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Im Januarheft 2019 veröffentlichte der Wirtschaftsdienst einen Aufsatz von Michael Grömling, Michael Hüther und Markos Jung dazu, wie der tatsächliche Umfang des öffentlichen Kapitalstocks gemessen werden sollte. Die Autoren vertreten dabei die Auffassung, dass der Fokus auf die Entwicklung des Bruttokapitalstocks gerichtet werden sollte. Sebastian Dullien und Katja Rietzler sehen das differenzierter. Im Anschluss erläutern die Autoren ihren Standpunkt in einer Erwiderung.

Betrachtung des Bruttokapitalstocks mit massiven Schwierigkeiten behaftet – eine Replik

Von Sebastian Dullien, Katja Rietzler

In der Januar-Ausgabe des Wirtschaftsdienst 2019 haben sich Michael Grömling, Michael Hüther und Markos Jung1 (im Folgenden Grömling et al.) gegen die weit verbreitete These gewandt, Deutschland verzehre seinen öffentlichen Kapitalstock und die öffentliche Hand müsse deshalb deutlich mehr investieren. Dabei fokussieren die Autoren auf drei Hauptpunkte:

  1. Die vielfach in der öffentlichen Debatte benutzte Messgröße des Nettokapitalstocks sei nicht aussagekräftig, weil der Nettokapitalstock zwar Wertverluste abbilde, diese Wertverluste aber gesamtwirtschaftlich irrelevant seien, da die Anlagegüter bis zu ihrem Ausscheiden noch volkswirtschaftlich voll produktiv seien.
  2. Bei Betrachtung des vermeintlich relevanteren Bruttokapitalstocks könne man von einem Kapitalverzehr der deutschen öffentlichen Hand nicht mehr sprechen: Insgesamt sei das Bruttoanlagevermögen kontinuierlich weiter gestiegen (während das Nettoanlagevermögen von 2001 bis 2017 in der Summe stagniert habe). In einer Pro-Kopf-Betrachtung sei lediglich eine Stagnation seit 2011 zu beobachten, allerdings kein Rückgang.
  3. Damit sei die Forderung der Fratzscher-Kommission2 nach einer haushaltsrechtlichen Verpflichtung zu Mindestinvestitionen in Höhe der Abschreibungen auf das staatliche Vermögen verfehlt. Stattdessen müsse der Staat differenziert entscheiden, in welchen Bereichen mehr investiert werden müsse. Hier nennen die Autoren vor allem kommunale Verkehrsinvestitionen.

Während die Autoren dabei einige wichtige und relevante Punkte aufzeigen, gehen die Schlussfolgerungen aus unserer Sicht zu weit. Zwar lässt der Nettokapitalstock in der Tat keinen genauen Aufschluss über den tatsächlich zur Verfügung stehenden produktiven öffentlichen Kapitalstock zu, die Betrachtung des Bruttokapitalstocks ist aber ebenfalls mit massiven Schwierigkeiten behaftet. Die von den Autoren vorgebrachte Pro-Kopf-Betrachtung greift außerdem für eine wachsende Volkswirtschaft zu kurz. Bei den Schlussfolgerungen kann man den Autoren zustimmen, dass eine plumpe Verpflichtung zu einem gewissen Niveau der Nettoinvestitionen für alle Gebietskörperschaften wohl verfehlt wäre. Dennoch besteht aber in der Summe ein massiver Investitionsbedarf der öffentlichen Hand.

Nettokapitalstock ist nicht aussagekräftig, Bruttokapitalstock aber auch nicht

Grömling et al. argumentieren, dass Nettoinvestitionen bzw. der Nettokapitalstock nicht das ausdrückten, was regelmäßig hineininterpretiert werde, nämlich einen physischen Werteverzehr. Tatsächlich wird das Nettoanlagevermögen durch Abzug der rechnerischen Abschreibungen vom Bruttovermögen ermittelt. Diese Abschreibungen basieren auf der durchschnittlichen Nutzungsdauer und spiegeln die durchschnittlich erwartete Wertminderung durch Verschleiß und Veralten wider. Laut Grömling et al. ist hier zentral, dass es sich bei den Abschreibungen nicht um physischen Verschleiß handle, sondern das Nettoanlagevermögen vielmehr den „Zeitwert des Anlagevermögens“ widerspiegele, der zudem den getätigten Unterhaltungsaufwand ignoriere. Auch könne aufgrund des technischen Fortschritts der notwendige Ersatz wertmäßig geringer sein als die Abschreibungen. Damit sei nicht der Nettokapitalstock für den Produktionsprozess relevant, sondern das Bruttoanlagevermögen – unabhängig von seinem mit dem Nettokapitalstock erfassten Verkaufswert.

Da eine Generalinventur des gesamten (staatlichen) Anlagevermögens fehlt, ist man allerdings auch für das Bruttoanlagevermögen auf Modellrechnungen angewiesen. Der Bruttokapitalstock wird in der Statistik nach der Perpetual-Inventory- bzw. Kumulationsmethode berechnet. Dabei wird ein Anfangsbestand mit den Bruttoanlageinvestitionen fortgeschrieben und um statistisch erwartbare sowie durch Sonderereignisse wie den Atomausstieg hervorgerufene Abgänge korrigiert.3 Im Ergebnis erhalte man nutzbare Anlagegüter zum Neuwert, so Grömling et al. Diese Größe sei relevant, wenn es um die Leistungsfähigkeit des öffentlichen Kapitalstocks gehe.

Abbildung 1
Wachstum von Bruttoinlandsprodukt (BIP), Verkehrsaufkommen und Bevölkerung, 2010 bis 2017
Wachstum von Bruttoinlandsprodukt (BIP), Verkehrsaufkommen und Bevölkerung, 2010 bis 2017

Quellen: Destatis. Macrobond; Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur; eigene Berechnungen.

Der Sichtweise, dass die Nettogrößen nur eingeschränkt aussagefähig sind, muss man nicht widersprechen. In der Tat spiegelt das Nettovermögen nicht den Umfang und Zustand der öffentlichen Infrastruktur wider. Das Problem ist nur, dass dies auch für das Bruttovermögen gilt. Zu Recht schreibt das Bundesfinanzministerium hinsichtlich der Zugrundelegung des Bruttoanlagevermögens: „Grundvoraussetzung ist allerdings, dass ‚im Produktionsprozess jeweils das ganze Anlagegut eingesetzt wird, egal wie alt es ist, und Jahr für Jahr in etwa den gleichen Produktionsoutput ermöglicht – regelmäßige Wartung und Reparatur vorausgesetzt.‘“4

Diese Annahmen dürften in der Realität häufig verletzt sein. Zum einen ist es nicht plausibel, dass alle öffentlichen Anlagegüter immer perfekt gewartet und repariert sind. Jenseits der anekdotischen Evidenz sprechen auch quantitative Erhebungen gegen eine solche Annahme.5 So waren am 1.9.2018 nach Erhebungen der Bundesanstalt für Straßenwesen 13,7 % der Brücken an Bundesautobahnen in „nicht ausreichendem“ oder „mangelhaften“ Zustand.6 Dieser Zustand ist dabei oftmals weit vor der angesetzten Nutzungsdauer erreicht. Für Stahlbetonbrücken wird für die öffentliche Hand mit einer Nutzungsdauer von 50 bis 100 Jahren (also im Schnitt von 75 Jahren) gerechnet.7 Vor dem Jahr 1950 sind allerdings nur rund 1,9 % der Autobahnbrücken gebaut worden8 – ein weit geringerer Anteil als jene Brücken, die in schlechtem Zustand sind.

Abbildung 2
Bruttoinlandsprodukt (BIP) und öffentlicher Bruttokapitalstock
Bruttoinlandsprodukt (BIP) und öffentlicher Bruttokapitalstock

Quellen: Destatis. Macrobond; eigene Berechnungen.

Einen nicht mehr vollen Beitrag zur Produktion kann man bei Straßen und Brücken zudem erwarten, bevor der Zustand tatsächlich als problematisch eingestuft wird. Spurrillen oder andere Fahrbahnschäden führen zu vermehrten Unfällen oder einfach verstärkter Abnutzung der Fahrzeuge. Doch selbst bei perfekter Wartung und Reparatur dürfte der Beitrag eines Anlagegutes zum gesamtwirtschaftlichen Output über die Zeit abnehmen, da Reparaturen selber die Produktivität von Anlagegütern einschränken. Bei älteren Straßen müssen mehr Reparaturen vorgenommen werden als bei ganz neuen Straßen. Dabei kommt es – wie man regelmäßig als Autofahrer in Deutschland erleben kann – zu Teilsperrungen, die zu reduziertem Verkehrsfluss und geringer Geschwindigkeit führen.

Auch bei den Gebäuden spielen qualitative Aspekte eine große Rolle. Ein beträchtlicher Teil der öffentlichen Gebäude sind Bildungseinrichtungen. Motivation und Lernklima sind neben dem Lehrpersonal auch von qualitativen Aspekten des Gebäudes abhängig. Studien aus der USA belegen eine Korrelation zwischen dem Zustand von Schulgebäuden und Lernerfolgen.9

Deshalb ist die Sichtweise, dass jedes Anlagegut, solange es noch irgendwie nutzbar ist, voll berücksichtigt wird, problematisch. Auch das Argument, dass Ersatzinvestitionen aufgrund von technischem Fortschritt billiger werden, überzeugt nur begrenzt. Es mag für Teile der Ausrüstungen gelten, beispielsweise, weil Computer mit gleicher Leistung weniger kosten. Für staatliche Bauinvestition gilt dies nicht. Hier dürften die Kosten auch aufgrund von steigenden Standards (Energieeffizienz, Lärmschutz) eher zunehmen. Entsprechend zeigen sich weder bei den Deflatoren für staatliche Investitionen in Wohn- und Nichtwohnbauten noch bei den Baupreisindizes für Straßen anhaltende Preisrückgänge. Lediglich zwischen 1995 und 2005 gab es eine Phase stagnierender Preise mit leichten Rückgängen in einigen Jahren. Insgesamt haben die Preise für staatliche Bauinvestitionen von 1991 bis 2017 um durchschnittlich 1,7 % pro Jahr zugenommen und damit stärker als der BIP-Deflator oder der Deflator der inländischen Verwendung.

Zusammenfassend: Der Nettokapitalstock mag den produktiv verfügbaren Kapitalstock unterschätzen, der Bruttokapitalstock aber überschätzt ihn eindeutig. Wenngleich Abschreibungen keine Information über die tatsächliche physische Abnutzung enthalten, stehen sie dennoch in einem Zusammenhang mit dem nutzungsbedingten Verschleiß. Im Europäischen System Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen 2010 heißt es: „Abschreibungen messen die Wertminderung von Anlagegütern durch normalen Verschleiß und wirtschaftliches Veralten.“10 In Ermangelung besserer Daten scheint es daher durchaus gerechtfertigt, neben anderen Indikatoren auch die Nettoinvestitionen in den Blick zu nehmen, um abzuschätzen, wie es um die öffentliche Infrastruktur bestellt ist.

Pro-Kopf-Analyse unzureichend

Auch das zweite Argument von Grömling et al., man müsse den staatlichen Kapitalstock in einer Pro-Kopf-Betrachtung analysieren, ist trotz oberflächlicher Plausibilität nicht überzeugend.

Die Abbildung 3 im Text von Grömling et al. zeigt,11 dass in einer Pro-Kopf-Betrachtung der öffentliche (Brutto-)Kapitalstock sowohl nach Teilsektoren als auch nach Anlagearten selbst in den Jahren nach 2010 bestenfalls in Teilkategorien und nur marginal gefallen ist. Dabei legte der Bestand an Ausrüstungen und geistigem Eigentum weiter zu, während ab 2011 vor allem der Bestand an Wohnbauten und Nichtwohnbauten annähernd stagnierte. Daraus schließen die Autoren, dass man von einem Verzehr des Kapitalstocks nicht reden könne.

Abbildung 3
Bruttoanlageinvestitionen der Gebietskörperschaften1
Bruttoanlageinvestitionen der Gebietskörperschaften1

1 Die Bruttoanlageinvestitionen der Sozialversicherungen machten 1991 und 2017 weniger als 2 % der Bruttoanlageinvestitionen des Gesamtstaats aus. Sie werden daher hier vernachlässigt.

Quelle: Destatis: Arbeitsunterlage Investitionen, Abgrenzung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (Stand 30.11.2018).

Das Argument vernachlässigt aber, dass in einer Volkswirtschaft mit wachsendem Pro-Kopf-Einkommen ein nur stagnierender öffentlicher Pro-Kopf-Kapitalstock nach allen Plausibilitätsüberlegungen unzureichend ist. Die Zahl der benötigten Schulgebäude mag dabei noch am ehesten mit einer Pro-Kopf-Betrachtung abgedeckt werden.12 Schon bei Wohnbauten greift dieses Argument aber zu kurz: Mit steigenden Einkommen ist in Deutschland auch der Pro-Kopf-Konsum von Wohnfläche gestiegen. Außerdem sind mit höheren Energiestandards die Kosten für neue Wohnungen höher. Ein konstantes Bruttoanlagevermögen an Wohnbauten bedeutet damit eine fallende Zahl von Wohnungen aktuellen Standards im öffentlichen Eigentum und eine schrumpfende Bedeutung des öffentlichen Wohnungsbaus relativ zum Wohnungsmarkt insgesamt.

Noch problematischer wird eine Pro-Kopf-Betrachtung bei der Verkehrsinfrastruktur: Empirisch ist solide belegt, dass in der Vergangenheit mit wachsenden Einkommen sowohl der Personen- als auch der Güterverkehr zugenommen hat. Von 2010 bis 2017 etwa legte die Verkehrsleistung in Deutschland – je nach verwendeter Kennzahl – ähnlich stark wie das Bruttoinlandsprodukt (BIP) und deutlich stärker als das BIP pro Kopf zu (vgl. Abbildung 1). Diese Beobachtung steht dabei auch im Einklang mit dem gemessenen Anstieg der Verkehrsdichte, die über das Bevölkerungswachstum hinausgeht. Kurz: Auf einer bestehenden Menge Straßen wird zunehmend mehr Transport abgewickelt, und es kommt dabei zunehmend zu Engpässen. Auch theoretisch ist alles andere als klar, dass eine Pro-Kopf-Betrachtung die relevante Perspektive ist. Modelliert man in Wachstumsmodellen den öffentlichen Kapitalstock als komplementär zum privaten Kapitalstock (was ja durchaus plausibel ist), wird fragwürdig, warum das Wachstum des öffentlichen hinter jenem des privaten Kapitalstocks zurückbleiben sollte. Neben einer Betrachtung des öffentlichen Pro-Kopf-Kapitalstocks sollte deshalb – zumindest begleitend – auch der öffentliche Kapitalstock relativ zum BIP berücksichtigt werden. Und hier sieht man – selbst bei Konzentration auf den Bruttokapitalstock – eine aufklaffende Investitionslücke zumindest seit Mitte des ersten Jahrzehnts der 2000er Jahre (vgl. Abbildung 2).

Überzeugend ist dagegen das Argument von Grömling et al., dass eine generelle Verpflichtung zu Investitionen im Umfang der Abschreibungen nicht sinnvoll ist. Es ist plausibel, dass im Rahmen des Strukturwandels, der Verlagerung von Aufgaben zwischen den Ebenen im Föderalismus und angesichts von Bevölkerungswanderungen zwischen der Fläche und den Städten der Bedarf an öffentlichem Kapitalstock in einzelnen Gegenden und Bereichen schrumpft, in anderen aber wächst.

Zudem krankt die Debatte um einen Investitionsstau in Deutschland häufig daran, dass unzureichend zwischen staatlichen und privaten Investitionen sowie zwischen den unterschiedlichen staatlichen Teilsektoren und zwischen unterschiedlichen Anlagegütern differenziert wird. Das gilt für den Aufsatz im Monatsbericht des Bundesfinanzministeriums13 genauso wie für die oben erwähnte Forderung der Fratzscher-Kommission. Umso erstaunlicher ist, dass Grömling et al. dieses Argument nicht sauber durchdeklinieren. So schreiben sie: „Für wirtschaftspolitische Schlussfolgerungen ist schließlich relevant, wie die Entwicklung des staatlichen Anlagevermögens sich differenziert nach Gebietskörperschaften und nach Anlagekategorien darstellt.“14 Das ist richtig. Überraschend ist dann, dass Grömling et al. am Ende in ihrer Argumentation ebenso wie die Expertenkommission alles in einen Topf werfen, wenn sie schreiben: „Dem stagnierenden Kapitalstock der Kommunen, auf die freilich 55 % des staatlichen Anlagevermögens entfallen, stehen durchgehende Anstiege beim Kapitalstock von Bund und Ländern gegenüber.“15 Da die unterschiedlichen staatlichen Teilsektoren in ganz unterschiedliche Anlagegüter investieren (vgl. Abbildung 3), kann der Anstieg beim Kapitalstock von Bund und Ländern die Stagnation auf der kommunalen Ebene in keiner Weise ausgleichen. Forschungs- und Entwicklungsausgaben oder Rüstungsinvestitionen16 sind keine Maßnahmen gegen verfallende Schulen.

Interessant ist, dass Grömling et al., nachdem sie einen Verzehr des öffentlichen Kapitalstocks weitgehend negiert und entsprechende Befunde entkräftet haben („ausschließlich ein Bauphänomen“, „Es handelt sich also vorwiegend um einen Werteffekt.“) am Ende ihres Beitrags im starken Gegensatz zu ihrer vorangegangenen Argumentation durchaus eine „Schwächung der Infrastrukturinvestitionen“ ausmachen, die sie auch aus einer Umfrage des Instituts der deutschen Wirtschaft17 (IW) ableiten, wonach gegenüber 2013 eine wachsende Zahl von Unternehmen durch Mängel in der Infrastruktur in ihrer Tätigkeit beeinträchtigt wird. Neben dem Straßenverkehr werden in der Umfrage mit Kommunikation und Energieversorgung zwei Bereiche als problematisch identifiziert, die nicht dem im Artikel untersuchten Staatssektor zuzurechnen sind. Für die Frage nach einem Verzehr des staatlichen Kapitalstocks ist die angeführte IW-Umfrage somit nur eingeschränkt aussagefähig.

Abbildung 4
Nettobauinvestitionen der staatlichen Teilsektoren
in jeweiligen Preisen
Nettobauinvestitionen der staatlichen Teilsektoren

Quelle: Destatis: Arbeitsunterlage Investitionen, Abgrenzung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (Stand 30.11.2018).

Letztlich gelangen die Autoren aber auch auf der Grundlage ihrer Analyse des Kapitalstocks zum gleichen Ergebnis, zu dem auch eine auf den staatlichen Nettoinvestitionen basierende Argumentation führen würde (vgl. Abbildung 4) – nämlich, dass die Investitionstätigkeit insbesondere bei den Kommunen und dort hauptsächlich bei den Bauinvestitionen (Grömling et al. betonen Verkehrsinvestitionen) unzureichend ist. Als bedenklich werden das stagnierende Bruttoanlagevermögen und die leicht sinkende Kapitalintensität bei der Infrastruktur genannt. Letztlich sind aber das stagnierende Bruttovermögen und die negativen Nettoinvestitionen nicht unabhängig voneinander. Gerade, weil die Bruttoinvestitionen spürbar niedriger als in der Vergangenheit sind, fallen die Abschreibungen auf den durch frühere Investitionen aufgebauten Kapitalstock größer aus als die Bruttoinvestitionen.

Der Bruttokapitalstock der Gemeinden stagniert seit den frühen 2000er Jahren. Das ist genau die Phase, in der die Nettoinvestitionen negativ werden. Es handelt sich hier somit um zwei Seiten derselben Medaille.

Was folgt daraus? Erstens würde es der Debatte gut tun, wenn es eine bessere Datenbasis für den tatsächlich vorhandenen öffentlichen Kapitalstock und dessen echte Produktivität gäbe. Sinnvoll wäre – zusätzlich zu Brutto- und Nettokapitalstock – ein Konzept, das den tatsächlichen gesamtwirtschaftlichen Nutzen des bestehenden öffentlichen Kapitalstocks abbildet. Eine Möglichkeit zur Bereitstellung solcher Daten wäre, die Statistik über die Instandhaltungsaufwendungen besser an die Vermögensstatistik heranzuführen. In der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung sind die „Unterhaltungsausgaben“ derzeit in den Vorleistungen enthalten und werden nicht gesondert ausgewiesen. Daten über die Unterhaltungsausgaben für Immobilien liefert zwar die Finanzstatistik – allerdings ist dort der Sektor „Staat“ erst ab dem Berichtsjahr 2011 einheitlich abgegrenzt. Für frühere Berichtsjahre ist die Sektorabgrenzung über die Jahre nicht einheitlich. Hinzu kommt, dass die ausgewiesenen Unterhaltungsausgaben auch solche für gemietete und gepachtete Immobilien enthalten. Eine weitere Verbesserung wäre eine regelmäßige Bestandsaufnahme des relevanten öffentlichen Anlagenvermögens mit einer Zustandsbewertung, wie es mit Fernstraßen und Brücken begonnen wurde. Dieses verbesserte Zahlenwerk wäre auch wichtig für die Frage, wo genau Ersatz- und Erweiterungsinvestitionen vorgenommen werden sollten. Zum zweiten bleibt auch bei differenzierter Betrachtung und dann, wenn man die Problematik der Messung des Netto- oder Bruttokapitalstocks angemessen gewichtet, eine Schlussfolgerung richtig: Es wurde in den vergangenen Jahren in Deutschland massiv zu wenig in den öffentlichen Kapitalstock investiert – ob man nun von einem „Verzehr“ des öffentlichen Kapitalstocks oder nur von einer groben Vernachlässigung notwendiger öffentlicher Investitionen sprechen will, ist am Ende dann Wortklauberei.

Mitnehmen sollte man allerdings, dass es natürlich bei Investitionen nicht um Summen, sondern um Projekte und konkrete Anlagegüter geht. Statt einer pauschalen Investitionsregel wäre es deshalb sinnvoll, Investitionsplanung am Bedarf zu machen, und jeweils dort zu investieren, wo der Nutzen einer öffentlichen Investition deren Kosten übersteigt. Viel in den Zahlen deutet darauf hin, dass die Investitionen auf der Gemeindeebene ein zentrales Problem sind. Hier ist tatsächlich – wie Grömling et al. anmerken – eine notwendige Voraussetzung der Problemlösung, dass die Gemeindefinanzen nachhaltig verbessert werden.18

  • 1 Vgl. M. Grömling, M. Hüther, M. Jung: Verzehrt Deutschland seinen staatlichen Kapitalstock?, in: Wirtschaftsdienst, 99. Jg. (2019), H. 1, S. 25-31, https://archiv.wirtschaftsdienst.eu/jahr/2019/1/verzehrt-deutschland-seinen-staatlichen-kapitalstock/ (4.4.2019).
  • 2 M. Fratzscher et al.: Unabhängige Expertenkommission: Stärkung von Investitionen in Deutschland, 2015, S. 6.
  • 3 Für Details vgl. O. Schmalwasser, N. Weber: Revision der Anlagevermögensrechnung für den Zeitraum 1991 bis 2011, in: Wirtschaft und Statistik, H. 11, 2012, S. 933-946.
  • 4 Vgl. Bundesministerium der Finanzen (BMF): Die Aussagekraft von Nettoinvestitionen in der wirtschaftspolitischen Diskussion. Sind Nettoinvestitionen der geeignete Maßstab zur Beurteilung der Investitionstätigkeit in Deutschland?, Monatsbericht des BMF, Juni 2015, S. 6-12.
  • 5 Für den Zeitraum bis 2007 vgl. M. Reidenbach, T. Bracher, B. Grabow, S. Schneider, A. Seidel-Schulze: Investitionsrückstand und Investitionsbedarf der Kommunen: Ausmaß, Ursachen, Folgen, Strategien, Edition Difu – Stadt Forschung Praxis, Bd. 4, Deutsches Institut für Urbanistik, Berlin 2008, S. 64.
  • 6 Vgl. Bundesanstalt für Straßenwesen: Brückenstatistik, https://www.bast.de/BASt_2017/DE/Statistik/Bruecken/Brueckenstatistik.pdf?__blob=publicationFile&v=11 (21.2.2019).
  • 7 Die in der Statistik für den öffentlichen Kapitalstock angenommene Nutzungsdauer liegt in der Regel um 20 % bis 100 % über der im Steuerrecht angenommenen Nutzungsdauer für identische Anlagegüter, weil die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung nicht dem Vorsichtsprinzip unterworfen ist. Vgl. O. Schmalwasser, M. Schidlowski: Kapitalstockrechnung in Deutschland, in: Wirtschaft und Statistik, 2006, H. 11, S. 1119.
  • 8 Bundesanstalt für Straßenwesen, a. a. O.
  • 9 Vgl. G. I. Earthman: The Relationship Between School Building Condition and Student Achievement: A Critical Examination of the Literature, in: Journal of Ethical Educational Leadership, 4. Jg. (2017), H. 3, S. 1-16.
  • 10 Europäisches System Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen ESVG 2010, Eurostat, Luxemburg 2014.
  • 11 M. Grömling, M. Hüther, M. Jung, a. a. O., S. 28.
  • 12 Allerdings wäre da die Schüler- und nicht die Einwohnerzahl relevant.
  • 13 Bundesministerium der Finanzen, a. a. O.
  • 14 M. Grömling, M. Hüther, M. Jung, a. a. O., S. 28.
  • 15 Ebenda, S. 31.
  • 16 Im Zeitraum von 2000 bis 2017 entfiel durchschnittlich ein Drittel der Bruttoinvestitionen des Bundes auf Verteidigung.
  • 17 Vgl. M. Grömling, T. Puls: Infrastrukturmängel in Deutschland – Belastungsgrade nach Branchen und Regionen auf Basis einer Unternehmensbefragung, in: IW-Trends, 45. Jg. (2018), H. 2, S. 89-105.
  • 18 Vgl. für konkrete Vorschläge K. Rietzler: Finanzhilfen des Bundes für Länder und Kommunen: die regionalen Disparitäten müssen überwunden werden. Schriftliche Stellungnahme für die Anhörung des Haushaltsausschusses des Bundestages am 8. Oktober 2018, IMK Policy Brief, Nr. 9, 2018.

Basis für evidenzbasierte Politik: aussagekräftiges Bruttoanlagevermögen – eine Erwiderung

Von Michael Grömling, Michael Hüther, Markos Jung

„A second problem with using the net or gross capital stock is that neither measure reflects the productive efficiency of capital assets. The gross capital stock values­ all assets in use as if they were still new, implying that older assets are just as productive as new ones; the net capital stock uses market prices to value older assets but these prices usually decline quite rapidly in the early years of their life even though the assets may be nearly as productive as when they were new.“1

Kernanliegen unseres Beitrags vom Januar 2019 war es, eine Diskussion zur Messung und Identifizierung von Investitionsbedarfen in Deutschland anzuregen und pauschale Investitionsregeln zu hinterfragen.2 Wir freuen uns, dass Sebastian Dullien und Katja Rietzler diesen Debattenaufschlag aufgenommen haben. Damit werden die empirischen Grundlagenarbeiten für evidenzbasierte wirtschaftspolitische Entscheidungen weiterentwickelt. Insbesondere das Anliegen, qualitativen Aspekten eine stärkere Aufmerksamkeit zu gewähren, teilen wir. Bestehen bleibt unsere Einschätzung, dass das oft verwendete Nettoanlagevermögen ungeeignet ist, um Kapazitäts- und Produktionseffekte des öffentlichen Kapitalstocks zu beurteilen.

Bruttokonzept ist konzeptionell richtig

Zunächst ist noch einmal ganz grundsätzlich festzuhalten, „dass bei der Betrachtung des Produktionsprozesses, der Produktionskapazität usw. der Bruttowert und nicht der Netto- bzw. Zeitwert von Interesse ist.“3 Das Bruttoanlagevermögen ist im Rahmen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen grundsätzlich das relevante Maß, um den existierenden Bestand an öffentlichem Kapital zu quantifizieren.4 Die dabei bestehenden Messprobleme – etwa hinsichtlich der Abgänge und Nutzungsdauern – sind uns bewusst. Sie müssen weiter adressiert werden. Aber der konzeptionelle Ansatz ist unstrittig. Abschreibungen und das daraus resultierende Nettovermögen spiegeln rein wertmäßige Entwicklungen wider. Zur Beurteilung, welche öffentlichen Kapitalgüter in einer Volkswirtschaft zur Verfügung stehen, sind die wertmäßigen Abschreibungen irrelevant. Diese Einschätzung teilt auch die OECD: „One of the purposes of the wealth stock is measuring (economic) depreciation or the loss in value of an asset as it ages. Total depreciation across all vintages of an asset is exactly the amount by which the value of the net capital stock of an asset declines as an effect of ageing. However, it is not the appropriate tool to capture the quantity side of capital services.“5

Dullien und Rietzler führen in ihrer Replik die eingeschränkte Aussagekraft des Bruttoanlagevermögens an, da die Nutzbarkeit von Anlagen mit dem Alter eines Anlagegutes rückläufig sei. Tatsächlich wird bei der Berechnung der durchschnittlichen Nutzungsdauern „angenommen, dass die Anlagen ordnungsgemäß gewartet und kleinere Reparaturen laufend durchgeführt werden.“6 Abnutzungen finden dabei zumindest teilweise Berücksichtigung, indem etwa das gleiche Anlagegut je nach Wirtschaftszweig unterschiedliche Nutzungsdauern zugewiesen bekommt. „So wird zum Beispiel angenommen, dass Lastkraftwagen im Baugewerbe eine kürzere Nutzungsdauer haben als in anderen Wirtschaftsbereichen.“7 Zudem werden Sonderabgänge berücksichtigt.

Unbestritten ist, dass das Bruttokonzept – wie auch das Nettokonzept – keine qualitativen Aspekte des bestehenden Kapitalstocks berücksichtigt. Das ist in diesen Konzepten auch nicht vorgesehen, da sie allein den Bestand an öffentlichen Investitionsgütern messen und damit auf dessen prinzipielle Nutzbarkeit respektive Wert fokussieren. Das Bruttoanlagevermögen gibt an, wie viele Bauten, Ausrüstungen und immaterielle Anlagegüter zur Verfügung stehen – und nicht, wie effizient sie genutzt werden. Die Frage, wie die akkumulierten Investitionsgüter durch den Staat und die restliche Volkswirtschaft genutzt werden können, ist jedoch eine ökonomische Bewertung des Kapitalstocks, die über die reine Bestandserfassung hinausgeht.

Dullien und Rietzler weisen zu Recht auf die eingeschränkte Nutzbarkeit älterer Anlagen hin. Aber auch dies gilt nicht generell. Im Grunde genommen werden sowohl beim Brutto- als auch beim Nettokonzept verschiedene Investitionen mit ihrem Neu- oder Zeitwert gewichtet aggregiert. Dieser Gesamtwert sagt zunächst einmal wenig über den potenziellen oder tatsächlichen Beitrag des Kapitalstocks zur gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung aus, sondern er reflektiert in erster Linie die Kosten und Preisentwicklungen der Anlagegüter: „Finally, in calculating the net or gross capital stock, each asset in the stock is weighted by its market value. This implies that two assets with the same market value are assumed to make an equal contribution to production.“8 Dies verdeutlicht, dass neben dem reinen Umfang des Bruttoanlagevermögens auch dessen Zusammensetzung, räumliche Verteilung, Bewirtschaftung und Qualität für das Produktionspotenzial einer Volkswirtschaft relevant sein können. Obwohl sie mit gleichen Anschaffungskosten in den Kapitalstock eingeht, kann eine Brücke in der Uckermark eine andere Kapazitätswirkung entfalten als etwa in Berlin. Das Gebäude eines Bauamts kann voll oder unterbesetzt sein, eine Brücke nur ein- oder beidseitig befahrbar respektive eine dreispurige Brücke überdimensioniert sein. Qualitative Aspekte zu berücksichtigen wäre im Grunde genommen eine Veränderung des Gewichtungsverfahrens, die über die in den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen angelegten Maße hinausgeht. Anhand welcher Kriterien man den Wert öffentlicher Anlagegüter ökonomisch bewerten und im Rahmen einer Qualitätsbewertung gewichtet aggregieren sollte, ist zudem stark modellabhängig und mit Annahmen behaftet.

Abschreibungen sind hierfür jedenfalls nicht das richtige Maß. Dullien und Rietzler gestehen zwar ein, dass „der Nettokapitalstock in der Tat keinen genauen Aufschluss über den tatsächlich zur Verfügung stehenden produktiven öffentlichen Kapitalstock“ zulässt, sie sehen Abschreibungen „dennoch in einem Zusammenhang mit dem nutzungsbedingten Verschleiß.“ Dass Abschreibungen diese Abnutzung in einem angemessenen Ausmaß widerspiegeln, darf jedoch bezweifelt werden: Die Abschreibungen ergeben sich pauschal als linearer Verlauf über die Nutzungsdauer.9 Dies erscheint im Sinne einer Qualitätsbewertung willkürlich und es ist fraglich, inwiefern dies die ökonomische Nutzbarkeit widerspiegelt. Selbst wenn sich die Abschreibungen am Verschleiß orientieren, so messen sie dennoch nur die daraus resultierende Wertentwicklung und nicht die ökonomische Nutzbarkeit. Alter führt nicht bei allen Anlagegütern zu einer Einschränkung der Nutzbarkeit: „Note that obsolescence affects the value of a used asset but not necessarily its productive characteristics.“10

Möchte man sich bei der Berücksichtigung qualitativer Aspekte des staatlichen (Brutto-)Kapitalstocks auf altersbedingte Verschleißeffekte beschränken, so ist das Konzept des produktiven Kapitalstocks und der daraus resultierenden Kapitalleistungen ein möglicher Ansatz (Abbildung 1). Der produktive Kapitalstock einer Vermögensart ergibt sich aus der Gewichtung des Bruttoanlagevermögens mit einer anlagespezifischen Alters-Effizienz-Funktion, die verschleißbedingte Nutzungseinbußen im Vergleich zu neuen Anlagegütern beschreibt. Bei der Schätzung dieser Funktionen müssten freilich Reparaturen und Nutzungsintensität berücksichtigt werden. Das Bruttoanlagevermögen ist somit ein Sonderfall des produktiven Kapitalstocks, bei dem die Effizienz bis zum Ende der Nutzungsdauer nicht nachlässt.11

Abbildung 1
Kapitalstock und Kapitalleistungen im System der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen
Kapitalstock und Kapitalleistungen im System der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen

Quellen: OECD: Measuring Capital – OECD Manual, Second Edition, Paris 2009, S. 27; eigene Übersetzung.

Allerdings berücksichtigt man bei diesem Konzept nur relative Qualitätsaspekte innerhalb einer Anlageklasse. Eine einfache Aggregation dieser anlagespezifischen produktiven Kapitalstöcke würde die Heterogenität verschiedener Investitionsgüter vernachlässigen: „The concept of a productive stock is only meaningful at the disaggregate level of a particular type of asset.“12 Daher werden in der Praxis die verschiedenen produktiven Kapitalbestände anhand ihrer Kapitalnutzungskosten gewichtet und somit Kapitalleistungen abgeleitet. Dies geschieht freilich unter der Annahme, dass die Kapitalnutzungskosten im Fall vollkommener Märkte ihrer (impliziten) marginalen Produktivität entsprechen.13 Dass dies im Falle staatlichen Kapitals gegeben ist, kann hinterfragt werden – denn es geht hier um gesamtwirtschaftliche Effekte und nicht um die marginale Produktivität einer Entscheidung auf Firmen­ebene.14 Zur Gewichtung der verschiedenen Anlageklassen müsste bestenfalls der volkswirtschaftliche Kapazitätseffekt der jeweiligen staatlichen Anlagegüter ermittelt werden.15

Insgesamt wird deutlich, dass qualitative Aspekte weit über die eigentliche Kapitalstockmessung hinausgehen. Im Rahmen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen lassen sich Rückschlüsse auf gesamtwirtschaftliche Produktionseffekte des öffentlichen Kapitalstocks nur auf Basis des Bruttoanlagevermögens ziehen. Qualitative Bewertungen müssen ebenfalls aus dem Bruttoanlagevermögen abgeleitet werden (vgl. Abbildung 1) und sind ergänzend zu betrachten: „Capital services and their price, the user costs of capital do not replace well-established measures like the net and the gross capital stock – they complement them.“16

Probleme konkret benennen

Insgesamt bleibt die in unserem Aufsatz vom Januar 2019 beschriebene Faktenlage bestehen: Gesamtstaatlich ist ein Rückgang des Kapitalstocks nicht zu beobachten, auf Gemeindeebene und beim Nichtwohnungsbau ist eine Stagnation des Bruttoanlagevermögens zu verzeichnen. Selbstverständlich kann ein Zuwachs bei Bund und Ländern nicht die Stagnation auf Gemeindeebene kompensieren. Das haben wir nicht gefolgert und auch nicht suggeriert. Teure Opernhäuser sind auch kein Substitut für baufällige Schulen. Ebenso wenig können Defizite in einzelnen Bundesländern durch Investitionsmaßnahmen in anderen Bundesländern kompensiert werden. Ziel unseres Beitrages ist es, die konzeptionell richtige Vorgehensweise zur Identifikation von Problemlagen zu ermitteln. Die Nettobetrachtung bietet dies offensichtlich nicht.

Aus der Entwicklung der Bruttoanlagevermögen ist freilich nicht sichtbar, ob der Bestand hinsichtlich der tatsächlichen Bedarfe angemessen ist. Hier bietet eine Pro-Kopf-Betrachtung einen Einstieg in eine bedarfsorientierte Analyse. Diese wurde bisher eher nicht vorgenommen. Auch hier geht es zunächst um einen konzeptionellen Ansatz. Die Interpretation der Befunde ist zunächst offen. Bemerkenswert ist die Aussage von Dullien und Rietzler, die diesbezüglich von einem steigenden Pro-Kopf-Bedarf ausgehen. Das kann man zunächst auch als eine triviale Wachstumseuphorie interpretieren. Künftig könnte der Bedarf jedoch auch rückläufig sein: Digitalisierung und autonomes Fahren können Pro-Kopf-Bedarfe reduzieren und die Effizienz im Nah- und Fernverkehr steigern. Letztendlich stellt sich hier die Frage, durch wen und wozu öffentliches Kapital genutzt wird.

Plädoyer für bessere Investitionen

Im Endeffekt verstehen wir die vorliegende Diskussion als Beitrag zu einer evidenz- und faktenbasierten Wirtschaftspolitik. Investitionslücken müssen regional- und anlagespezifisch identifiziert werden. Dies ist konzeptionell auf Basis eines aussagekräftigen Bruttoanlagevermögens zu klären.

Beide Beiträge – Ursprungsartikel wie Replik – sprechen sich für eine Forcierung der Investitionstätigkeit aus, die bestehende Lücken bedarfsgerecht adressiert. Eine umfassende Analyse von Politikmaßnahmen17 war nicht Ziel und Gegenstand der konzeptionellen Klärungen im Ursprungsartikel. Pauschale Investitionsregeln sind jedenfalls nicht hilfreich. Neuartiger Investitionsbedarf aufgrund technologischen Fortschritts (z. B. flächendeckendes 5G-Netz) kann ohnehin nicht aus Bestanddaten abgeleitet werden.

Genauso wie bei der Bestandsaufnahme und Analyse des staatlichen Kapitalstocks qualitative Aspekte eine stärkere Beachtung finden sollten, gilt dies auch für die laufenden Investitionen. Ein simples „Mehr“ stärkt das Produktions- und Wohlstandspotenzial nicht. Besser ist oft mehr!

  • 1 OECD: Measuring Capital – OECD Manual, Paris 2001, S. 84.
  • 2 Vgl. M. Grömling, M. Hüther, M. Jung: Verzehrt Deutschland seinen staatlichen Kapitalstock?, in: Wirtschaftsdienst, 99. Jg. (2019), H. 1, S. 25-31.
  • 3 Vgl. O. Schmalwasser: Revision der Anlagevermögensrechnung 1991 bis 2001, in: Wirtschaft und Statistik, 2001, H. 5, S. 354.
  • 4 Vgl. B. Görzig: Konzepte und Berechnung des Sachvermögens in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, in: K. Voy (Hrsg.): Kategorien der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen, Bd. 4: Geschichte der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen nach 1945, Marburg 2009, S. 355-374.
  • 5 Vgl. OECD: Measuring Productivity – OECD Manual, Paris 2001, S. 52.
  • 6 Vgl. O. Schmalwasser, M. Schidlowski: Kapitalstockrechnung in Deutschland, in: Wirtschaft und Statistik, 2006, H. 11, S. 1119.
  • 7 Ebenda.
  • 8 Vgl. OECD: Measuring Capital – OECD Manual …, a. a. O., S. 84.
  • 9 Vgl. O. Schmalwasser, M. Schidlowski, a. a. O.
  • 10 Vgl. OECD: Measuring Productivity – OECD Manual …, a. a. O., S. 53.
  • 11 Vgl. ebenda.
  • 12 Vgl. OECD: Measuring Capital – OECD Manual, Second Edition, Paris 2009, S. 60.
  • 13 Vgl. OECD: Measuring Productivity – OECD Manual …, a. a. O., S. 54.
  • 14 Vgl. M. Lowe, C. Papageorgiou, F. Perez-Sebastian: The Public and Private Marginal Product of Capital, in: Economica, 86. Jg. (2019), H. 342, S. 336-361.
  • 15 Vgl. OECD: Measuring Capital – OECD Manual, Second Edition, a. a. O., S. 71-74.
  • 16 Ebenda, S. 25.
  • 17 Vgl. H. Bardt et al.: Investieren Staat und Unternehmen in Deutschland zu wenig? Bestandsaufnahme und Handlungsbedarf, IW-Analysen, Nr. 118, Köln 2017.

Title:Is Germany Consuming its Public Capital Stock? – Reply and Response

Abstract:

In its January 2019 issue, Wirtschaftsdienst published an essay by Michael Grömling, Michael Hüther and Markos Jung on how the actual size of the public capital stock should be measured. The authors state that the focus should be on the development of gross capital stock. Sebastian Dullien and Katja Rietzler argue that, while the net public capital stock probably understates the productively available capital stock, the gross figures overestimate it. No matter how one looks at it, Germany has seen a significant public sector underinvestment in the recent past. The authors explain their point of view in their response.


DOI: 10.1007/s10273-019-2445-5