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Demokratische Entscheidungsprozesse werden zurzeit vielfach angegriffen. Insbesondere in der Digitalisierung sehen viele eine Gefahr für die Demokratie. Der Autor sieht hingegen Chancen für die Demokratie und plädiert dafür, digitale Instrumente auszuprobieren. Digitale Instrumente wie Co-Voting (in repräsentativen Demokratien) bzw. Assessment Voting (in direkten Demokratien) könnten demokratische Verfahren verbessern und das Band zwischen Stimmbürgern und Demokratie stärken.

Demokratie ist nicht selbstverständlich. Kaum errungen, kann sie korrumpiert werden, und auch jahrhundertalte Demokratien können – oft unmerklich – zu Staaten mutieren, die demokratische Werte nur noch nominell leben. Demokratie ist kein absoluter Wert. Im Lauf der Zeit durften sich ganz unterschiedliche Gruppen zum „regierenden Volk“ zählen, wie die Einführung des Frauenstimmrechts, das unterschiedlich gehandhabte Ausländerstimmrecht und die Varianten in Bezug auf das stimmfähige Alter beweisen. Und Demokratie ist niemals nachhaltig gesichert: Sogar demokratisch gewählte Amtsträger können sie untergraben.

Wer unter dem Eindruck steht, die Demokratie – als Konzept – sei bedroht, kann versucht sein, an einer bestimmten Form der Demokratie festzuhalten, um deren Werte vermeintlich zu schützen. Doch selbst wenn es dieses theoretische Demokratie-Basismodell gäbe – wie könnte man es in einer sich rapide wandelnden Gesellschaft bewahren, ohne es obsolet werden zu lassen? Die Vorstellung der Demokratie als Fels im Fluss der Entwicklung kann nicht standhalten, insbesondere nicht in unserer digitalisierten Gesellschaft.

Digitalisierung wird oft als die größte Bedrohung für die Demokratie empfunden: Fakten, Abtimmungen und Wahlen können manipuliert werden, und die lückenlose Überwachung, die sie ermöglicht, trägt das Risiko in sich, politische Gegner zu kontrollieren und ihnen zu schaden. Doch es wäre unsinnig, die Digitalisierung im Namen der Demokratie aufhalten zu wollen: Wir leben schon digital. Wir dürfen nicht vergessen, dass Digitalisierung an sich weder Gutes noch Schlechtes in sich trägt – sie kann lediglich gut oder schlecht eingesetzt werden. Wenn wir die Demokratie erhalten wollen, müssen wir also Wege finden, sie auch im digitalisierten Zeitalter lebendig zu erhalten, nicht in einer unantastbaren Urform, sondern als sich stetig wandelnde, flexible Struktur, die Grundwerte erhält, doch vielleicht in neuer Form.

Digitale Chancen nutzen

Um den Paradigmenwechsel zu erfassen, den die Digitalisierung ausgelöst hat, sei daran erinnert, wie die nicht-IT-affine Gesellschaft sich den PC zu eigen machte. Wer in den 1980er Jahren einen PC kaufte, musste sich meist allein mit ihm zurechtfinden – das war neu. Fertigkeiten wurden bis dahin meist in der Schule, beim Lehrmeister, oder bei den Eltern vermittelt, in einer Unterrichtssituation. Mit dem PC umzugehen hingegen lernte man meist nach dem Trial-and-Error-Prinzip. Das intuitive Ausprobieren, und insbesondere das Fehlermachen, waren erwünscht und trugen zum Lernerfolg bei. Diese Methode kann auch beim Erhalten der Demokratie hilfreich sein: Ideen „ausspinnen“, sie ausprobieren, und aus Fehlern lernen. Aktuell stellt sich die große Frage, wie sich die Demokratie das Digitalzeitalter aneignen soll, ohne Grundwerte anzutasten? Nach dem Trial-and-Error-Prinzip, schlagen wir vom Lehrstuhl Macroeconomics an der ETH Zürich vor.

Die Risiken der Digitalisierung sind bekannt und die Informatiker arbeiten schon lange daran, sie zu mindern. Davon profitiert auch die Demokratie: Wird ein Programm entwickelt, das z. B. Produkt-Patente schützt, so kann es auch dem Schutz des Wahlgeheimnisses dienen. Als Demokratieforscher kann ich also davon ausgehen, dass die Informatiker sich der Aufgabe stellen, die Risiken der Digitalisierung zu mindern. Das erlaubt es mir, von diesen Risiken fürs Erste abzusehen und nur die Chancen zu betrachten, welche die Digitalisierung der Demokratie bieten könnte.

Im digital-demokratischen Labor

Grundsätzlich macht Digitalisierung Prozesse einfacher, schneller und kostengünstiger. Sie kann somit physische demokratische Prozesse ersetzen: Informationen werden vollständiger und schneller zugänglich, Menschen können ohne persönliche Interaktion kommunizieren und zusammenarbeiten und Kollektiventscheidungsprozesse werden günstiger und rascher durchgeführt. Das bedeutet auch, dass sich jede Demokratie erlauben könnte, mit der Digitalisierung zu experimentieren, wie in einem Labor: Die Kosten der Experimente wären nicht sehr hoch und der Erkenntnisgewinn – insbesondere aus Fehlern – wäre von unschätzbarem Wert für die Weiterentwicklung der Demokratie.

Einer Demokratie geht der Konsens einer Gesellschaft darüber voran, dass sie von nun an als Kollektiv entscheiden will. Dieser Grundentscheid ist notwendig, muss aber von jedem Teilnehmer stets neu gefällt werden, wenn die Demokratie lebendig bleiben soll. Die Basis der Demokratie ist also der stets erneuerte Wille zur Demokratie. Doch wie kann man diesen Willen aufrechterhalten? Indem man das Band zwischen Demokratie-Teilnehmern und Demokratie festigt.

Band zwischen Stimmbürgern und Demokratie stärken

Es gibt verschiedene Demokratieformen in zwei Hauptvarianten: direkte und repräsentative Demokratie. In der repräsentativen Demokratie werden die Amtsträger demokratisch gewählt, bis zur nächsten Wahl haben sie die Entscheidungsbefugnis. Das mag dazu führen, dass Stimmbürger sich punktuell mehr direkte Entscheidungsmacht wünschen, bzw. dass sie unmittelbar an gewissen Entscheidungen beteiligt werden möchten. Bei wichtigen Fragen mitentscheiden zu können, würde das Band zwischen Stimmbürger und repräsentativer Demokratie also stärken. In direkten Demokratien kann der umgekehrte Effekt eintreten: Stehen zu oft zu viele Entscheidungen an, wird es schwierig für die Stimmbürger, optimal informierte Entscheidungen zu treffen. Das kann das Interesse und die Stimmbeteiligung senken, und das Band zwischen Stimmbürgern und direkter Demokratie schwächen.

Zur Festigung des Bandes zwischen Stimmbürger und Demokratie schlagen wir ein digitales Instrument in zwei Varianten vor: die Bestimmung einer repräsentativen Untergruppe der Stimmbürger durch einen geeigneten Zufallsgenerator. Diese repräsentative Untergruppe steht als pars pro toto für alle Stimmbürger, und man kann sie als Indikator für den Volkswillen nutzen. Es geht uns nicht darum, lediglich ein Referendum durchzuführen, wir wollen vielmehr eine richtige Abstimmung in reduziertem, aber repräsentativem Format durchführen. Die zufällig ausgewählte Gruppe soll über eine anstehende Frage abstimmen können, und die Resultate dieser Abstimmung dienen der Entscheidungsfindung, auf zweierlei Art.

Co-voting für repräsentative Demokratien

In repräsentativen Demokratien könnte diesem Volkswillen ergänzende Entscheidungskraft verliehen werden, indem man eine Entscheidung z. B. des Parlaments mit der Entscheidung der repräsentativen Gruppe zusammenführt, unter Umständen mit geeigneter Gewichtung. Die repräsentative Gruppe hätte beispielsweise ein Stimmgewicht von einem Drittel und das Parlament von zwei Dritteln oder umgekehrt. Wir nennen diesen Prozess „Co-Voting“. Wichtig ist dabei, dass die Abstimmung der repräsentativen Stimmbürgergruppe tatsächlich zählt und nicht lediglich als Meinungsumfrage angesehen wird. Damit hätten die Stimmbürger in wichtigen Fragen eine gewisse Mit-Entscheidungsbefugnis, sei es, weil sie als Mitglied der zufällig ausgewählten Gruppe wirklich abstimmen können, oder weil sie sich zumindest durch diese sogenannten „Stimmhalter“ oder „Co-Voter“ korrekt vertreten fühlen. Dann wären die Stimmbürger wohl eher bereit, allfällige negative Konsequenzen einer solchen Entscheidung mitzutragen. Der Ausstieg aus der Atomkraft wäre ein gutes Beispiel für eine solche „mitzutragende“ Entscheidung. Bei jeder Co-Voting-Entscheidung würden neue Co-Voter ausgelost, sodass theoretisch jeder Stimmbürger immer wieder eine Chance bekäme, mitabstimmen zu dürfen.

Assessment Voting für direkte Demokratien

Dasselbe Auswahlverfahren könnte auch in direkten Demokratien eingesetzt werden. In direkten Demokratien liegt das Problem bei der hohen Zahl der Entscheidungen, welche die Stimmbürger treffen sollen, sodass womöglich nicht die wichtigsten oder bestformulierten Vorlagen zur Abstimmung kommen. Da könnte eine zufällig ausgewählte, repräsentative Untergruppe der Bevölkerung dazu beitragen, dass insgesamt vielleicht weniger, dafür adäquatere Vorlagen zur Abstimmung gebracht werden. Insbesondere hat in direkten Demokratien jeder das Recht, eine Initiative zu starten. Dank der Digitalisierung ist es recht einfach, die für eine Abstimmung notwendige Zahl an Unterstützer-Stimmen zu sammeln. So werden Initiativen oft als Mittel zur Profilierung für kleinere und größere Interessengruppen und große Parteien, auch wenn sie an der Urne keine Chance haben. Werden die Stimmbürger zu oft an die Urne gebeten, um über Fragen abzustimmen, die von sekundärer Wichtigkeit sind, sinkt die Bereitschaft, am demokratischen Prozess teilzunehmen, und sinkende Beteiligung schwächt das Band zwischen Stimmbürgern und direkter Demokratie. Deshalb könnte man die zufällig ausgewählte Untergruppe der Stimmbürger dazu nutzen, über Initiativen abzustimmen. Bei jeder Initiative wird eine neue Untergruppe ausgelost, die „Assessment Group“. Wir nennen den Prozess „Assessment Voting“: Die Assessment Group stimmt in einer erste Runde ab, und die Resultate der Abstimmung werden publiziert. Je nach Resultat haben die Initianten nun die Chance, ihre Initiative zurückzuziehen oder, im Gegenteil, sie aufrechtzuerhalten und zur Abstimmung durch die übrigen Stimmbürger zu bringen. Findet diese Abstimmung statt, darf die Untergruppe, die bereits abgestimmt hat, nicht mehr abstimmen.

Die Resultate beider Abstimmungen werden gemäß dem demokratischen Prinzip „ein Stimmbürger – eine Stimme“ zusammengezählt. Bei klaren Ergebnissen in der ersten Runde, die ein gutes Bild des Mehrheitswillens abgeben wird, wäre die zweite Runde – wenn es überhaupt noch zu einer zweiten Abstimmungsrunde kommt – nur noch eine Formsache. Auch eine geringere Beteiligung in dieser zweiten Runde wäre kein Grund zur Sorge. Das Risiko, sich mit einer unnützen Initiative schon bei der ersten Abstimmungsrunde, beim Assessment Voting, zu blamieren, wäre zudem größer, und die Parteien würden sich wohl besser überlegen, welche Initiativen sie starten wollen. Das erhöht die Qualität der Vorlagen bezüglich der beiden Elemente Wichtigkeit und adäquate Formulierung und möglicherweise das Engagement der Stimmbürger für die direkte Demokratie. Sie müssen weniger Zeit investieren, um sich vor Abstimmungen ausführlich zu informieren und abzustimmen.

Was heißt repräsentativ?

Diese beiden Prozesse basieren auf der digital gesteuerten Auswahl einer repräsentativen Untergruppe der Bevölkerung. Wie muss man sich diese Auswahl durch einen Zufallsgenerator vorstellen? Sollte ein Algorithmus z. B. die alphabetische Liste aller Stimmbürger durchgehen und jede 100. Person auswählen? Oder sollte er jede 100. Person per Altersklasse, Berufsklasse, Geschlecht oder – falls vorhanden – politischer Orientierung auswählen? Die größte Schwierigkeit im von uns vorgeschlagenen System liegt wohl darin, einen Konsens darüber zu finden, was als „repräsentative Untergruppe“ von allen Stimmbürgern akzeptiert wird. Dass sich jeder von dieser Gruppe vertreten fühlt, ist die Voraussetzung dafür, dass solche Entscheidungsprozesse als demokratisch wahrgenommen werden. Auch ist vollständige Transparenz aller Prozesse gegenüber allen Stimmbürgern notwendig – ohne deren Vertrauen geht es nicht. Dafür ist eine enge Zusammenarbeit zwischen denjenigen notwendig, die den Prozess erarbeiten und denjenigen, die den entsprechenden Algorithmus programmieren. Gewählte Politiker, IT-Spezialisten und Demokratieforscher sollten eng zusammenarbeiten, um solche Prozesse zu definieren und zu erproben.

Je innovativer und öffentlicher diese Art Experimente durchgeführt wird, desto eher werden sich die Stimmbürger damit auseinandersetzen, darüber diskutieren und sie als Teil des demokratischen Prozesses akzeptieren. Länder, die sich vor der nicht-demokratischen Welt als offene, experimentierfreudige Demokratien zu erkennen geben, würden zudem viel zum internationalen Ansehen der Demokratie beitragen: Wer öffentliche Demokratie-Experimente durchführt und selbstbewusst genug ist, Fehler in Kauf zu nehmen, demonstriert das Potenzial der Demokratie – das steckt womöglich an.

Digital-demokratisch unterwegs

Assessment Voting und Co-Voting sind nur zwei Beispiele für Ideen, die an meinem Lehrstuhl entwickelt werden, oft in enger Zusammenarbeit mit IT-Spezialisten. Wir untersuchen z. B. auch den Effekt von höheren Hürden zur Wiederwahl, die Kosten von politischen Richtungswechseln sowie demokratische Mechanismen im Allgemeinen, immer mit dem Ziel, Demokratien durch ständige Erneuerung lebendig und kraftvoll zu erhalten: im Demokratie-Labor ist immer was los!

* Ausführlich in H. Gersbach: Redesigning Democracy: More Ideas for Better Rules, Heidelberg 2017.

Title:Daring More Digital Democracy

Abstract:Democratic decision-making processes are frequently under attack. In particular, digitalisation is seen as a threat to democracy by many. Conversely, the author sees opportunities for democracy and advocates using digital instruments. Digital instruments such as co-voting (in representative democracies) or assessment voting (in direct democracies) could improve democratic procedures and strengthen the bond between voters and democracy.


DOI: 10.1007/s10273-019-2495-8