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Am 5. Juni 2019 veranstaltete der Finanzausschuss des Deutschen Bundestags eine öffentliche Anhörung zu zwei Anträgen der Fraktionen der FDP und der AfD zum Thema „Target“. Der AfD-Antrag betont die mit den Target-Forderungen der Bundesbank verbundenen Risiken und fordert, „Target-Kredite“ nur bei angemessener Besicherung zu gewähren. Der FDP-Antrag warnt vor den mit einem Austritt aus der Europäischen Währungsunion (EWU) verbundenen Risiken und macht Reformvorschläge für die EWU. Die Stellungnahme der Autoren gegenüber dem Finanzausschuss erklärt die den Anträgen zugrundeliegende Interpretation der rechtlichen und betriebswirtschaftlichen Bedeutung der Target-Salden für falsch und warnt, die Vorschläge selbst könnten zusätzliche Risiken schaffen.

Die Anträge der Fraktionen der AfD und der FDP vermengen betriebswirtschaftliche und volkswirtschaftliche Überlegungen zu den Target-Salden.1 Vordergründig geht es um betriebswirtschaftliche Aspekte, Verlustrisiken für die Deutsche Bundesbank und Schäden für deutsche Steuerzahler. Die betriebswirtschaftliche Argumentation wird mit Warnungen vor volkswirtschaftlichen Risiken, dem Abfluss von Ressourcen aus Deutschland und einer „Zahlungsbilanzfinanzierung“ durch das Eurosystem, untermalt. Die Vermengung der Argumentationen ist irreführend, die volkswirtschaftliche Argumentation problematisch und die betriebswirtschaftliche Argumentation in wesentlichen Teilen sachlich falsch. Im Folgenden begründen wir diese Einschätzung für die betriebswirtschaftliche Argumentation.2

Rechtliche und betriebswirtschaftliche Einordnung der Target-Salden

Die Target-Positionen der nationalen Zentralbanken entstehen im Zuge von grenzüberschreitenden bargeldlosen Zahlungen. Wenn der Inhaber eines Kontos bei einer Geschäftsbank in Italien eine Überweisung auf ein Konto bei einer Geschäftsbank in Deutschland tätigt, wird die Überweisung durchgeführt, indem die Geschäftsbank das Eurosystem3 beauftragt, den Betrag der Überweisung von ihrem Konto auf das Konto der Geschäftsbank in Deutschland zu übertragen. Da das Eurosystem dezentral organisiert ist, hat die italienische Geschäftsbank ihr Konto bei der Banca d’Italia, die deutsche Geschäftsbank bei der Deutschen Bundesbank, und die nationalen Zentralbanken haben Konten bei der Europäischen Zentralbank (EZB). Die genannte Überweisung bewirkt einen Rückgang des Kontostands der italienischen Geschäftsbank bei der Banca d’Italia und der Banca d’Italia bei der EZB; entsprechend steigen die Kontostände der Bundesbank bei der EZB und der deutschen Geschäftsbank bei der Bundesbank. Veränderungen dieser Kontostände über die Zeit ergeben sich aus der Differenz zwischen eingehenden und ausgehenden grenzüberschreitenden Zahlungen. So spiegeln die Target-Forderungen der Deutschen Bundesbank den kumulierten Überschuss der Zahlungen an Empfänger in Deutschland über die Zahlungen an Empfänger im Ausland, die Target-Verbindlichkeiten der Banca d’Italia den kumulierten Überschuss der Zahlungen an Empfänger im Ausland über die Zahlungen an Empfänger in Italien.

Der AfD-Antrag warnt vor den Risiken der Target-Salden für die deutschen Steuerzahler. Er stützt sich dabei auf Aussagen von Clemens Fuest und Hans-Werner Sinn.4 Diese sehen die Target-Forderungen der Deutschen Bundesbank als Vermögensposition und warnen, bei einem kumulierten Wert von fast 1000 Mrd. Euro im Jahr 2018 ständen mehr als 50 % des deutschen Nettoauslandsvermögens im Risiko. Dieses Risiko betreffe nicht nur die Möglichkeit, dass ein Land aus der Europäischen Währungsunion (EWU) austrete und seine Schulden nicht bezahle, sondern könne sich auch ohne Austritt aus der EWU realisieren. Diese Warnungen beruhen auf einer ungenauen Analyse der Rechtsnormen und der betriebswirtschaftlichen Zusammenhänge.

  • Es werden Brutto- und Nettogrößen verglichen. Für das Verhältnis zur EZB weist die Bilanz der Deutschen Bundesbank nicht nur Target-Forderungen von über 900 Mrd. Euro, sondern auch Verbindlichkeiten aus überdurchschnittlicher Bargeldausgabe von über 300 Mrd. Euro aus; die Nettoposition beträgt weniger als 600 Mrd. Euro.
  • Das „deutsche Nettoauslandsvermögen“ ist ein statistisches Artefakt. Bei einer Person ist das Nettovermögen ein Maß für die wirtschaftlichen Handlungsspielräume dieser Person, aber es gibt kein „Wir“, dessen Handlungsspielräume durch das „deutsche Nettoauslandsvermögen“ gemessen würden.
  • Die Target-Forderungen in der Bilanz der Deutschen Bundesbank begründen keinerlei Ansprüche. Die Zahlen entsprechen nicht dem Zeitwert der jeweils zu erwartenden Zahlungen.
  • Die Deutsche Bundesbank ist keine autonome deutsche Institution. Nach Art. 14 Abs. 3 der Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB) und der EZB (im folgenden Satzung) sind die nationalen Zentralbanken im Bereich der Geldpolitik „integraler Bestandteil des ESZB und handeln gemäß den Leitlinien und Weisungen der EZB.“
  • Bei den Target-Forderungen handelt es sich nicht um Kredite auf einzelvertraglicher Grundlage, sondern um Positionen in einem ESZB-internen Kontensystem; sie ergeben sich aus der im EU-Vertrag festgelegten Gesamtverantwortung des ESZB für die Funktionsfähigkeit der Zahlungssysteme.

Die Bilanzen der nationalen Zentralbanken führen geldpolitisch begründete Positionen und Positionen aus Aktivitäten, die Zentralbanken nach Art. 14 Abs. 4 der Satzung „in eigener Verantwortung und auf eigene Rechnung“ durchführen, unvermittelt nebeneinander auf. Die Vermengung autonomer und weisungsgebundener Aktivitäten macht es praktisch unmöglich, aus der Bilanz einer nationalen Zentralbank auf deren wirtschaftliche Lage zurückzuschließen. Das wäre anders, wenn die nationalen Zentralbanken ihre geldpolitischen Aktivitäten in Tochtergesellschaften ausgliederten und in ihren eigenen Bilanzen nur die Eigentums­positionen an diesen Tochtergesellschaften aufführten. In diesem Fall würden die Target-Positionen nicht in den Bilanzen der nationalen Zentralbanken, sondern in den Bilanzen der Tochtergesellschaften erscheinen.

Das Kontensystem, das die ESZB-internen Vorgänge widerspiegelt, ist vergleichbar dem Kontensystem, das die konzerninternen Vorgänge zwischen Zentrale und Filialen bei der Commerzbank oder der Deutschen Bank widerspiegelt. Die mit den Positionen in einem solchen Kontensystem verbundenen Rechte und Pflichten hängen von den Regeln des Systems ab, im Eurosystem von der Satzung und von den Beschlüssen des EZB-Rats über die Verteilung der monetären Einkünfte der nationalen Zentralbanken der Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, zuletzt nach dem Beschluss EZB/2016/36.5 Nach diesen Regeln begründen die Target-Salden als solche keine Ansprüche. Sie werden aber bei der Berechnung der monetären Einkünfte der beteiligten Zentralbanken berücksichtigt.

Die Satzung des ESZB und der EZB sieht eine Vergemeinschaftung der Einkünfte vor. Nach Art. 32 und 33 der Satzung werden die monetären Einkünfte der nationalen Zentralbanken im Eurosystem und der EZB addiert und das Ergebnis (nach Abzug der Kosten der EZB) entsprechend der eingezahlten Anteile an der EZB verteilt. Als monetäre Einkünfte werden die Einkünfte auf diejenigen Vermögenswerte bezeichnet, die über die Ausgabe von Zentralbankgeld finanziert werden, in erster Linie in Form von Geschäftsbankeneinlagen und Banknoten. Bei der Refinanzierung anfallende Zinskosten werden abgezogen. In diesem Zusammenhang werden die Target-Positionen berücksichtigt: Wenn eine italienische Geschäftsbank ihr Guthaben bei der Banca d’Italia für eine Überweisung nach Deutschland verwendet, so steht den Aktiva in der Bilanz der Banca d’Italia nicht mehr die Einlage der Geschäftsbank gegenüber, sondern eine zusätzliche Target-Verbindlichkeit gegenüber der EZB. Um zu verhindern, dass die von der Banca d’Italia einzubringenden Einkünfte entsprechend niedriger ausfallen, wird die zusätzliche Target-Verbindlichkeit der Banca d’Italia wie vorher die Geschäftsbankeneinlage als Ausgabe von Zentralbankgeld gehandelt. Bei der Deutschen Bundesbank bewirkt die Transaktion eine zusätzliche Target-Forderung an die EZB sowie eine zusätzliche Einlage der Geschäftsbank, an die die Überweisung ging. Die zusätzliche Target-Forderung gilt als Vermögenswert, der mit Zentralbankgeld finanziert wird. So bleiben die monetären Einkünfte der Banca d’Italia unverändert, und die Deutsche Bundesbank muss keine weiteren, eigenen Vermögenswerte in die Berechnung der monetären Einkünfte einbeziehen.

Bei der Berechnung der monetären Einkünfte der nationalen Zentralbanken und der EZB insgesamt fallen die Target-Positionen heraus. Nach den Beschlüssen des EZB-Rats ist auf Target-Forderungen wie auf Target-Verbindlichkeiten jeweils der für Hauptrefinanzierungskredite an Geschäftsbanken vorgesehene Zinssatz zu veranschlagen. Da jeder Target-Forderung bzw. -Verbindlichkeit einer nationalen Zentralbank gegenüber der EZB eine Target-Verbindlichkeit bzw. -Forderung der EZB gegenüber der nationalen Zentralbank gegenübersteht, saldieren sich die veranschlagten Verzinsungen zu null. So hat die genannte Überweisung der italienischen Geschäftsbank nach Deutschland keinen Einfluss auf die Höhe oder die Verteilung der monetären Einkünfte im Eurosystem.

In der deutschen Diskussion, die auch im Antrag der FDP-Fraktion anklingt, wird über die Verzinsung der Target-Positionen so gesprochen, als gehe es um eine Zahlung, die den „Gläubigern“ zufließt bzw. von den „Schuldnern“ zu leisten ist. Dabei wird gerne moniert, dass die Verzinsung zu niedrig sei, zumal der Hauptrefinanzierungszinssatz derzeit bei null liegt.6 Diese Vorstellung von „Verzinsung“ ist falsch. Die „Verzinsung“ der Target-Positionen hat nichts mit Zahlungen von Schuldnern an Gläubiger zu tun. Sie betrifft lediglich die Zurechnung von Einkommen bzw. Kosten der nationalen Zentralbanken im Rahmen der Ermittlung der monetären Einkünfte, die in die Verteilung im Eurosystem eingehen. Die „Verzinsung“ einer Target-Verbindlichkeit bedeutet nicht, dass die betreffende Zentralbank etwas zahlen muss, sondern dass sie bei der Vergemeinschaftung der monetären Einkünfte entsprechende Kosten geltend machen kann. Da die Target-Positionen in der Summierung über alle Beteiligten null ergeben, ist der für sie angesetzte Zinssatz für die Ertragsansprüche der nationalen Zentralbanken letztlich irrelevant.

Die Erträge der Deutschen Bundesbank aus ihrer Beteiligung am Eurosystem sind unabhängig von der Höhe ihrer Target-Forderungen. Der Zeitwert der auf die Target-Forderungen gegründeten zukünftigen Erträge ist daher null. Die Target-Forderungen in der Bilanz spiegeln Eurosystem-interne Vorgänge, aus denen sich kein Ertragsanspruch ergibt. Würde man die geldpolitischen Aktivitäten in eine getrennt bilanzierende Tochtergesellschaft auslagern, so wäre der Wert der Beteiligung an dieser Tochtergesellschaft unabhängig von deren Target-Position.

Einer vollständigen Trennung von monetären und nicht-monetären Aktivitäten steht entgegen, dass verschiedene Anlagen als nicht-monetäre Aktivitäten behandelt werden, obwohl sie mit Zentralbankgeld finanziert werden. Das gilt für die sogenannten Nettofinanzanlagen (NFA), definiert als Überschuss der nicht geldpolitisch begründeten Anlagen über die nicht geldpolitisch begründeten Verbindlichkeiten, und für die Notfall-Liquiditätshilfen an Geschäftsbanken (Emergency Liquidity Assistance – ELA). Beide werden als Aktivitäten „in eigener Verantwortung und auf eigene Rechnung“ nach Art. 14 Abs. 4 der Satzung behandelt.

Man kann Zweifel haben, ob der Umgang mit NFA und ELA vertragskonform ist. Der Umgang mit ELA soll die Zentralbanken anderer Mitgliedstaaten gegenüber den Risiken von Krediten an Geschäftsbanken, die sich ihre Liquidität nicht mehr am Markt beschaffen können, immunisieren. Die Zulassung von NFA ist entstanden, als man bei der Gründung der EZB die Steuerung der Geschäftsbankenliquidität zum zentralen geldpolitischen Instrument bestimmte. Zentralbanken, die ihre Geldpolitik zuvor über Offenmarktinterventionen betrieben hatten, wurden nicht gezwungen, ihre Wertpapiere alsbald zu verkaufen, sondern durften diese als NFA weiter halten.

Bei NFA hätte es nahegelegen, eine Übergangsregelung vorzusehen. Stattdessen hat man die für NFA vorgesehene Regelung auf das seit 2015 betriebene Ankaufprogramm ausgeweitet. Aufgrund einer Initiative von Bundesbankpräsident Weidmann werden diese Wertpapiere im Hinblick auf die monetären Einkünfte wie Anlagen behandelt, die die nationalen Zentralbanken gemäß Art. 14 Abs. 4 der Satzung „in eigener Verantwortung und auf eigene Rechnung“ tätigen. So sollen die Risiken dieser Titel bei den jeweiligen nationalen Zentralbanken verbleiben und nicht dem Eurosystem insgesamt zur Last fallen.

Gibt es Target-Risiken ohne Euro-Austritte?

Fuest und Sinn behaupten,7 die Immunisierung des Eurosystems gegenüber den Risiken nationaler Aktivitäten und nationaler Schuldtitel funktioniere nicht, die Target-Salden brächten auch dann Risiken für die Deutsche Bundesbank mit sich, wenn es nicht zum Euro-Austritt eines Landes käme. Der AfD-Antrag beruft sich auf diese These. Diese ist aber weitgehend haltlos. Die Autoren haben übersehen, dass bei der Ermittlung der monetären Einkünfte einer nationalen Zentralbank die Zinskosten dieser Zentralbank abzuziehen sind (Art. 32 Abs. 4 Satz 1 der Satzung).

Für NFA, ELA-Kredite und das Ankaufprogramm seit 2015 gilt Folgendes:

  • Die tatsächlich erzielten Einkünfte auf diese Anlagen werden nicht als monetäre Einkünfte angesehen. Sie gehen nicht in die Vergemeinschaftung der Einkünfte ein; auch etwaige Verluste werden nicht vergemeinschaftet.
  • Wenn diese Anlagen mit monetären Verbindlichkeiten finanziert werden und daher die monetären Verbindlichkeiten insgesamt höher sind als die monetären Vermögenswerte, wird so getan, als gäbe es einen zusätzlichen monetären Vermögenswert in Höhe des Saldos. Für diesen fiktiven Vermögenswert wird eine Verzinsung zum Hauptrefinanzierungszinssatz veranschlagt.

Nach Fuest und Sinn bedingt die fiktive Verzinsung zum Hauptrefinanzierungszinssatz eine Verpflichtung gegenüber dem Eurosystem; wenn diese ausfalle, so hätten auch die anderen Zentralbanken einen Schaden. Der Hauptrefinanzierungszinssatz liege heute bei null, aber bei positivem Hauptrefinanzierungszinssatz könne es ein Problem geben. 2015 lag der Hauptrefinanzierungszinssatz bei 0,05 % pro Jahr, sodass die 90 Mrd. Euro Notkredite für griechische Banken eine Verpflichtung der griechischen Zentralbank gegenüber dem Eurosystem in Höhe von 45 Mio. Euro (auf das Jahr hochgerechnet, der tatsächliche Jahresdurchschnitt war niedriger) begründete. Könnte die nationale Zentralbank eine solche Verpflichtung nicht erfüllen, wären auch die anderen Zentralbanken betroffen. Daher gebe es Target-Risiken auch ohne Euro-Austritte.

Der Fehler dieser Argumentation liegt darin, dass die Refinanzierungskosten nicht berücksichtigt werden. Im Fall von Griechenland 2015 ging ein erheblicher Teil der bei den Geschäftsbanken abgezogenen Mittel ins Ausland. Die ELA-Kredite ersetzten diese Mittel. Die Target-Verbindlichkeiten der griechischen Zentralbank lagen über 100 Mrd. Euro. Rechnen wir 90 Mrd. Euro davon den Notkrediten zu, so betragen die Refinanzierungskosten der ELA-Kredite bei einem Hauptrefinanzierungszinssatz von 0,05 % 45 Mio. Euro. Zieht man diesen Betrag entsprechend Art. 32 Abs. 4 Satz 1 der Satzung von den monetären Einkünften der griechischen Zentralbank ab, so belief sich der Beitrag der ELA-Kreditvergabe zu den in das Eurosystem einzubringenden monetären Einkünften der griechischen Zentralbank auf null.

Ganz allgemein gilt: Wenn eine Akquisition von Vermögenswerten durch eine nationale Zentralbank „in eigener Verantwortung und auf eigene Rechnung“ mit einer Erhöhung der Target-Verbindlichkeiten dieser Zentralbank einhergeht, wie von Fuest und Sinn unterstellt, so hat die Transaktion keinen Einfluss auf die monetären Einkünfte dieser Zentralbank und damit auf das Eurosystem. Diese Aussage gilt auch für die Akquisition italienischer Staatsanleihen durch die Banca d’Italia seit 2015 und die damit einhergehende Erhöhung von deren Target-Verbindlichkeiten. Die von Fuest und Sinn behauptete Verpflichtung, auf die sie – und die AfD-Fraktion – die Warnung vor Target-Risiken ohne Euro-Austritte gründen, besteht dann gar nicht.

Nun können ELA-Kredite, die zur Abwehr eines Bank Runs dienen, mit einer Erhöhung der Notenausgabe einhergehen. Für einen Teil dieser Erhöhung, im Fall Griechenlands 2,3 %, wäre der zu veranschlagende Refinanzierungszinssatz null, für den Rest wäre es wiederum der Hauptrefinanzierungszinssatz. Die griechischen ELA-Kredite von 2015 hätten in dieser Konstellation den Beitrag der griechischen Zentralbank zum Eurosystem um ungefähr 1 Mio. Euro erhöht (0,05 % mal 2,3% von 90 Mrd.).

Der Anteil der griechischen Zentralbank an den monetären Einkünften des Eurosystems betrug ca. 15 Mio. Euro, der für 2015 insgesamt ausgewiesene (und ausgeschüttete) Gewinn der griechischen Zentralbank über ١,١ Mrd. Euro, dies vor allem aufgrund der hohen Zinsen auf ELA-Kredite an griechische Geschäftsbanken. Von diesen Zinsen hatte die Deutsche Bundesbank allerdings nichts. Insofern hatte die Abwälzung der Risiken von ELA auf die griechische Zentralbank auch Kosten für die Deutsche Bundesbank und den deutschen Steuerzahler.

Austrittsrisiken

Die Anträge beider Fraktionen warnen vor den Risiken, die der Austritt eines Mitgliedstaats aus der EWU oder gar der Zerfall der EWU für den deutschen Steuerzahler mit sich brächte. Im Raum steht die Befürchtung, dass die Target-Forderungen der Deutschen Bundesbank teilweise oder ganz verloren gingen. Wir halten diese Befürchtung für unbegründet. Die Fokussierung auf die Target-Positionen lenkt von den eigentlichen Risiken ab, die mit dem Austritt eines Mitgliedstaats aus der EWU verbunden sind. Die aufgrund der Furcht vor Target-Risiken empfohlenen Maßnahmen könnten diese Risiken noch vergrößern.

Die rechtlichen Wirkungen des Austritts eines Mitgliedstaats aus der EWU sind nicht klar. Der EU-Vertrag sagt dazu nichts, nach diesem Vertrag ist ein Austritt nicht vorgesehen. Es würde also darauf ankommen, was die Austrittsverhandlungen ergäben. In solchen Verhandlungen werden die EU-Institutionen, EZB und Kommission, und die verbleibenden Mitglieder der EWU geltend machen, die Target-Verbindlichkeiten der Zentralbank des austretenden Landes seien als Schuldtitel zu behandeln und nach dem völkerrechtlichen Prinzip pacta sunt servanda zu bedienen. Das austretende Land dagegen wird geltend machen, es handle sich nicht um echte Schuldtitel, sondern um Positionen in einem Kontensystem, das Eurosystem-interne Vorgänge zur Erfüllung der vertraglichen und satzungsmäßigen Pflichten widerspiegelt. Daher sei das Prinzip pacta sunt servanda nicht anzuwenden.

Es ist müßig, über diese Rechtsfragen zu spekulieren. Unterstellen wir aber, die Warnungen vor dem „Verlust“ der Target-Forderungen seien berechtigt, dass beispielsweise im Fall eines Austritts Italiens aus der EWU die Target-Verbindlichkeit der Banca d’Italia in Höhe von rund 500 Mrd. Euro gestrichen wird. Was wären die Folgen? Hier ist zwischen den Folgen für die Rechnungslegung und den wirtschaftlichen Folgen zu unterscheiden. Wir hatten oben darauf hingewiesen, dass der Ausweis der Target-Positionen in den Bilanzen der Zentralbanken nichts mit dem Zeitwert der an die Target-Positionen geknüpften Ertragsströme zu tun hat; letzterer ist null, da die Ertragsansprüche der Zentralbanken nicht von den Target-Positionen abhängen.

Wenn Target-Verbindlichkeiten einer nationalen Zentralbank gegenüber der EZB ersatzlos gestrichen werden, muss diese die entsprechende Target-Forderung abschreiben und ihr Eigenkapital entsprechend verringern, sofern sie nicht einen „Ausgleichsposten für Ausfall von Target-Forderungen“ in ihre Bilanz aufnimmt.8 Möglicherweise würde die EZB darauf dringen, dass die verbleibenden nationalen Zentralbanken ihre Target-Forderungen gegenüber der EZB reduzieren; bei der Bundesbank ginge es um ca. 150 Mrd. Euro.

Jedoch hätte der „Ausfall“ einer „Forderung“, die die EZB bzw. die Deutsche Bundesbank zu nichts berechtigt, keine betriebswirtschaftlichen Folgen. Betriebswirtschaftliche Folgen des Austritts eines Landes aus der EWU ergeben sich nur daraus, dass die monetären Einkünfte der Zentralbank dieses Landes nicht mehr im Eurosystem vergemeinschaftet werden und dass die Zentralbank dieses Landes ihren Anspruch auf Beteiligung an den monetären Einkünften des Eurosystems und an den Gewinnen der EZB verliert. Ist der Anteil der Zentralbank an den monetären Einkünften des Eurosystems und den Gewinnen der EZB größer als ihr Beitrag zu den monetären Einkünften des Eurosystems, so wäre der Austritt des Landes für die verbleibenden Mitglieder des Eurosystems betriebswirtschaftlich sogar von Vorteil. Im umgekehrten Fall wäre ein Austritt für das betreffende Land betriebswirtschaftlich von Vorteil. Diese Abwägung hat aber nichts mit der Höhe der Target-Salden zu tun.

Unterstellen wir, dass die monetären Einkünfte der Zentralbank des austretenden Landes und ihr Anteil an den monetären Einkünften des Eurosystems und den Gewinnen der EZB sich gerade ausgleichen, so hat der Austritt keine Wirkungen auf die von der Deutschen Bundesbank zu erwartenden Ertragsströme aus ihrer Beteiligung an der EWU. Die Abschreibung der Target-Forderungen wäre eine reine buchhalterische Operation.

Nun können auch rein buchhalterische Operationen betriebswirtschaftliche Wirkungen haben. So könnte die Bundesbank sich genötigt sehen, zusätzliches Eigenkapital aufzunehmen. Da dieses Eigenkapital vom Bund aufgebracht werden müsste, könnte man vermuten, dass die Abschreibung von Target-Forderungen beim Austritt eines Landes letztlich doch den Steuerzahler belastet. Diese Vermutung ist aber nicht richtig. Stellen wir uns vor, der Bund stellt der Bundesbank zusätzliches Eigenkapital in Höhe von 150 Mrd. Euro zur Verfügung und finanziert diese Operation durch Ausgabe von Schuldtiteln. Nehmen wir an, die Bundesbank investiert die Mittel, die der Bund ihr zur Verfügung stellt, in Schuldtitel mit derselben Verzinsung wie Bundesanleihen. Das Eigenkapital gilt als nicht-monetäre Finanzierung der Bundesbank, insofern gehen die Erträge auf die damit finanzierten Vermögenswerte nicht in die monetären Einkünfte des Eurosystems ein, sondern kommen voll der Bundesbank zu und können von dieser an den Bund ausgeschüttet werden. Der Bund kann diese Erträge verwenden, um die ausgegebenen Schuldtitel zu bedienen. Der Rest des Bundeshaushalts wird von der ganzen Operation nicht berührt.

Hinter dieser Überlegung stehen zwei Erwägungen: Das Einbringen zusätzlichen Eigenkapitals erfordert nicht nur eine Leistung des Bundes, sondern bringt diesem auch Erträge. Wenn die buchhalterische Operation, die die Rekapitalisierung veranlasst, in diesem Fall die Abschreibung von Target-„Forderungen“, keine Änderung der zu erwartenden Ertragsströme widerspiegelt, gibt es auch keine Änderung der vom Bund zu erwartenden Ausschüttungen.

Die vorstehenden Überlegungen gelten analog auch für den im Antrag der FDP-Fraktion diskutierten Fall, dass die Belastung des Eigenkapitals durch Buchverluste auf Target-Forderungen durch Verringerungen der Ausschüttungen der Bundesbank an den Bund kompensiert wird. Soweit den Buchverlusten auf Target-Forderungen keine Änderungen der Ertragsströme entsprechen, bedeutet die Verringerung der Ausschüttungen nicht nur, dass der Bund weniger Geld bekommt, sondern auch, dass die Bundesbank mehr Vermögenswerte hält, auf die sie im weiteren Verlauf zusätzliche Erträge erhält. Dieser Aspekt wird im Antrag der FDP-Fraktion übersehen.

Für die Deutsche Bundesbank, den Bund und die deutschen Steuerzahler kommt es auf die realen betriebswirtschaftlichen Auswirkungen des Austritts an. Diese wiederum hängen nicht von den Target-Salden ab, sondern vom Verhältnis zwischen dem Beitrag der Zentralbank des austretenden Landes zu den monetären Einkünften des Eurosystems und ihrem Anteil an den Einkünften aus dem Eurosystem.

Für Italien ergibt sich folgende überschlägige Rechnung: Die Bilanz der Banca d’Italia wies Ende 2017 insgesamt ca. 610 Mrd. Euro an geldpolitisch bedingten Vermögenswerten, Refinanzierungskrediten und Wertpapieren aus. Die konsolidierte Bilanz des Eurosystems insgesamt wies ca. 3580 Mrd. Euro an geldpolitisch bedingten Vermögenswerten aus. Der Anteil der Banca d’Italia an den monetären Einkünften des Eurosystems beträgt 17,6 %, entsprechend ihrem Anteil am eingezahlten Kapital der EZB. In erster Näherung beträgt daher der Wert ihres Anspruchs auf Anteile an den monetären Einkünften des Eurosystems 17,6 % von 3580 Mrd., d. h. ca. 630 Mrd. Euro, das ist mehr als der Wert der Anlagen, die Italien im Fall eines Austritts dem Eurosystem entziehen würde. Der betriebswirtschaftliche Effekt eines Austritts wäre demnach für die Banca d’Italia leicht negativ, für die übrigen Zentralbanken leicht positiv.

Ein erheblicher Teil der Vermögenswerte der Banca d’Italia ist allerdings dem seit 2015 verfolgten Wertpapierankaufprogramm des ESZB zuzurechnen und daher ohnehin von der Vergemeinschaftung der Einkünfte im Eurosystem ausgenommen. Setzt man den betreffenden Betrag mit 200 Mrd. Euro an und unterstellt, dass diese 200 Mrd. Euro entsprechend den dazu gefassten EZB-Beschlüssen 17,6 % der Ankäufe des Eurosystems insgesamt ausmachen, so belaufen sich die Anlagen, die die Banca d’Italia dem Eurosystem im Falle eines Austritts entzöge, auf ca. 410 Mrd. Euro und die Ansprüche auf Anteile an den monetären Einkünften des Eurosystems auf ca. 430 Mrd. Euro. Die Differenz beträgt wie zuvor 20 Mrd. Euro.

Dass die Differenz genauso hoch ist wie zuvor, ist kein Zufall. Ein Programm, bei dem alle Zentralbanken im Verhältnis ihrer Anteilsansprüche Wertpapiere kaufen und bei dem die Erträge dieser Wertpapiere der Vergemeinschaftung entzogen sind, ist in erster Näherung bezüglich der betriebswirtschaftlichen Wirkungen eines Austritts aus der EWU neutral. Die für das Wertpapierankaufprogramm seit 2015 eingeführte Sonderregel bewirkt, dass dieses Programm keinen Einfluss hat auf die Abwägung zwischen den Vorteilen einer Herausnahme eigener Vermögenswerte aus der Vergemeinschaftung der Einkünfte im Eurosystem und den Nachteilen eines Ausscheidens aus der Verteilung der Einkünfte des Eurosystems. Dass das Programm erheblich zum Anstieg der Target-Salden seit 2015 beigetragen hat, ist für diese Abwägung unerheblich.

Die Vorstellung, Italien habe viel zu gewinnen, wenn es aus der EWU austräte und Target-Verbindlichkeiten von 500 Mrd. Euro aus den Büchern striche, ist abwegig. Verbindlichkeiten, die keine Verpflichtung mit sich bringen, aus den Büchern zu streichen, bringt – abgesehen von einem gewissen Show-Effekt – keine Vorteile. Betriebswirtschaftliche Vorteile ergeben sich daraus, dass man dem Eurosystem Einkünfte entzieht. Dafür verliert man aber den Anspruch auf Beteiligung an den Einkünften des Eurosystems. Der Netto-Effekt hat mit den Target-Salden nichts zu tun.

Reformvorschläge der Fraktionen von FDP und AfD für das Target-System

Die Anträge der Fraktionen enthalten verschiedene Vorschläge für eine Reform des Target-Systems. Nach dem Antrag der AfD-Fraktion sollen Target-Verbindlichkeiten besichert werden. Hierfür sollen Vermögensgegenstände in absteigender Bonität, beginnend mit Gold, verwandt werden. Nach dem Antrag der FDP-Fraktion soll ein geordnetes Austrittsverfahren eingeführt werden, bei dem negative Target-Salden bei Verlassen der EWU in auf Euro lautende Staatsschuldtitel umgewandelt werden, ferner soll die Beschlussfassung im EZB-Rat über unkonventionelle geldpolitische Maßnahmen, insbesondere Staatsanleihekaufprogramme und Absenkungen des Sicherheitenrahmens, jeweils eine qualifizierte Mehrheit erfordern; auch die Vergabe von ELA-Krediten soll einer qualifizierten Mehrheit bedürfen. Alle diese Vorschläge erfordern eine Änderung der Satzung. Da diese als Protokoll Nr. 4 integraler Bestandteil des Vertrags ist, bräuchte man dazu Einstimmigkeit. Die hier geforderten Änderungen wären nur durchzusetzen, wenn Deutschland an anderer Stelle eine Gegenleistung erbrächte. Wir sehen die Gefahr, dass die deutsche Seite im Zuge solcher Verhandlungen substanzielle Opfer erbringen müsste, um Probleme zu „lösen“, die in Wirklichkeit keine sind, deren Wahrnehmung aber in Teilen der deutschen Öffentlichkeit durch Missverständnisse und Fehler geprägt ist.

Zum Vorschlag der AfD-Fraktion

Der Vorschlag der AfD-Fraktion läuft letztlich auf eine Auflösung des Eurosystems hinaus. Er behandelt Target-Positionen als Ergebnis einer Kreditvergabe zwischen den beteiligten Zentralbanken, ähnlich wie die Währungsswaps und -kredite, die im System von Bretton Woods vor 1973 benutzt wurden, um die Wechselkurse zu stützen. Der Vorschlag impliziert, dass bei Nichtbeibringen geeigneter Sicherheiten die „Target-Kredite“ nicht gewährt werden. Damit käme man einem System der Kreditvergabe auf Vertragsbasis sehr viel näher als jetzt, wo alle Beteiligten den Weisungen der EZB unterworfen sind und die Einkünfte grundsätzlich vergemeinschaftet werden. Man müsste daher erwarten, dass die Mitgliedstaaten und die nationalen Zentralbanken auch die Weisungsbefugnis der EZB infrage stellen würden. Dann wäre es nicht mehr weit bis zu den Missbräuchen autonomer und exzessiver Geldschöpfung, die z. B. die lateinische Münzunion Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts zerstört haben. Die Anträge der beiden Fraktionen suggerieren, dass es diese Missbräuche in Form exzessiver Geldschöpfung durch einzelne nationale Zentralbanken jetzt schon gibt. Wir halten das für eine unbelegte Unterstellung und begründen diese Auffassung im volkswirtschaftlichen Teil dieser Stellungnahme.

Soweit es den Antragstellern darum geht, zu verhindern, dass eine asymmetrische exzessive Geldschöpfung in bestimmten Mitgliedstaaten den dort ansässigen Personen und Institutionen die Möglichkeit gibt, durch „Selbstbedienung mit der Notenpresse“ und durch Target ermöglichte Überweisungen ins Ausland Güter und Vermögenswerte in Deutschland zu kaufen, ist anzumerken, dass es nicht genügt, nur den Überweisungsverkehr zu beschränken. Die Nutznießer solcher Missbräuche könnten auch Banknoten z. B. in Bozen abheben und per Lkw nach Innsbruck oder Garmisch transportieren. Die Kosten wären zwar etwas höher als bei Überweisungen, aber die Vorstellung, man könne zwischen italienischen Euros und österreichischen oder deutschen Euros unterscheiden, erwiese sich als Illusion.

Soweit es den Antragstellern darum geht, die mit den Target-Positionen verbundenen Risiken für die deutschen Steuerzahler zu verringern, ist anzumerken, dass ihr Vorschlag kontraproduktiv wirken kann. Wie erläutert, sind die Target-Positionen ohne Euro-Austritte nicht mit Risiken für die Deutsche Bundesbank verbunden, da deren Ertragsansprüche nicht von diesen Positionen abhängen. Ferner hängen die bei Euro-Austritten auftretenden Risiken nicht von den Target-Positionen ab, sondern von der Differenz zwischen den monetären Vermögenswerten der austretenden Zentralbanken und dem Wert ihrer Anteile an den Einkünften des Eurosystems. Eine Besicherung der Target-Positionen böte dem austretenden Staat die Möglichkeit, die Zahlungen auf die als Sicherheit dienenden Schuldtitel ausfallen zu lassen. Das würde einen Austritt attraktiver machen.

Der Vorschlag der AfD hätte insofern genau den gegenteiligen Effekt wie die von Bundesbankpräsident Weidmann durchgesetzte Sonderregel für das Wertpapierankaufprogramm des Eurosystems. Unter dieser Sonderregel hält z. B. die Banca d’Italia italienische Staatsanleihen auf eigene Rechnung; eine Zahlungsverweigerung des italienischen Staats träfe zunächst die Banca d’Italia und damit den italienischen Staat selbst. Lägen diese Titel als Sicherheiten bei der EZB, so böte ein Austritt in Verbindung mit einer Zahlungsverweigerung auf diese Sicherheiten die Möglichkeit einer Entschuldung.

Zu den Vorschlägen der FDP-Fraktion

Antrag auf Einführung eines geordneten Austrittsverfahrens: Die Vorstellung, ein Austritt könne in einem geordneten Verfahren durchgeführt werden, ist ähnlich naiv wie die Vorstellung, man könne eine systemrelevante Bank ohne erhebliche Kollateralschäden in einem geordneten Verfahren abwickeln. Dem Vorteil der Festlegung gewisser Verfahrensautomatismen im Vorhinein ständen die Kosten möglicher Krisen gegenüber, die entstehen könnten, wenn Marktteilnehmer aufgrund sich selbst erfüllender Prognosen auf die Auflösung der EWU spekulieren.

Selbst mit geordnetem Verfahren würde ein Euro-Austritt erhebliche Verwerfungen in den Märkten und im Wirtschaftsleben mit sich bringen, auch größere Veränderungen von Preisrelationen. Die Erwartung dieser Veränderungen würde Spekulationswellen erzeugen, die für ein geordnetes Verfahren kaum Platz lassen. Einige Mitgliedstaaten gelten als Weichwährungsländer; dort könnte die Aussicht auf Euro-Austritt und Währungskonversion eine Verkaufswelle für Nominalwerte nach sich ziehen. Andere Mitgliedstaaten gelten als Hartwährungsländer, da käme es zu Aufwertungserwartungen und einer entsprechenden Kaufwelle. Diese Vorgänge könnten so massiv sein und so schnell vonstattengehen, dass die zuständigen politischen Instanzen nicht mehr Herren des Verfahrens wären. In den 1970er und 1980er Jahren hat man solche Erfahrungen gemacht, die mit zur Gründung der EWU mit zentraler Leitung durch den EZB-Rat geführt haben. Der Vorschlag, Target-Verbindlichkeiten im Fall eines Austritts in auf Euro lautende Schuldtitel des betreffenden Staats umzuwandeln, ist unrealistisch. Der Vorschlag dürfte ebenso wie die Forderungen auf die Schuldtitel kaum durchsetzbar sein. In Anbetracht unserer Ausführungen zu den mit einem Austritt verbundenen Risiken warnen wir davor, zur Durchsetzung dieses Vorschlags Zugeständnisse an anderer Stelle zu machen.

Vorschlag, für bestimmte Entscheidungen des EZB-Rats qualifizierte Mehrheiten zu verlangen: Wir stehen diesem Vorschlag aus mehreren Gründen skeptisch gegenüber. Hier wäre ebenfalls zu erwarten, dass in einer Verhandlung über die erforderliche, einstimmig zu beschließende Satzungsänderung auch andere Teile der Satzung zur Diskussion ständen. Das Ergebnis wäre aus deutscher Sicht nicht unbedingt eine Verbesserung. Ferner ist der Begriff der „unkonventionellen Geldpolitik“ zu unpräzise für eine solche Rechtsnorm. In früheren Zeiten galt Offenmarktpolitik als konventionell; dabei war klar, dass Offenmarktpolitik sich auf Staatsanleihen beziehen müsse, um Verzerrungen der Märkte für private Schuldtitel zu vermeiden. In Deutschland bediente die Geldpolitik sich mehr des Wechseldiskonts und der Lombardkredite, später der Pensionsgeschäfte, aber auch die Deutsche Bundesbank hat in den 1970er Jahren Offenmarktankäufe von Staatsanleihen getätigt. Da verschiedene Länder verschiedene Traditionen haben, wäre zu fragen, welche dieser Traditionen herangezogen werden sollte, um festzulegen, was „konventionell“ ist und was nicht.

Die Prominenz des Ausdrucks „unkonventionelle Geldpolitik“ seit 2008 reflektiert auch die Erkenntnis, dass das, was sich in den 20 Jahren davor als „Konvention“ etabliert hatte, den Problemen nicht mehr angemessen war. In dieser Zeit hatte man sich daran gewöhnt, Inflationsziele zu setzen und zur Implementierung die Zinssätze zu steuern. In der Krise 2008 stieß diese „Konvention“ an ihre Grenzen. Zum einen sind bei sehr niedrigen Zinssätzen die weiteren Möglichkeiten der Zinssteuerung beschränkt, zum anderen versagt die Steuerung des Geldsystems durch Zinssätze, wenn das Bankensystem in einer Krise ist.

Schließlich unterschätzt der Vorschlag die mit der Exekutivfunktion der Zentralbank verbundene Dringlichkeit eines schnellen und dezidierten Handelns in Krisensituationen. Die im FDP-Antrag angeprangerten „unkonventionellen“ Maßnahmen der EZB gehen zu guten Teilen auf die Lehman-Krise im Herbst 2008 zurück und kamen damals in großem Maße deutschen Banken zugute, so etwa der Hypo Real Estate, die als eine der ersten umfangreiche ELA-Kredite erhielt. Damals trug auch das entschiedene Handeln der US-amerikanischen Federal Reserve, mit Liquiditätshilfen in dreistelliger Milliardenhöhe für in den USA tätige deutsche Großbanken und der Bereitstellung von US-Dollar-Liquidität in vierstelliger Milliardenhöhe durch Währungsswaps mit der EZB, maßgeblich zur Stabilisierung des deutschen Banksystems bei.

Gerade in Deutschland sollte man sich daran erinnern, dass die Bankenkrise von 1931 das Land nachhaltig geschädigt hat. Die Kreditvergabe brach ein, das Bruttoinlandsprodukt sank von 80 % des Vorkrisenniveaus weiter auf 60 %, und die Arbeitslosigkeit stieg auf die sprichwörtlichen 6 Mio. an. Damals musste die Reichsbank ihre Unterstützung für die Großbanken beenden, weil ein Run der Anleger auf Reichsmark und Banken ihre Bestände an Gold und Devisen binnen kurzem von 68 % der Bargeldausgabe auf die gesetzliche Untergrenze von 40 % reduziert hatte. Als die Reichsbank ihre Unterstützung beendete, beschleunigte sich der Run noch einmal, die Banken wurden geschlossen und vom Staat übernommen und standen auch nach erneuter Öffnung nur begrenzt zur Verfügung. Die de facto insolvente Danatbank bekam nun keine Mittel mehr von der Reichsbank. In Anbetracht der Folgen im weiteren Verlauf der Jahre 1931 und 1932, ganz zu schweigen vom 30. Januar 1933, war dieser Sieg der marktwirtschaftlichen Prinzipien durch Regelbindung der Reichsbank aber sehr teuer.

In der deutschen Diskussion über ELA-Kredite heißt es, zum einen dienten diese einer unkontrollierten Geldschöpfung, zum anderen seien sie mit Risiken für die deutschen Steuerzahler verbunden. Wir halten beide Vorstellungen für falsch. Zu den Risiken der ELA-Kredite für die deutschen Steuerzahler verweisen wir auf unsere obigen Ausführungen. Auf die Bedeutung der ELA-Kredite für die Geldschöpfung gehen wir im volkswirtschaftlichen Teil dieser Stellungnahme ein.

* Der folgende Text enthält eine gekürzte Fassung des rechtlichen und betriebswirtschaftlichen Teils der von den Autoren zu diesem Anlass verfassten Stellungnahme für die im Text genannte Anhörung. Der volkswirtschaftliche Teil folgt in einer späteren Ausgabe des Wirtschaftsdienst

  • 1. Antrag der FDP-Fraktion: Kapitalmarktunion vertiefen, Staatsschulden entprivilegieren, Target2-Salden verringern; Bundestagsdrucksache 19/6416; Antrag der AfD-Fraktion: Target-Forderungen unabhängig vom Fortbestand des Euros besichern, Bundestagsdrucksache 19/9232.
  • 2 Unsere Ausführungen stützen sich auf M. Hellwig: Target-Falle oder Empörungsfalle? Zur deutschen Diskussion um die Europäische Währungsunion, in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik, 19. Jg. (2018), H. 4, S. 345-382.
  • 3 Das Eurosystem besteht aus der EZB und den Zentralbanken der Länder, deren Währung der Euro ist. Es ist ein Teil des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB), das auch die Zentralbanken von Mitgliedstaaten der EU umfasst, die eine eigene Währung haben.
  • 4 Insbesondere C. Fuest, H.-W. Sinn: Target-Risiken ohne Euro-Austritte, in: Ifo-Schnelldienst, 71. Jg. (2018), H. 24; vgl. auch H.-W. Sinn: The Euro Trap: On Bursting Bubbles, Budgets, and Beliefs, Oxford 2014; sowie ders.: Fast 1000 Mrd. Target-Forderungen der Bundesbank: Was steckt dahinter?, in: ifo-Schnelldienst 71. Jg. (2018), H. 14.
  • 5 Europäische Zentralbank: Beschluss (EU) 2016/2248 über die Verteilung der monetären Einkünfte der Nationalen Zentralbanken der Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, 3.11.2016.
  • 6 Vgl. H.-W. Sinn: The Euro Trap ..., a. a. O., S. 195 f.; ders.: Die Target-Falle: Gefahren für unser Geld und unsere Kinder, München 2012, S. 179 f.
  • 7 C. Fuest, H.-W. Sinn, a. a. O.
  • 8 Das entspräche dem Vorgehen der Deutschen Bundesbank bei Verlusten aufgrund von DM-Aufwertungen 1973.

Title:Do Target Balances Create Risks for Taxpayers?

Abstract:In this abbreviated version of a report excerpt from a hearing on ‘target balances’ held by the Finance Committee of the German parliament on 5 June 2019, the authors discuss legal and business aspects of the Bundesbank’s ‘target claims’. Warnings about risks to German taxpayers are shown to be based on a flawed interpretation of the relevant legal norms, under which target balances involve no rights and obligations. The so-called ‘interest’ on target balances merely serves to protect the calculation of joint income from the vagaries of cross-border transactions. If a country leaves the EMU, the effects on the remaining central banks do not hinge on target balances, but on the difference between the value of the assets the country withdraws from the system and the value of the share in joint income that it foregoes. Reform proposals that confuse the matter can actually increase risks to taxpayers.


DOI: 10.1007/s10273-019-2490-0

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