen als in der Vergangenheit im Aufzug nach unten fuhren.

Sozialstaatsreformen für 2030 mit inklusivem Wachstum

Die OECD zeigte in ihrem Wirtschaftsbericht für Deutschland, dass sich der wirtschaftliche Aufschwung der letzten Jahre nicht gleichermaßen auf alle Bevölkerungsschichten ausgewirkt hat und insbesondere Personen in nichtregulären Beschäftigungsverhältnissen, Arbeitslose und Geringqualifizierte nicht am Wachstum teilhatten. Unter den Erwerbstätigen fände sich ein hoher Anteil von Menschen mit prekären Beschäftigungen, niedrigen Löhnen und einer geringen Einkommensmobilität. Die Folge sei, dass das relative Armutsrisiko und die Einkommensungleichheit sich nicht geändert hätte. Damit ein inklusives Wirtschaftswachstum erreicht werden kann, sollten politische Anstrengungen unternommen werden, damit die sozial schwächsten Gruppen stärker am Wachstum teilhaben.26

Die Europäische Kommission hat sich 2010 das Ziel gesetzt, dass in allen Mitgliedsländern bis 2020 die Zahl der von Armut und sozialer Ausgrenzung bedrohten Menschen signifikant sinken soll.27 Auch hiervon ist man im zuletzt ausgewiesenen Berichtsjahr 2017 noch weit entfernt und das Versprechen ist auch für Deutschland nicht eingelöst.28 Schließlich haben die Vereinten Nationen im September 2015 auf ihrem Gipfel für die Agenda 2030 einen nicht minder ehrgeizigen Katalog mit 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung verabschiedet (Sustainable Development Goals). Neben dem ambitionierten Ziel, die extreme Armut weltweit bis 2030 zu beseitigen, wurden erstmals auch Verteilungsziele verabredet, um den Grad der Einkommensungleichheit innerhalb der einzelnen (entwickelten) Staaten zu senken. Demnach soll künftig der Einkommenszuwachs der ärmsten 40 % einer Bevölkerung höher sein als das durchschnittliche Einkommensplus der Gesamtbevölkerung.29 Für Deutschland kann die Entwicklung hin zur Erreichung dieses Zieles mit Hilfe der SOEP-Daten leicht überprüft werden.30 Betrachtet man die Zeit seit den Hartz-Reformen von 2004 bis 2014 so wurde das Ziel deutlich verfehlt. Es stagnierten die Einkommen der unteren 40 %, während der Mittelwert um etwas mehr als 4 % zunahm.

Die politische Weiterentwicklung von Hartz IV, die sich zugleich an einem solchen inklusiven Wachstumsmodell orientiert und in der Verteilungspolitik einen Kurswechsel einschlägt, um dafür Sorge zu tragen, dass von den Wachstumsgewinnen stärker die unteren und mittleren Einkommensschichten profitieren als hohe und Spitzenverdiener wird ihre Erfolge nicht allein an kurzzeitigen Integrationserfolgen am ersten Arbeitsmarkt messen können. Vielmehr sollte sie stärker nachhaltige Formen der Arbeitsmarktintegration und der Einkommenssicherung berücksichtigen und ein sozio-kulturelles Existenzminimum gewährleisten, und zwar sanktionsfrei oder zumindest sanktionsarm31, das in seiner Höhe nicht nur gemäß der Preisentwicklung angepasst wird, sondern sich auch an der Wirtschaftsentwicklung orientiert. Entsprechende Ressourcen wie auch öffentliche Investitionen müssten im Sinne der Sicherstellung von Bedarfsgerechtigkeit32 bereitgestellt werden. Das würde kurzfristig wirken. Als langfristig wirkende Maßnahme sollte mehr in (frühe) Bildung investiert werden. So bestünde die Chance, allen künftigen Bürgerinnen und Bürgern zumindest annähernd (Start-)Chancengerechtigkeit zu gewähren. Dies könnte das Ausmaß an Umverteilung reduzieren.

Das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) hat für das Politikziel einer reduzierten Ungleichheit einen Katalog von 16 wirtschaftspolitischen Maßnahmen unterbreitet, die dabei folgendem Dreiklang folgen würde „Armut zu vermindern, die Mitte zu stärken und die Starken zu beteiligen“33. Zu einem solchen integrativen Reformpaket würde auch der Mut zählen, sich für deutliche Abgaben- und Steuerentlastungen vor allem im unteren bis mittleren Einkommensbereich einzusetzen. Am konsequentesten wäre hierbei eine deutlichere auch an das Wirtschaftswachstum gekoppelte Erhöhung der Grundfreibeträge in der Einkommensteuer: Da dies auch den höher verdienenden Bevölkerungsgruppen zugute käme, könnte dies ein Anlass dafür sein, den Steuertarif so weiterzuentwickeln, dass höhere Einkommensgruppen, die in den letzten Jahren in besonderer Weise vom Wirtschaftswachstum profitierten, mit einer wachsenden durchschnittlichen Steuerlast deutlicher als in den letzten fünfzehn Jahren an der Finanzierung des Sozialstaatsprinzips der sozialen Marktwirtschaft beitragen.34

  • 1 Forschungsgruppe Wahlen: Politbarometer November II 2018, https://www.forschungsgruppe.de/Umfragen/Politbarometer/Archiv/Politbarometer_2018/November_II_2018/ (27.3.2019).
  • 2 Andrea Nahles im Interview des Redaktionsnetzwerks Norddeutschland: „Wir lassen Hartz IV hinter uns.“, Website der SPD vom 7.2.2019, https://www.spd.de/aktuelles/detail/news/wir-lassen-hartz-iv-hinter-uns/07/02/2019/ (27.3.2019).
  • 3 K. Bruckmeier, D. Schnitzlein: Was wurde aus den Arbeitslosenhilfeempfängern?, IAB-Discussion Paper, Nr. 24, Nürnberg 2007.
  • 4 J. Goebel, M. Richter: Nach der Einführung von Arbeitslosengeld II: Deutlich mehr Verlierer als Gewinner unter den Hilfeempfängern, in: DIW Wochenbericht, 74. Jg. (2007), H. 50, S. 753-761.
  • 5 I. Becker, R. Hauser: Verteilungseffekte der Hartz-IV-Reform, Berlin 2006.
  • 6 Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung an der Universität Tübingen: Aktualisierung der Berichterstattung über die Verteilung von Einkommen und Vermögen in Deutschland im Auftrag des BMAS, Bonn 2013, https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Publikationen/a415-4-aktualisierung-pdf.pdf?__blob=publicationFile (27.3.2019).
  • 7 SGB III §1(3).
  • 8 SGB II §10(2).
  • 9 A. Hirseland, P. R. Lobato: Armutsdynamik und Arbeitsmarkt, IAB Forschungsbericht, Nr. 3/2010, Nürnberg; sowie L. Diaz-Serrano, D. O‘Neill: The Relationship between Unemployment and Risk-Aversion, IZA Discussion Paper, Nr. 1214, 2004.
  • 10 T. Graf, H. Rudolph: Dynamik im SGB II 2005-2007: Viele Bedarfsgemeinschaften bleiben bislang bedürftig, IAB Kurzbericht, Nr. 5/2009, Nürnberg.
  • 11 Mittlerweile werden für den Rückgang der Arbeitslosigkeit und das Entstehen zusätzlicher Beschäftigungsverhältnisse nur in geringem Umfang die Hartz-IV-Reform als Ursache vermutet. Vgl. für einen Überblick T. Krebs: Welche Auswirkungen die Hart IV-Reform auf den Rückgang der Arbeitslosigkeit hatte, Makronom, 5.3.2019, https://makronom.de/welche-auswirkungen-die-hartz-iv-reform-auf-den-rueckgang-der-arbeitslosigkeit-hatte-29949 (1.4.2019).
  • 12 K. Brenke: Hartz IV: starker Rückgang der Arbeitslosen, aber nicht der Hilfebedürftigen, in: DIW Wochenbericht, 85. Jg. (2018), H. 34, S. 718-729.
  • 13 K. Bruckmeier, T. Lietzmann, T. Rothe, A.-T. Saile: Langer Leistungsbezug ist nicht gleich Langzeitarbeitslosigkeit, in: IAB Kurzbbericht Nr. 20/2015, Nürnberg.
  • 14 K. Bruckmeier, J. Eggs, C. Himsel, M. Trappmann, U. Walwei: Steinig und lang – der Weg aus dem Leistungsbezug, IAB Kurzbericht, Nr. 14/20013, Nürnberg.
  • 15 H. Rudolph: „Aufstocker“: Folge der Arbeitsmarktreformen?, in: WSI Mitteilungen, Nr. 3/2014, S. 207-217.
  • 16 J. Zilius, O. Bruttel: Auswirkungen des gesetzlichen Mindestlohns – Bilanz nach fast vier Jahren, in: Wirtschaftsdienst, 98. Jg. (2018), H. 10, S. 711-717.
  • 17 M. M. Grabka, J. Goebel: Einkommensverteilung in Deutschland: Realeinkommen sind seit 1991 gestiegen, aber mehr Menschen beziehen Niedrigeinkommen, in: DIW Wochenbericht, 85. Jg. (2018), H. 9, S. 450-459.
  • 18 D. Spannagel, D. Seikel, K. Schulze Buschoff, H. Baumann: Aktivierungspolitik und Erwerbsarmut, WSI-Report, Nr. 36, Juli 2017.
  • 19 Gleichwohl zeigt ebenfalls eine SOEP-basierte Studie, dass es durchaus soziale Gruppen gab, deren Armutsrisiko stieg (Erwerbstätige mit Mini-Jobs) und von anderen Gruppen (Rentnerhaushalte), bei denen es eher gesunken ist; vgl. B. Binder, A. Haupt: Wohlstand für alle? Die Entwicklung einkommensschwacher Haushalte seit 2005, in: WSI Mitteilungen, 71. Jg. (2018), H. 5, S. 358-369.
  • 20 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR): Widerstreitende Interessen – ungenutzte Chancen, Jahresgutachten 2006/07, Wiesbaden 2006.
  • 21 Bundesverfassungsgericht Entscheidungen (BVerfGe) 125, 175 Rn. 138.
  • 22 J. Goebel, P. Krause: Einkommensentwicklung – Verteilung, Angleichung, Armut und Dynamik, in: Statistisches Bundesamt, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung in Zusammenarbeit mit dem Sozio-oekonomischen Panel (SOEP) am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) (Hrsg.): Datenreport 2018. Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2018, S. 229-253.
  • 23 Es wird jeweils berechnet, welcher Bevölkerungsanteil zu zwei Zeitpunkten am Anfang und Ende einer fünfjährigen Beobachtungsperiode in derselben Einkommensschicht (Quintilen) blieb (Verbleib) sowie welcher Anteil in höhere oder niedrigere Einkommensschichten wechselte.
  • 24 1997 bis 2001 (37,8 %), 2002 bis 2006 (41,1 %) sowie 2012 bis 2016 (44,6 %).
  • 25 Also weniger als 60 % des Medians des äquivalenzgewichteten jährlichen Haushaltsnettoeinkommens.
  • 26 OECD: OECD-Wirtschaftsberichte: Deutschland 2014, https://doi.org/10.1787/eco_surveys-deu-2014-de (1.4.2019).
  • 27 Das ursprüngliche Ziel war die 2008 von Armut betroffene Zahl von 80 Mio. um ein Viertel zu senken. J. Schupp: Armut in Europa – Ist die ambitionierte Zielgröße noch zeitgemäß?, in: DIW Wochenbericht, 78. Jg. (2011), H. 46, S. 20.
  • 28 Vgl. Eurostat: People at risk of poverty or social exclusion, https://ec.europa.eu/eurostat/tgm/refreshTableAction.do?tab=table&plugin=0&pcode=t2020_50&language=en (28.3.2019).
  • 29 Ziel 10(1) vgl. https://www.un.org/Depts/german/gv-70/band1/ar70001.pdf.
  • 30 Vgl. M. M. Grabka, J. Goebel: Realeinkommen sind von 1991 bis 2014 im Durchschnitt gestiegen – erste Anzeichen für wieder zunehmende Einkommensungleichheit, in: DIW Wochenbericht, 84. Jg. (2017), H. 4, S. 71-82.
  • 31 „Fördern statt Fordern“, in: Süddeutsche Zeitung vom 4.6.2018, S. 16, https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/forum-foerdern-statt-fordern-1.4000277.
  • 32 P. Eisnecker, J. Adriaans, S. Liebig: Was macht Gerechtigkeit aus? Deutsche WählerInnen befürworten über Parteigrenzen hinweg das Leistungs- und das Bedarfsprinzip, DIW aktuell, Nr. 17, 2018.
  • 33 G. A. Horn, J. Behringer, S. Gechert, K. Rietzler, U. Stein: Was tun gegen die Ungleichheit?, IMK Report der Hans-Böckler-Stiftung, Nr. 129, 2017.
  • 34 Vgl. die Vorschläge von S. Bach, G. Corneo, V. Steiner: Effective Taxation of Top Incomes in Germany, in: German Economic Review, 14. Jg. (2012), H. 2, S. 115-137; sowie S. Bach, H. Buslei: Wie können mittlere Einkommen beim Einkommenssteuertarif entlastet werden?, in: DIW Wochenbericht, 84. Jg. (2017), H. 20, S. 391-399.

Arbeitslosenversicherung stärken! Sozialgesetzbuch III und II harmonisieren!

Die Kritik an Hartz IV und die Forderungen nach Veränderungen sind nicht neu, sondern begleiten das Gesetz „Grundsicherung für Arbeitsuchende“ seit seiner Inkraftsetzung im Jahr 2005. Auffällig bei der kontroversen Debatte ist, dass nahezu ausschließlich die Arbeitsmarktwirkungen und deren soziale Folgen thematisiert werden. Das ist aber zu einseitig. Schon die gesetzliche Bezeichnung „für Arbeitsuchende“ führt in die Irre. Denn das Regime des Sozialgesetzbuchs (SGB) II enthält weit mehr als arbeitsmarktbezogene Regelungen, es ist ein umfassendes sozialpolitisches Gesetz, das für nahezu die gesamte Bevölkerung das Existenzminimum sicherstellen soll und dem Bedürftigkeitsprinzip folgt: Von den insgesamt 6,1 Mio. Leistungsempfängern nach dem SGB II waren Ende 2018 nur knapp 28 % auch arbeitslos. Unter den Leistungsempfängern befinden sich in erster Linie Kinder, Personen in Ausbildung, in Maßnahmen der Arbeitsförderung und in Erwerbstätigkeit (Aufstocker) sowie Alleinerziehende, denen eine Erwerbstätigkeit nicht zugemutet wird. Die Diskussion über Sanktionen, Fordern und Fördern, Niedriglöhne und Abbau der Arbeitslosigkeit beschränkt sich also nur auf einen Teil der Leistungsempfänger. Rechnet man noch die über 1 Mio. Leistungsempfänger der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung hinzu, die allesamt nicht arbeitslos sind und auch nicht dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, aber deren Leistungen sich ebenfalls nach dem Bedürftigkeitsprinzip ausrichten, verschieben sich die Dimensionen noch stärker. Bezogen auf diesen großen Personenkreis der nichtarbeitslosen Grundsicherungsempfänger muss sich die politische wie die wissenschaftliche Debatte auf Fragen nach der angemessenen Höhe der Regelbedarfe, nach der Höhe und Ausgestaltung von Freibeträgen bei der Anrechnung von Einkommen und Vermögen sowie nach Maßnahmen zur Überwindung des Langzeitleistungsbezugs und zur Verbesserung der Teilhabechancen konzentrieren.

Aber natürlich markiert der Blick auf die Verbindung zwischen Hartz IV und Arbeitsmarkt einen sehr entscheidenden Punkt. Im Jahr 2018 fielen rund zwei Drittel der registrierten Arbeitslosen in den Rechtskreis des SGB II, nur noch ein Drittel in den des SGB III. Die Arbeitslosenversicherung spielt hinsichtlich der sozialen Absicherung bei Arbeitslosigkeit also nur noch eine nachrangige Rolle. Die administrative Zuordnung der Arbeitslosen zu den Arbeitsagenturen (Rechtskreis SGB III) und Jobcentern (Rechtskreis SGB II) folgt dieser Zweigleisigkeit.

Bedeutungsverlust der Arbeitslosenversicherung

Der Tatbestand, dass eine Arbeitslosenversicherung nicht alle Arbeitslosen erfasst bzw. erfassen kann, ist nicht neu. Denn gemäß dem Versicherungsprinzip ist der Leistungsbezug nicht nur vom Eintritt des Risikos, sondern auch von der Erfüllung von Anspruchsvoraussetzungen abhängig. Zudem ist die Leistungsdauer befristet. Bei gegebenen Anspruchsvoraussetzungen (Wartezeit, Rahmenfrist) und bei gegebenen Regelungen der Höchstleistungsdauern kommt es bei einer anhaltenden Arbeitslosigkeit und insbesondere bei einem hohen Sockel von Langzeitarbeitslosen dazu, dass ein wachsender Teil der Arbeitslosen die Leistungsvoraussetzungen nicht erfüllt oder die Leistungsdauer überschreitet.1 Wenn sich zudem auf dem Arbeitsmarkt Arbeitsverhältnisse ausbreiten, die nur von kurzer Dauer sind (Befristungen, Leiharbeit) oder die nicht der Versicherungspflicht unterliegen (so vor allem Minijobs), erhöht sich das Risiko, keine Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung beanspruchen zu können.

Die vom Bund finanzierte vormalige Arbeitslosenhilfe nahm eine Zwischenstellung zwischen einer Versicherungs- und Fürsorgeleistung ein: Sie knüpfte einerseits an einen ausgelaufenen Anspruch auf Arbeitslosengeld an und war durch Bezugnahme auf das vorhergehende Erwerbseinkommen mit einem Einkommens- und Statusschutz versehen. Andererseits waren die Leistungen unbefristet, aber in ihrer Höhe abgesenkt und einkommensgeprüft. Diese Zwischenstellung kam auch darin zum Ausdruck, dass die Bedürftigkeitsprüfung (Anrechnung von Einkommen und Vermögen) und die Zumutbarkeitsanforderungen weitaus weniger streng waren als bei der Sozialhilfe.

Bekanntermaßen wurde die Arbeitslosenhilfe mit der Einführung des SGB II ersatzlos abgeschafft. Die gängige Formulierung, dass durch das Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (Hartz IV) die Arbeitslosenhilfe mit der Sozialhilfe zusammengeführt worden ist, legt nahe, dass zentrale Merkmale der Arbeitslosenhilfe (so vor allem Individualprinzip, Bemessung am vorherigen Arbeitsentgelt, Einkommens- aber keine Bedürftigkeitsprüfung) beibehalten worden sind. Das ist aber gerade nicht der Fall. Das neu eingeführte Arbeitslosengeld II entsprach und entspricht vielmehr weitgehend den Bestimmungen der bisherigen Hilfe zum Lebensunterhalt. Restelement, das eine Verbindung zum vorherigen Einkommen herstellte, war ein sogenannter Zuschlag zum Arbeitslosengeld II. Er sollte den Einkommensverlust beim Übergang vom damaligen Arbeitslosengeld zum Arbeitslosengeld II abfedern. Aber auch dieser Zuschlag ist wenige Jahre später, im Rahmen des Haushaltsgesetzes 2011, kurzerhand gestrichen worden.

Hinzu kommt, dass in einer Art Doppelstrategie 2004 schon vor dem Hartz-IV-Gesetz mit dem Gesetz zu Reformen am Arbeitsmarkt auch die Leistungsvoraussetzungen und -bedingungen des Arbeitslosengelds erheblich verschlechtert wurden:

  • Verkürzung der maximalen Leistungsdauer auf Arbeitslosengeldzahlung auf zwölf Monate, wenn ein Versicherungspflichtverhältnis von 24 Monaten erfüllt ist: Der verlängerte Arbeitslosengeldbezug für Ältere (über 55 Jahre) wird auf 18 Monate verkürzt. Vordem konnten Versicherte im Maximum (nach Vollendung des 57. Lebensjahrs) bis zu 32 Monate Arbeitslosengeld beziehen.
  • Verkürzung der Rahmenfrist von 36 Monaten einer versicherungspflichtigen Beschäftigung auf mindestens 24 Monate.

Im Ergebnis haben sich damit durch politische Entscheidungen Schutzwirkung und Reichweite der Arbeitslosenversicherung massiv verringert. Wesentliche Veränderungen im Bereich der Arbeitslosenversicherung hat es bis auf eine Ausnahme seitdem nicht mehr gegeben. Die Ausnahme betrifft die Verlängerung der maximalen Bezugsdauer von Arbeitslosengeld für Ältere (nach Vollendung des 58. Lebensjahrs) auf 24 Monate ab 2008. Die mehrmalige Verlängerung einer Sonderregelung im SGB III (sogenannte verkürzte Anwartschaftszeit von sechs Monaten) spielt hingegen nur eine nachrangige Bedeutung, da sie auf den Bereich der Kreativ- und Kulturschaffenden begrenzt ist, ohne dass dafür eine Begründung ersichtlich ist.

Überschätzte Bedeutung des Forderns und Förderns

Es kann wenig Zweifel daran geben, dass der Übergang zum SGB II einem Paradigmenwechsel in der Sozialpolitik allgemein und in der Arbeitsmarktpolitik im Besonderen gleichkommt. Handlungsleitend war, dass in Wissenschaft und Politik Sichtweisen und Deutungsmuster Oberhand gewonnen haben, die die Arbeitslosigkeit nicht mehr auf gesamtwirtschaftliche Verwerfungen, auf Ungleichgewichte zwischen Angebot und Nachfrage auf der Makro-Ebene des Arbeitsmarktes zurückführen, sondern vielmehr auf die Eigenschaften, Fähigkeiten und Verhaltensweisen der Arbeitslosen. Statt der ökonomischen Verhältnisse wird das individuelle Verhalten zum Problem. Arbeitslosigkeit und vor allem Langzeitarbeitslosigkeit erscheinen in diesem Licht als Folge unzureichender Arbeitsfähigkeit und Arbeitsbereitschaft. Großzügig ausgestaltete und dauerhafte Sozialleistungen, deren Höhe wie das Arbeitslosengeld und auch die Arbeitslosenhilfe am vormaligen Einkommen bemessen wird, verstärken danach diesen Verhärtungsprozess, da die Arbeitslosen sich in der Arbeitslosigkeit „einrichten“ und nicht bereit sind, offene Arbeitsstellen anzunehmen – dies insbesondere dann nicht, wenn die Arbeit gering entlohnt wird.

Diesen Grundannahmen über die Funktionsweise von Arbeitsmärkten folgend ist das SGB II konsequent auf die Aktivierung der Arbeitslosen ausgerichtet, sodass sie am ersten, regulären Arbeitsmarkt wieder Fuß fassen können. Deren Defizite und Schwächen sollen ausgeglichen, Beschäftigungsfähigkeit, Arbeits- und Konzessionsbereitschaft gestärkt, die Sicherung bei Arbeitslosigkeit ausgedünnt und der Niedriglohnsektor ausgeweitet werden. Die individuelle, durch Eigeninitiative bekundete Bereitschaft, eine Arbeit im ersten Arbeitsmarkt aufzunehmen, gilt dann gleichsam als „Pflicht“; die Nicht-Erfüllung dieser Pflichten wird durch Sanktionen bestraft.

Bis heute findet diese Ausrichtung des SGB II durch die These politische Legitimation, die Maßnahmen seien zwar in ihren sozialen Auswirkungen durchaus schmerzlich gewesen, hätten aber letztlich zum Abbau der Arbeitslosigkeit geführt. Die günstige Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt wird dafür als Beweis angeführt.2 Die vorliegenden ökonomischen Analysen und Daten weisen indes darauf hin, dass es sich sowohl bei der Zunahme der Arbeitsnachfrage und des Arbeitsvolumens als auch beim Rückgang von Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung primär um gesamtwirtschaftliche Niveaueffekte handelt. Diese sind bereits vor dem Inkrafttreten der Hartz-Gesetze eingetreten und haben sich seitdem über Jahre hinweg fortgesetzt. Ein sich selbst verstärkender Dauer-Effekt der Hartz-Gesetze, der bis hin zum aktuellen Rand für den kontinuierlichen Beschäftigungsaufbau kausal verantwortlich ist, lässt sich nicht erkennen. Der anhaltende Aufschwung wie auch die schnelle Überwindung der internationalen Finanzkrise waren im Wesentlichen von der Zunahme des Exports aus dem verarbeitenden Gewerbe getragen, die sich vor allem auf die Entwicklung innovativer Produkte, die hohe Lieferzuverlässigkeit und Fertigungsqualität, im Kern also auf Erfolge in der Innovations- und Qualifizierungspolitik und nicht auf niedrige Löhne und abgesenkte Leistungen bei Arbeitslosigkeit, zurückführen lässt. Hinzu kommen die Auswirkungen der temporären Arbeitszeitverkürzungen und des rasanten Zuwachses der Teilzeitarbeit.

Unverkennbar ist, dass sich in den letzten Jahren das Verhältnis von offenen Stellen zu Arbeitslosen günstiger entwickelt hat und offene Stellen schneller besetzt worden sind. Wenn aber Arbeitsplätze fehlen und Arbeitslose um offene Stellen konkurrieren müssen, führen auch die stärkste Arbeitsmotivation, die größten finanziellen Arbeitsanreize und die umfassendste Mobilität nicht zu einem Beschäftigungsaufbau. Die auch aktuell immer noch sehr hohe Arbeitslosigkeit in einzelnen Regionen erklärt sich aus der regionalen Wirtschaftsstruktur. Auch Sanktionen können erst auf die Weigerung gegenüber einem konkreten Vermittlungs- oder Eingliederungsangebot erfolgen. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass Arbeitsmotivation und Arbeitsanreize in Regionen mit hohen Arbeitslosenquoten, gering sind.

Soziale Folgen

Die Schutzwirkung der Arbeitslosenversicherung begrenzt sich auf den besser gestellten, anteilig aber immer kleiner werdenden Kreis der Arbeitslosen, die aus einer versicherungspflichtigen Beschäftigung heraus arbeitslos werden, die die Anwartschaftszeit und Rahmenfrist erfüllen und die ihre Arbeitslosigkeit zügig beenden. Langzeitarbeitslose sind deshalb weit überwiegend dem SGB II zugeordnet. Für die Betroffenen erwachsen daraus Gerechtigkeitsprobleme. Arbeitslose, die bis zum Ende der Bezugsdauer des Arbeitslosengelds keinen Arbeitsplatz finden, dafür auch nicht „verantwortlich“ sind und auf das Leistungsniveau der Grundsicherung herabgestuft werden, sehen sich trotz langjähriger vorheriger Beschäftigung und Beitragszahlung mit denjenigen gleichgestellt, die überhaupt noch keine Beiträge gezahlt haben. Die Logik der Leistungsgerechtigkeit wird abrupt abgelöst durch die Logik einer Bedarfsgerechtigkeit auf unterem Niveau, nach der die frühere Erwerbstätigkeit, die Qualifikation und der erreichte berufliche Status keine Bedeutung mehr haben.

Die soziale Hierarchisierung zwischen den besser gestellten Arbeitslosen in der Arbeitslosenversicherung des SGB III und den schlechter gestellten Arbeitslosen im Fürsorgesystem SGB II bezieht sich allerdings nicht nur auf soziale Absicherung, sondern auch auf den Zugang in arbeitsmarktpolitische Maßnahmen und auf die Chancen einer nachhaltigen Wiedereingliederung in den ersten Arbeitsmarkt. Denn im Unterschied zum SGB III gilt nach dem SGB II jede Arbeit als zumutbar, die nicht gegen Gesetze oder gute Sitten verstößt, ungeachtet des vorherigen Einkommens oder der Qualifikation. Eine tarif- oder ortsübliche Entlohnung ist ebenfalls kein Maßstab für die Zumutbarkeit. Durch die erzwungene Aufnahme einer unterwertigen, nicht qualifikationsgerechten Beschäftigung droht die Gefahr eines beruflichen und sozialen Abstiegs. Das Arbeitslosengeld II erweist sich weder als „Abfederung“ noch als „Sprungbrett“ nach oben.

Vergleicht man die Ziele, die der Gesetzgeber mit dem SGB III und dem SGB II verbindet, wird die untergeordnete, ja residuale Aufgabe des SGB II überdeutlich. Nach § 1 SGB III ist es unter anderem Aufgabe der Arbeitsförderung, die Transparenz auf dem Arbeitsmarkt zu erhöhen, die berufliche und regionale Mobilität zu unterstützen, die individuelle Beschäftigungsfähigkeit zu fördern und unterwertiger Beschäftigung entgegenzuwirken. Zwar ist das Gesetz mit dem SGB II auf denselben Arbeitsmarkt orientiert, aber die oben genannten Zielsetzungen des SGB III spielen keine Rolle. Die Grundsicherung für Arbeitsuchende soll lediglich die Erwerbsfähigkeit der Leistungsberechtigten (und eben nicht die Beschäftigungsfähigkeit) erhalten, verbessern oder wieder herstellen und die Leistungsberechtigten bei der Aufnahme oder Beibehaltung einer Erwerbstätigkeit unterstützen. Abgestellt wird darauf, dass die Hilfebedürftigkeit möglichst schnell vermieden oder beseitigt, die Dauer der Hilfebedürftigkeit verkürzt oder ihr Umfang verringert wird. Im Kern stehen damit kurzzeitige Aktivierungs- und Eingliederungsmaßnahmen, die schnelle Überwindung des Leistungsbezugs im Vordergrund. Von Anforderungen an die Art und Qualität der Beschäftigung (z. B. Vermeidung von unterwertiger Beschäftigung) ist hier nicht die Rede.

Harmonisierung von SGB III und SGB II

Eine SGB-II-Arbeitsförderung zweiter Klasse, die auf die Qualität der Arbeit keinen Wert legt, berufliche Abstiege und soziale Ausgrenzung nicht verhindert und auf kurzfristige Eingliederungserfolge nach dem Motto „Hauptsache Arbeit“ setzt, ist nicht nachhaltig und läuft Gefahr, einer politischen Stimmung des Rechtspopulismus noch Nahrung zu geben. Da beide Regime auf ein und denselben Arbeitsmarkt ausgerichtet sind, ist es uneinsichtig, warum die Ziele des SGB III nicht auch für das SGB II gelten sollen. Wenn es schon nicht möglich ist, das Nebeneinander der Regime von SGB II und SGB III zu überwinden, dann ist zumindest eine Anpassung der Ziele des SGB II an die des SGB III geboten. So kann die Ausdünnung der Arbeitslosenversicherung gewissermaßen „qualitativ“ eingedämmt werden. Das würde dann nämlich auch bedeuten, die Regeln zumutbarer Arbeit und die Sanktionsnormen des SGB II an die des SGB III anzupassen und den Arbeitslosen im SGB II den gleichen und gleichberechtigten Zugang zu den Leistungen der Arbeitsförderung zu verschaffen.

Das ändert allerdings noch nichts daran, dass das Arbeitslosengeld II keinen Bezug zum vormaligen Erwerbseinkommen aufweist und dass es kein Verbindungsglied zwischen Versicherung und Fürsorge gibt. Deshalb muss es darum gehen, die Schutzwirkung der Arbeitslosenversicherung auch „quantitativ“ auszudehnen, so dass wieder mehr Arbeitslose, die jetzt trotz einer Beitragszahlung leer ausgehen, Anspruch auf eine Versicherungsleistung haben. Setzt sich hingegen der Bedeutungsverlust fort, verliert eine Pflichtversicherung mit einer nur noch geringen Schutzwirkung, ihre Legitimation und Akzeptanz. Um dies zu verhindern, bieten sich mehrere Ansatzpunkte:

  • Die Rahmenfrist sollte von zwei auf drei Jahre verlängert werden, sodass die alte Regelung wieder hergestellt wird. Erfreulicherweise weist das Qualifikationschancengesetz in diese Richtung, bleibt jedoch auf dem halben Weg stecken. Die Rahmenfrist wird von 24 auf lediglich 30 Monate verlängert. Zu bedeutenden quantitativen und fiskalischen Effekten führt dies allerdings nicht, die Zahl der neu zugehenden Arbeitslosen, die dadurch anspruchsberechtigt werden, bleibt begrenzt.
  • Die Anwartschaftszeit von zwölf Monaten sollte von zwölf Monaten auf sechs Monate verkürzt werden. Arbeitnehmer, die innerhalb der (erweiterten) Rahmenfrist bereits nach einer kurzfristigen Beschäftigung ihren Arbeitsplatz verlieren, hätten dann zumindest einen Anspruch auf drei Monate Arbeitslosengeldbezug und damit eine bessere materielle Grundlage, um einen neuen Arbeitsplatz zu suchen. Die mehrfache Verlängerung der schon erwähnten Sonderregelung zur verkürzten Anwartschaftszeit für überwiegend kurzfristig Beschäftigte reicht nicht aus. Es gibt keinen nachvollziehbaren Grund dafür, warum diese sehr spezifische und verwaltungsaufwendige Regelung nicht verallgemeinert werden sollte.
  • Die maximale Bezugsdauer des Arbeitslosengelds sollte behutsam verlängert werden. Belege für die These, dass dies die Motivation zur Arbeitsaufnahme und zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt schwäche, gibt es nicht. Übersehen wird dabei ja nicht zuletzt, dass der Zahlbetrag des Arbeitslosengelds alles andere als „hoch“ einzuschätzen ist. Durch eine verlängerte, auch nach Altersgruppen und Vorversicherungszeiten gestaffelte, Bezugsdauer kann gerade für langjährige Beitragszahler die Schutzwirkung der Versicherung ausgedehnt und die Grundsicherung entlastet werden. Ein Weg könnte sein, ein verlängertes „Arbeitslosengeld Q“ einzuführen. Arbeitslosen, die nicht innerhalb von drei Monaten eine neue Stelle finden, sollte danach die Arbeitsagentur eine Qualifizierungsmaßnahme anbieten und für die Dauer dieser Weiterbildung ein verlängertes, reguläres Arbeitslosengeld zahlen.
  • Das Gerechtigkeitsproblem, dass Arbeitslose, die langjährig Beiträge gezahlt haben, nach dem Auslaufen des Anspruchs auf Arbeitslosengeld auf dasselbe Leistungsniveau der Grundsicherung verwiesen werden, wie Personen, die neu in den Arbeitsmarkt einsteigen, erweist sich bei einen Versicherungssystem mit einer begrenzten Bezugsdauer als systemimmanent. Es mindert sich, wenn die maximale Bezugsdauer des Arbeitslosengelds heraufgesetzt wird, aber löst sich nicht auf. Die vormalige Arbeitslosenhilfe war eine Antwort auf dieses Problem. Zwar geht es nicht darum, sie wiederherzustellen. Aber es sollte geprüft werden, ob eine zeitlich befristete „Zwischenleistung“ zwischen Versicherung und Fürsorge eingeführt werden könnte. Ein Schritt in diese Richtung sollte sein, nicht nur den Vermögensfreibetrag zu erhöhen, sondern auch auf die Anrechnung von Vermögen in den ersten Monaten des Leistungsbezugs zu verzichten. Für die Betroffenen wäre es darüber hinaus eine nicht zu unterschätzende Erleichterung, wenn die angestammte Wohnung auf jeden Fall beibehalten werden könnte.
  • 1 In einer Konjunkturkrise, die mit einem Arbeitsplatzabbau und Massenentlassungen einhergeht, steigt der relative Anteil der Empfänger der Versicherungsleistung. Im umgekehrten Fall, bei nur wenigen Neuzugängen aus Beschäftigung in Arbeitslosigkeit, sinkt der Anteil.
  • 2 Siehe unter anderem die Jahresgutachten des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR); und das Interview von B. Marschall mit dem Vorsitzenden des SVR C. Schmidt: Wirtschaftsweise gegen Hartz-IV-Abschaffung, RP-Online vom 22.11.2018, https://rp-online.de/politik/deutschland/wirtschaftsweise-gegen-abschaffung-von-hartz-iv_aid-34634833 (10.4.2019).

Title:Hartz IV – Reform of a Controversial Political Measure

Abstract:Hartz IV has been in force since 2005. The law has combined unemployment benefits and social assistance. Since it came into force, unemployment has fallen significantly. Whether this was mainly due to the Hartz IV reform or other causes were responsible for the positive development remains controversial. The number of people in need of assistance has hardly decreased and the working poor has increased significantly since 2004. This development suggests that the benefits of the Social Code II (SGB II) do not partially benefit the originally-targeted group of people and that some credits and sanctions were not always proportionate and incentive-compatible with different affected groups, e.g. with regard to the employed beneficiaries. Various changes have therefore been proposed: assets should be credited according to less stringent criteria and additional earnings should be credited at a lower percentage rate; the employment biography should be taken into account and thus preference should be given to long-term employees; alternatives to the Social Code II should be strengthened, for example by increasing the basic tax allowance and better coordination with the overall tax transfer system.

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DOI: 10.1007/s10273-019-2439-3

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