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Am 5. Juni 2019 veranstaltete der Finanzausschuss des Deutschen Bundestags eine öffentliche Anhörung zu zwei Anträgen der Fraktionen der FDP und der AfD zum Thema „Target“. Die Anträge betonen die Risiken der Target-Salden für die Bundesbank und untermalen die betriebswirtschaftliche Argumentation mit Warnungen vor einer „Selbstbedienung“ anderer Länder „mit der Notenpresse“ und einem Abfluss von Ressourcen aus Deutschland ohne Gegenleistung. Die Stellungnahme der Autoren gegenüber dem Finanzausschuss kritisiert viele Behauptungen der Anträge zur volkswirtschaftlichen Einordnung der Target-Salden als sachlich falsch.

Der FDP-Antrag1 macht das fragmentierte Bankensystem im Euroraum für die Entwicklung der Target-Salden verantwortlich. Der AfD-Antrag2 lehnt diese Erklärung ausdrücklich ab und behauptet, die Ursachen lägen in den anhaltenden Leistungsbilanzüberschüssen bzw. -defiziten innerhalb der Eurozone. Beiden Anträgen ist der Versuch gemein, den gesamten Zeitraum einheitlich zu erklären. Dieser Versuch kann nicht gelingen, denn die Wirkungsmechanismen waren in verschiedenen Phasen sehr unterschiedlich.

Abbildung 1 zeigt, dass die Target-Positionen von 2000 bis 2007 relativ klein waren.3 Sie erreichten einen ersten Höhepunkt in der Finanzkrise 2008. Nach einem Rückgang 2009 kam es im Zuge der Eurokrise ab 2010 zu einem erneuten Anstieg, der sich 2011 beschleunigte und bis zum Herbst 2012 anhielt. Anschließend gingen die Target-Positionen bis Ende 2014 deutlich zurück. Seit Frühjahr 2015 sind die Target-Positionen wieder stark angestiegen, sodass sie heute sogar deutlich über dem Höhepunkt von 2012 liegen. Hinter diesen Entwicklungen stehen folgende Mechanismen:

  • Vor der Finanzkrise haben Investoren mit Standort in Deutschland sehr viel Kapital in die Peripherieländer exportiert. In dieser Zeit wurden die Leistungsbilanzsalden der verschiedenen Länder weitgehend durch gegenläufige Kapitalverkehrssalden kompensiert. Man kann aber nicht sagen, das eine habe das andere verursacht: Wenn eine deutsche Bank zu Baufinanzierungen in Griechenland, Irland oder Spanien beitrug, war sie an der „Verursachung“ der Leistungsbilanzdefizite dieser Länder beteiligt, während umgekehrt die dortigen Bauunternehmer, die Kredite nachfragten, an der „Verursachung“ der deutschen Kapitalexporte beteiligt waren.
  • Als in der Lehman-Krise die Interbankenmärkte zusammenbrachen, gaben die Zentralbanken des Eurosystems den Geschäftsbanken Liquiditätshilfen. Dadurch konnten Banken der Peripherieländer ihre Schulden gegenüber deutschen Banken ablösen, was die Target-Salden erhöhte. In der Eurokrise beschleunigte sich der Rückzug deutscher Banken aus Krediten an Banken in den Peripherieländern. Nach der Ankündigung des griechischen Schuldenschnitts 2011 zogen deutsche Banken sich auch aus Wertpapieren der Peripherieländer zurück, so etwa die Deutsche Bank aus italienischen Staatsanleihen. Insoweit die Titel von Investoren in den Peripheriestaaten gekauft wurden, gingen diese Transaktionen in die Target-Salden ein. Ab Herbst 2012 kam es zu erheblichen Rückflüssen von Mitteln in die Peripherieländer.
  • Der erneute Anstieg der Target-Positionen seit Frühjahr 2015 ist im Wesentlichen durch die massiven Wertpapierankäufe des Eurosystems bedingt. Nach der von Bundesbankpräsident Weidmann durchgesetzten Sonderregel kaufen die nationalen Zentralbanken jeweils die Titel ihres eigenen Staats und das jeweils auf Rechnung der betreffenden Zentralbank. Wenn z. B. die Banca d’Italia italienische Staatstitel von in Deutschland ansässigen Investoren kauft, so erfolgt eine Überweisung aus Italien nach Deutschland; diese erhöht sowohl die Target-Verbindlichkeit der Banca d’Italia als auch die Target-Forderung der Bundesbank. Dieser Effekt ist für Deutschland, die Niederlande, Finnland und Luxemburg besonders ausgeprägt, da institutionelle Investoren außerhalb des Euroraums diese Länder bevorzugt als Standorte für Tochtergesellschaften zur Abwicklung von Aktivitäten im Euroraum nutzen.
Abbildung 1
Target2-Salden im Euroraum
Monatsdaten
Target2-Salden im Euroraum

Quelle: Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung auf Basis von Europäische Zentralbank.

Andere Effekte spielen zumindest für die Entwicklung seit 2015 keine große Rolle. Der Antrag der AfD-Fraktion betont die Rolle der Leistungsbilanzsalden. Diese können jedoch die Erhöhung der Target-Positionen um mehrere 100 Mrd. Euro seit 2015 nicht erklären. Irland, Italien, Spanien und Portugal weisen seit 2013 fast durchweg Leistungsbilanzüberschüsse auf.4 Griechenland hatte zwar weiterhin Leistungsbilanzdefizite, diese lagen aber durchweg im einstelligen Milliardenbereich.

Auch verschiedene im AfD-Antrag genannte Maßnahmen der „unkonventionellen“ Geldpolitik, nämlich die Vollzuteilungspolitik, die Reduzierung der Qualitätsanforderungen an notenbankfähige Sicherheiten und die Vergabe von Liquiditätsnothilfe-Krediten (Emergency Liquidity Assistance – ELA),5 haben mit der Entwicklung seit 2015 kaum etwas zu tun. Diese Maßnahmen, die schon in der Lehman-Krise 2008, d. h. vor der Eurokrise, eingeführt wurden und damals auch deutschen Banken zugutekamen, spielten 2008 und 2011/2012 eine Rolle. Seit 2015 sind die ELA-Kredite der nationalen Notenbanken aber zurückgegangen,6 und die Refinanzierungskredite an Geschäftsbanken haben weitgehend stagniert.7

Die im FDP-Antrag erwähnte Fragmentierung der Finanzsektoren im Euroraum spielt für die Entwicklung seit 2008 eine größere Rolle. Vor der Finanzkrise war es durch Interbankenkredite und Diversifizierung der Anleiheportefeuilles zu einer stärkeren Integration der Finanzsysteme gekommen.8 Diese Entwicklung kehrte sich 2008 um. Seit 2015 spielt die Fragmentierung insofern eine Rolle, als z. B. die Investoren in Deutschland, von denen die Banca d’Italia im Zuge des Wertpapierankaufprogramms italienische Staatsanleihen gekauft hat, die Erlöse nicht wieder in Italien angelegt haben.

Allerdings ist die im FDP-Antrag enthaltene Interpretation der Target-Positionen als „Fieberthermometer“ bzw. als „Symptom einer starken wirtschaftlichen Unwucht“, zu hinterfragen. Hohe Target-Positionen können eine normale Folge der interregionalen Spezialisierung sein, wenn etwa ein Land wie Luxemburg oder die Niederlande als Finanzzentrum fungiert, das Mittel von überallher anzieht und nicht in denselben Ländern wieder anlegt. Auch ist das Fehlen starker Veränderungen in den Target-Positionen kein verlässliches Signal. Vor 2008 signalisierte das „Fieberthermometer“ der Target-Salden keine Gefahr, aber gerade in dieser Zeit trugen die hohen deutschen Kapitalexporte zum Aufbau der Immobilienblasen in den Peripherieländern bei, die später in die Krise führten.

Zum Narrativ der EZB-Kritiker

Im Zentrum der deutschen Diskussion steht folgendes Narrativ: Die Zentralbanken der Peripherieländer hätten nach Belieben Geld gedruckt und in Umlauf gebracht. Die Bewohner dieser Länder seien mit diesem Geld auf Einkaufstour gegangen, hätten Konsumgüter, Immobilien und Unternehmen in Deutschland gekauft. Die Verkäufer hätten für diese realen Werte („Ressourcen“) nur Banknoten oder Ansprüche auf Banknoten erhalten, Forderungen an die Deutsche Bundesbank. Diese Forderungen seien ungedeckt, denn die Gegenposition in der Bilanz der Deutschen Bundesbank bestehe nur aus wertlosen Target-Forderungen gegenüber der Europäischen Zentralbank (EZB).

Ursache und Wirkung vertauscht

Das Narrativ ist eingängig, aber falsch. Zum Ersten werden Ursache und Wirkung vertauscht. Die Entwicklung begann nicht damit, dass die Zentralbanken der Peripherieländer die Notenpresse in Gang setzten, sondern damit, dass deutsche Banken italienische und griechische Staatsanleihen kauften und spanischen und irischen Banken Kredite gewährten. Die hohen Leistungsbilanzsalden vor der Krise spiegelten nicht nur die unterstellte „Gier“ der Peripherieländer nach deutschen Ressourcen, sondern auch die „Gier“ deutscher Investoren, allen voran der Banken, nach Renditen für ihre Anlagen. Die hohe Ersparnisbildung der privaten Haushalte, die Zurückhaltung der Unternehmen bei Inlandsinvestitionen und die Konsolidierung der Staatsfinanzen in Deutschland bewirkten eine Knappheit an attraktiven Anlagemöglichkeiten im Lande, da ging man stattdessen ins Ausland, übrigens auch in „toxische“ Papiere in den USA.

Das Anwerfen der Notenpresse begann erst in der Finanzkrise 2008 bzw. der Eurokrise 2011. Im AfD-Antrag heißt es dazu, ähnlich wie bei Sinn,9 die Gläubiger hätten das Vertrauen in die Schuldner verloren. Richtig ist, dass in der Lehman-Krise der Run auf die US-amerikanischen Geldmarktfonds die Interbankenmärkte weltweit einbrechen ließ, sodass Finanzinstitute, auch deutsche, die sich für ihre Refinanzierung auf diese Märkte verlassen hatten, in Schwierigkeiten gerieten. Weltweit wurden Kredite gekündigt und Wertpapiere verkauft, um an Geld zu kommen. Die Kurse von Anleihen und Aktien brachen ein, sodass z. B. die deutsche Bank Hypo Real Estate Ende 2008 negatives Eigenkapital auswies.

Im Antrag der FDP-Fraktion wird kritisiert, „durch Geldflutung (Vollzuteilungspolitik, Absenkung des Sicherheitenrahmens, ...) wurde der Interbankenmarkt ... überflüssig gemacht.“ Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Vollzuteilungspolitik, Absenkung des Sicherheitenrahmens und ELA-Kredite wurden beschlossen, um die Folgen des Zusammenbruchs des Interbankenmarkts zu neutralisieren. Diese im Herbst 2008 gefassten Beschlüsse standen nicht am Anfang der Entwicklung, sondern waren eine Antwort auf die Krise. Nutznießer waren nicht zuletzt die deutschen Finanzinstitute, die durch die Maßnahmen des Eurosystems liquide Mittel bekamen und die ihre Engagements in den Peripherieländern ohne größere Verluste beenden konnten.

Die Fiktion des Wir

Zum Zweiten unterstellt das Narrativ ein fiktives „Wir“, dem durch die Perfidie der „Anderen“ Ressourcen entzogen werden. Die Fiktion vertuscht die Heterogenität der Interessen. Die deutschen Investoren, die vor der Finanzkrise Mittel in den Peripheriestaaten angelegt haben, taten dies im eigenen Interesse, weil sie sich gute Renditen versprachen. Die deutschen Exporteure freuten sich über die Absatzmöglichkeiten in den Peripherieländern. Die Immobilienbesitzer in Frankfurt oder Berlin, die eine Wohnung an einen Griechen oder einen Italiener verkaufen, freuen sich, dass der Käufer einen besseren Preis bietet als der zweithöchste Bieter. Natürlich ist der zweithöchste Bieter für die Immobilien verärgert, weil er nicht zum Zuge kommt. Und die Anleger ärgern sich über die niedrigen Zinsen. Letzteres geht allerdings nicht auf die Geldpolitik zurück, sondern auf den bereits erwähnten Mangel an attraktiven Anlagemöglichkeiten.

Die Fiktion des „Wir“ blendet die Interessenkonflikte im eigenen Land aus. Statt sich mit der Leichtfertigkeit der Anlageentscheidungen deutscher Investoren im Vorfeld der Krise auseinanderzusetzen, kritisiert man, dass „die Peripherieländer“ bei „uns“ immer nur „anschreiben lassen“. Die Maßnahmen von 2008 erscheinen dann als Umschuldung von privaten Krediten auf „Target-Kredite“. Dass anders als bei echten Umschuldungen im Zuge dieses Vorgangs die Identität der Gläubiger gewechselt hat, wird unterschlagen, desgleichen, dass dieser Wechsel die privaten Gläubiger auf ordnungspolitisch anstößige Weise vor den Folgen ihrer eigenen Handlungen bewahrt hat. Dabei ist nicht nur an die unkonventionelle Geldpolitik zu denken, sondern auch an die Mittel, die aus staatlichen Kassen flossen, sei es unmittelbar wie in der Finanzkrise (mit Kosten von über 70 Mrd. Euro für die deutschen Steuerzahler), sei es mittelbar durch die europäischen Institutionen, die den Peripheriestaaten die Möglichkeit gaben, ihre Schulden zu bedienen.

Die Fiktion des „Wir“ geht auch darüber hinweg, dass die Deutsche Bundesbank in ihrem operativen Geschäft nicht als deutsche Institution auftritt, sondern als Teil der supranationalen Institution Eurosystem. Wenn die Banca d’Italia einer italienischen Geschäftsbank – oder die Deutsche Bundesbank einer deutschen Geschäftsbank – einen Refinanzierungskredit gibt, kommen die Erträge aus diesem Kredit (mit Ausnahme von ELA) dem Eurosystem insgesamt zugute. Wenn die italienische Bank im Auftrag eines Kunden eine Überweisung nach Deutschland tätigt, so wird ihre Verpflichtung gegenüber der Banca d’Italia davon nicht berührt, auch nicht die Position des Eurosystems insgesamt. Nur die Einlage der italienischen Bank bei der Banca d’Italia wird durch eine Einlage einer deutschen Bank bei der Bundesbank ersetzt. (Bei den aktuell negativen Einlagenzinsen muss diese der Bundesbank dafür sogar etwas bezahlen, aber auch dies geht in den gemeinsamen Topf.)

„Target-Kredite“ – ein unbrauchbarer Begriff

Zum Dritten verbindet der Begriff des „Target-Kredits“ auf unzulässige Weise volkswirtschaftliche und betriebswirtschaftliche Vorgänge und ist analytisch unbrauchbar. Das gilt auch für den in den Anträgen verwandten Begriff der „Leistungsbilanzfinanzierung“. Sinn, auf den der Begriff des „Target-Kredits“ zurückgeht,10 rechtfertigt die Interpretation der Target-Forderungen als „Kredite“ durch den Hinweis auf die sogenannte Zahlungsbilanzgleichung, wonach das Leistungsbilanzdefizit eines Landes immer gleich der Summe der privaten und öffentlichen Kapital­importe ist, bzw. der Leistungsbilanzüberschuss gleich der Summe der privaten und öffentlichen Kapitalexporte. Er subsumiert die Target-Salden unter die öffentlichen Kapitalimporte bzw. -exporte und schließt, es müsse sich um Kredite handeln. Dieser Schluss ist falsch.

Das Wort von der „Leistungsbilanzfinanzierung“ suggeriert ein Individuum („Wir“), das sich verschuldet, wenn es mehr für Käufe von Gütern und Dienstleistungen ausgeben will, als es durch Verkäufe verdient. Ein solches Individuum gibt es aber nicht. Sowohl die Leistungsbilanz als auch die Kapitalverkehrsbilanz sind ein Substrat von Entscheidungen und Transaktionen vieler verschiedener Personen und Institutionen. Die Interpretation der Zahlungsbilanzgleichung als Budgetrestriktion eines Individuums ist daher unzulässig.

Die Zahlungsbilanzgleichung macht eine Aussage über die Geld- und Devisenmärkte: Wenn mehr Mittel durch Verkäufe von Gütern und Vermögenswerten und Schuldenaufnahme in das Land hereinkommen, als für Käufe von Gütern und Vermögenswerten und Kreditvergabe herausgehen, gibt es einen Zustrom an Devisen in das Land. Bei völlig flexiblen Wechselkursen ist dieser Zustrom null, da die Wechselkurse sich entsprechend anpassen. Bei festen Wechselkursen muss die Zentralbank den Devisenzustrom absorbieren.

Ein Beispiel sind die Dollar-Käufe, mit denen die Deutsche Bundesbank Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre den D-Mark-/US-Dollar-Kurs stützte. Laut AfD-Antrag erhielt die Bundesbank damals „(stellvertretend) einen Gegenwert für den von der deutschen Volkswirtschaft geleisteten Kapitalexport“. Das ist irreführend, nicht nur, weil die „deutsche Volkswirtschaft“ kein Akteur ist, sondern auch, weil der Gegenwert aus Zentralbankgeld bestand, d. h. aus grünbedruckten Zetteln mit Bildern von George Washington oder aus Ansprüchen auf solche Zettel.

In der Währungsunion sind die „Wechselkurse“ definitionsgemäß fest, da man es einem Euro nicht ansehen kann, ob er aus Griechenland, Italien oder Deutschland kommt. Die Target-Salden sind in gewissem Sinn ein Pendant zu den früheren Devisenmarktinterventionen, aber mit dem entscheidenden Unterschied, dass die Bundesbank nicht mehr unabhängig agiert, sondern als Teil des Eurosystems. In diesem System ist es nicht sinnvoll, eine allein auf Deutschland bezogene Zahlungsbilanzgleichung zu formulieren, denn die darin auftretenden Target-Salden stehen zwar in der Bilanz der Bundesbank, haben aber keinen Einfluss auf deren wirtschaftliche Position. Die Einkünfte der Bundesbank ergeben sich aus den Einkünften der supranationalen Institution Eurosystem, die ihrerseits nicht von den Target-Salden abhängen.11

Ressourcenabfluss aus Deutschland – irreführend

Zum Vierten schließlich ist es irreführend, zu behaupten, dass dem „Ressourcenabfluss aus Deutschland“ keine angemessene Gegenleistung gegenüberstehe. Die Verkäufer der Güter oder Vermögenswerte sind bezahlt worden (soweit die Verkäufe nicht auf Kredit erfolgten). Die Bezahlung erfolgte in Euro, das ist die maßgebliche Währung. Die Aussage, diese Euro seien ungedeckt, da die Gegenposition in der Bilanz der Deutschen Bundesbank aus wertlosen Target-Positionen bestehe, ist problematisch. Das Geld, das die Bundesbank ausgibt, begründet ohnehin keinerlei Verpflichtung, schon gar nicht eine Verpflichtung zur Einlösung in Gold, US-Dollar oder einen anderen Realwert. Daher spielt es keine Rolle, ob die Zentralbank auf der Aktivseite ihrer Bilanz Gold, Devisen, Immobilien, Schrauben oder Target-Forderungen stehen hat. In einem Papiergeldsystem betrifft die Frage, was auf der Aktivseite der Zentralbankbilanz steht, nur die Eigentümer. Für die Personen und Institutionen, die das Papiergeld halten, kommt es nur darauf an, wie sie dieses Geld für weitere Transaktionen verwenden können.

Der AfD-Antrag spricht vom Fehlen einer „realen“ Gegenleistung. Gemeint ist vermutlich, dass der Materialwert des durch Verkäufe erlangten Papiergeldes nahe bei null liegt und der Tauschwert nicht feststeht. Die Frage ist, warum die Verfasser es nicht dabei belassen, dass die Akzeptanz dieses Geldes durch die Verkäufer einen hinreichenden Beleg für die Angemessenheit des erzielten Gegenwerts bietet.

Geldschöpfung in der Krise – Systemstabilisierung, nicht Inflationspolitik

Hinter dem Menetekel des Ressourcenabzugs ohne angemessene reale Gegenleistung steht die Vorstellung, die expansive Geldpolitik der EZB müsse irgendwann zur Geldentwertung führen und dann werde sich zeigen, dass die Papierzettel, die die Verkäufer von Gütern, Immobilien und Unternehmen erhalten haben, „real“ nichts wert sind. Jedoch ist zu fragen, warum die Geldentwertung nicht schon längst eingetreten ist. Der Beginn der unkonventionellen Geldpolitik liegt immerhin schon über zehn Jahre zurück.

Allein zwischen 2008 und 2012 hat sich die Zentralbankgeldmenge fast verdoppelt, von ca. 850 Mrd. Euro auf über 1600 Mrd. Euro, ohne dass dies zu einer entsprechenden Geldentwertung geführt hätte. Die Inflation betrug im Durchschnitt 2 % pro Jahr, was genau dem Inflationsziel der EZB entspricht. Nach einem zwischenzeitlichen Rückgang der Zentralbankgeldmenge auf weniger als 1200 Mrd. Euro Ende 2014 ließ das ab 2015 verfolgte Wertpapierankaufprogramm sie wieder auf über 3200 Mrd. ansteigen; die Inflationsrate lag dabei deutlich unter 2 % pro Jahr. Diese Entwicklung passt nicht zu der Vorstellung, dass die unkonventionelle Geldpolitik der EZB die Inflation anheizt. Zwar treten die Wirkungen der Geldpolitik oft erst verzögert auf, aber Verzögerungen von mehr als zehn Jahren wären ein Novum. Die Warnung, dass das dicke Ende noch kommen wird, müsste durch inhaltliche Argumente belegt werden, sonst ist sie nur ein Mittel zur Immunisierung der eigenen Vorurteile gegen die Empirie.

Aus der Literatur ist spätestens seit Friedman und Schwartz bekannt, dass es keinen einfachen mechanischen Zusammenhang zwischen dem Wachstum der Zentralbankgeldmenge und der Inflation gibt.12 Für die Inflation kommt es vor allem darauf an, was die privaten Haushalte und Unternehmen an Geld halten und welcher Zusammenhang zwischen diesen Geldbeständen und ihren Käufen bzw. Verkäufen von Gütern und Dienstleistungen besteht.

Private Haushalte und Unternehmen halten Geld in Form von Bargeld und Einlagen bei Geschäftsbanken. Diese Geldbestände übersteigen die Zentralbankgeldmenge in dem Maß, in dem die Einlagen die Reserven der Geschäftsbanken übersteigen. Wenn die Banken zusätzliches Zentralbankgeld einfach zur Erhöhung ihrer Reserven nutzen, hat das zusätzliche Zentralbankgeld keinen Einfluss auf die Geldbestände der privaten Haushalte und Unternehmen außerhalb des Finanzsektors. Genau das ist seit 2008 zu beobachten: Ein erheblicher Teil des zusätzlich geschaffenen Zentralbankgeldes wird von den Geschäftsbanken gehalten. Dieses Verhalten reflektiert die Erfahrung der Krise, als die Liquiditätsversorgung durch die Interbankenmärkte nicht mehr funktionierte. Das Geldmengenaggregat M3 (Bargeld + Sichteinlagen + kurzfristige Termineinlagen + Spareinlagen in Händen von Nichtbanken) ist daher von Ende 2007 bis Ende 2018 nur um ca. 44 % angestiegen, von 8,6 auf 12,4 Billionen Euro, die Zentralbankgeldmenge dagegen um fast 200 %, von 1,1 auf 3,2 Billionen Euro.

Mit ca. 4 % pro Jahr ist M3 immer noch stärker angestiegen als die Preise. Der Unterschied dürfte darauf zurückzuführen sein, dass bei den vorherrschenden sehr niedrigen Zinssätzen viele Anleger ihre Mittel lieber kurzfristig anlegen, da die Zinsvorteile einer längerfristigen Anlage die wahrgenommenen Kosten und Risiken der Inflexibilität nicht aufwiegen. Es gibt also substanzielle Gründe für die beobachtete Diskrepanz zwischen der Entwicklung der Zentralbankgeldmenge und der Inflation in der Eurozone.

Nach Friedman und Schwartz hat die US-amerikanische Zentralbank von 1929 bis 1933 eine kontraktive Geldpolitik verfolgt – und das, obwohl die Zentralbankgeldmenge in dieser Zeit um 15 % gewachsen war. Friedman und Schwartz stützen diese Einschätzung auf die Beobachtung, dass in derselben Zeit das relevante Geldmengenaggregat um 33 % geschrumpft war. Das Wachstum der Zentralbankgeldmenge von 15 % reichte nicht aus, um den Rückgang der Geldschöpfung bei den Geschäftsbanken zu kompensieren, der sich ergab, weil die Nichtbanken aus Bankeinlagen in Bargeld flohen und die Banken ihre Reserven an Zentralbankgeld deutlich erhöhten. Um diese Entwicklungen zu neutralisieren, hätte die Zentralbankgeldmenge um 48 % ansteigen müssen. Da das nicht geschah, sanken die Güterpreise um 25 % bis 33 %. In dieser Sichtweise muss die Geldpolitik darauf achten, dass die für das Verhalten der privaten Haushalte und Unternehmen maßgeblichen Geldmengenaggregate entsprechend dem Potenzialwachstum der Realwirtschaft stetig wachsen. Das erfordert aktiven Interventionismus der Zentralbank, wenn Störungen im Bankensektor die Funktionsfähigkeit des Geldsystems beeinträchtigen. Dieses Postulat von Friedman und Schwartz, den Hohen Priestern des marktwirtschaftlichen Laissez-faire, steht in einem bemerkenswerten Kontrast zur Kritik der FDP am „Außerkraftsetzen marktwirtschaftlicher Regeln“ durch die „Geldflutung“ der EZB.

Und was ist, wenn Bankensystem und Geldsystem sich stabilisieren und wieder so funktionieren wie vor 2008? In diesem Fall fordert das Friedman-Schwartz-Postulat, dass die Erhöhungen der Zentralbankgeldmenge zurückgefahren werden. Die Erfahrungen von 2013 bis 2014, als dies schon einmal geschah, zeigen, dass ein solches Zurückfahren grundsätzlich möglich ist.

Selbstbedienung mit der Notenpresse?

Zum EZB-kritischen Narrativ gehört die Formel von der „Selbstbedienung mit der Notenpresse“ durch die Peripherieländer. Vollzuteilung, ELA-Kredite und andere Maßnahmen werden in diesem Sinn interpretiert. Dabei wird zumeist nicht unterschieden zwischen Aktionen, die nationale Zentralbanken in eigener Verantwortung durchführen, und Maßnahmen, die vom EZB-Rat mit einer Mehrheit aus den Peripherieländern beschlossen werden, ebenso wenig zwischen der Geldschöpfung der Zentralbanken und der Geldschöpfung der Geschäftsbanken. Die Endogenität der Zentralbankgeldschöpfung in der Krise wird oft unterschlagen, und die Zahlen werden verzerrt dargestellt. Wir gehen im Folgenden auf die wichtigsten Positionen ein.13

ELA-Kredite

ELA-Kredite werden von den nationalen Zentralbanken in eigener Verantwortung und auf eigene Rechnung vergeben. Die Behauptung, dass die „südeuropäischen Krisenländer und Irland ... sich ... für Hunderte von Mrd. Euro ELA-Kredite gewährten“14 ist in mehrfacher Hinsicht problematisch. Zum einen war Deutschland mit Hypo Real Estate 2008 auch dabei, desgleichen Frankreich (Dexia). Zum anderen lag der Gesamtbetrag der ELA-Kredite nur zweimal über 100 Mrd. Euro, nämlich 2011/2012 bei bis zu 250 Mrd. Euro und 2015 bei bis zu 140 Mrd. Euro. Beide Male wurden die Ausreißer dadurch verursacht, dass die EZB griechische Staatsanleihen nicht mehr als Sicherheiten akzeptierte und die normalen Refinanzierungskredite des Eurosystems für griechische Banken auf ELA-Basis umgestellt wurden. Seit 2015 sind die ELA-Kredite stetig zurückgegangen, sie liegen heute unterhalb von 20 Mrd. Euro.

Die Vorstellung, dass ELA-Kredite den Geschäftsbanken zusätzliche Geldschöpfung ermöglichten, ist abwegig. ELA-Kredite werden vergeben, um wegbrechende Finanzierungen der Geschäftsbanken zu ersetzen, sei es, dass Interbankenkredite nicht erneuert werden, sei es, dass Einlagenkunden ihre Mittel abziehen. Wenn eine Bank auf einem Bestand an Krediten sitzt und die Geldgeber der Bank ausgezahlt werden wollen, bieten die ELA-Kredite die Möglichkeit, die Geldgeber zu bedienen, nicht aber die Möglichkeit, neue Kredite zu vergeben und zusätzliches Giralgeld zu schaffen. Die Giralgeldschöpfung hatte lange vorher stattgefunden, als die Geschäftsbank ihre Kreditvergabe und ihre Einlagen erhöhte. Der ELA-Kredit bietet nur die Möglichkeit, dass das von der Bank geschaffene Giralgeld abgezogen und nicht durch Einbezug in ein Abwicklungsverfahren eingefroren wird.

Nutznießer der ELA-Kredite waren vor allem die bisherigen Geldgeber, im Fall Irlands vor allem deutsche Banken. Dort hätte man es 2010 vorgezogen, die Banken einem Abwicklungsverfahren zu unterwerfen, bei dem die Gläubiger an den Verlusten beteiligt worden wären. Aufgrund von Drohungen des EZB-Präsidenten nahm man davon Abstand. Daher brauchten die irischen Banken 2011 und 2012 erhebliche zusätzliche ELA-Kredite.

Nettofinanzanlagen (NFA)

Die in der deutschen Presse kolportierten Zahlen zur Finanzierung von NFA durch Geldschöpfung der nationalen Zentralbanken, 500 Mrd. Euro oder gar 700 Mrd. Euro, sind falsch. Unter Berücksichtigung von Änderungen der Rechnungslegung ergibt sich für NFA im eigentlichen Sinn ein Anstieg um ca. 140 Mrd. Euro von 2007 bis 2015. Seit 2015 sind diese Anlagen wieder zurückgegangen und liegen inzwischen in der Größenordnung von 2006. Der Anstieg konzentriert sich auf 2008 sowie 2011 bis 2012. So dürfte die Banca d’Italia 2011 in größerem Umfang Staatsanleihen als „Finanzanlagen“ gekauft haben, um deren Kurse zu stützen, als Investoren wie die Deutsche Bank sie abstießen. Auch hier waren die Verkäufer dieser Papiere die Nutznießer.

Vollzuteilung und Herabsetzung der Qualitätsanforderungen an Sicherheiten

Die Beschlüsse zur Vollzuteilung und Herabsetzung der Qualitätsanforderungen an Sicherheiten wurden in der Lehman-Krise einstimmig beschlossen. Die Vorstellung, dass man damit Griechenland helfen wollte, ist abwegig, denn Griechenland stand zu diesem Zeitpunkt noch nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit.

Die Beschlüsse kamen in hohem Maße auch deutschen Banken zugute, die von der Lehman-Krise besonders betroffen waren. Diese benötigten vor allem US-Dollar. In der Lehman-Krise erhielt die EZB mehrere Billionen US-Dollar durch Währungsswaps mit der US-amerikanischen Zentralbank und gab diese US-Dollar über die nationalen Zentralbanken an die Geschäftsbanken weiter, die so ihre Dollar-Verbindlichkeiten bedienen konnten. In den Bilanzen sorgten die Swaps für hohe Forderungen der EZB gegenüber der Deutschen Bundesbank, was den Anstieg der Target-Positionen mehr als kompensierte. In Abbildung 1 ist das nicht sichtbar, da diese die Swap-Positionen nicht zeigt. Die asymmetrischen Wirkungen der Vollzuteilung ergeben sich daraus, dass die deutschen Banken gegenüber den Banken der Peripherieländer vor allem als Kreditgeber aufgetreten waren. Die Kündigung bzw. Nicht-Erneuerung der Kredite begründete unmittelbar einen Liquiditätsbedarf bei den Banken der Peripherieländer. Der Euro-Liquiditätsbedarf der deutschen Banken war niedriger, auch weil das Eurosystem den Geschäftsbanken der Peripherieländer die Möglichkeit gab, ihre Schulden gegenüber den deutschen Banken abzulösen.

Mit der Entwicklung seit 2015 haben ELA-Kredite, NFA, Vollzuteilung etc. wenig zu tun. Das Wachstum der Zentralbankgeldmenge seit 2015 geht fast ausschließlich auf das Wertpapierankaufprogramm der EZB zurück. ELA und NFA machten auch vorher nur einen kleinen Teil des Geldmengenwachstums aus.

Reformbedarf bei Banken- und Kapitalmarktunion

Ordnungspolitische Reformen sind erforderlich, aber nicht bei der Geldpolitik, sondern bei deren Rahmenbedingungen. Insofern teilen wir das Anliegen des Antrags der FDP-Fraktion. Folgende Aspekte geben zu denken:

  • Vor 2008 waren Regulierung und Aufsicht zu lax. Die Aufsichtspraxis war geprägt von industriepolitischen Interessen am Aufbau des Finanzsektors als Entwicklungsmotor, an der Förderung nationaler Champions und an der Verfügbarkeit von Finanzinstituten zur Finanzierung staatlicher Haushalte oder staatlich privilegierter Unternehmen. Daher wurden zu hohe Kapazitäten aufgebaut, und Gewinne ließen sich nur durch das Eingehen großer Risiken erzielen.
  • In und nach der Krise war man so sehr auf die Vermeidung von Turbulenzen bedacht, dass man die Institute lieber stützte, als sie aus dem Markt zu nehmen. Die beschriebenen Mechanismen der Geldpolitik haben dazu beigetragen, aber die Hauptverantwortung liegt bei den Mitgliedstaaten, die für die Aufsicht und die Gesetzgebung zum Umgang mit Banken in Schieflagen zuständig war, zumindest bis zur Einführung der Europäischen Bankenunion.
  • Man hat es versäumt, die Banken rigoros zur Anerkennung von Verlusten auf Kredite zu zwingen, mit entsprechenden Abschreibungen oder zumindest Rückstellungen und gegebenenfalls Forderungen zur Aufnahme neuen Eigenkapitals. Dieses Versäumnis betrifft nicht nur Italien oder Griechenland, sondern auch Deutschland, wo man etwa beim Umgang mit den Schiffskrediten in den Büchern der HSH Nordbank sehr zögerlich war.

Diese Entwicklungen sind ein wesentlicher Grund dafür, dass die europäischen Banken nach wie vor labil sind. Daher ist ein Ausstieg der EZB aus der bisherigen Geldpolitik immer noch mit erheblichen Risiken für die Finanzstabilität verbunden, und etliche Banken, vor allem in den Peripherieländern, sind nach wie vor auf Refinanzierungshilfen des Eurosystems angewiesen.

Erforderlich sind Reformen, die das Bankenabwicklungsregime stärken und den Nexus zwischen Banken und Staaten lockern.15

Bankenabwicklungsregime

Für die Abwicklung von Banken braucht man ein eigenes Verfahren außerhalb des nationalen Insolvenzverfahrens. Der Status quo, bei dem die Abwicklung von Banken nach nationalem (Insolvenz-)Recht erfolgt, ist problematisch. Für die Verwertung der Aktiva macht es einen großen Unterschied, ob man sich Zeit lassen kann oder nicht. Die kurzfristige Liquidation von Kreditportefeuilles dürfte nur mit größeren Abschlägen möglich sein; bei langsamer Abwicklung, über zehn Jahre oder mehr, sind die Verluste erfahrungsgemäß sehr viel kleiner. Dies erfordert allerdings eine Refinanzierung. Bei Banken ist das besonders schwierig, da der Anteil kurzfristiger Schulden sehr hoch ist. Friert man diese, entsprechend dem üblichen Vorgehen im Insolvenzverfahren, ein, so sind starke Systemeffekte zu befürchten, wie bei den Geldmarktfonds, die bei Lehman Brothers engagiert waren. Friert man sie nicht ein, wie in der Bankensanierungs- und -abwicklungsrichtlinie vorgesehen, so ist der Refinanzierungsbedarf im Abwicklungsverfahren sehr groß, und das im Insolvenzrecht übliche Mittel der Priorisierung neuer Gläubiger reicht nicht aus, um die Refinanzierung sicherzustellen.

Man braucht auch Regelungen zur Sicherstellung der erforderlichen Liquidität in der Phase, wo entschieden wird, wie weiter vorzugehen ist. Sonst geht es wie bei der spanischen Banco Popular Español zu, die über Nacht verkauft werden musste, da es nicht genügend Mittel gab, um den Run der Einleger weiter zu überstehen.

Von der Abschaffung der vorsorglichen Rekapitalisierung ist abzuraten. Bei Instituten wie der Deutschen Bank, die in mehreren Jurisdiktionen systemrelevant tätig sind, kann eine solche Rekapitalisierung die einzige Möglichkeit bieten, in einer Krise erhebliche Kollateralschäden zu vermeiden. Daher stehen wir dem Antrag der FDP-Fraktion, Art. 32 Abs. 4 lit. d der Bank Recovery and Resolution Directive (BRRD) zu streichen, skeptisch gegenüber. Um der Neigung der Mitgliedstaaten, dieses Instrument zum Erhalt nationaler Champions nutzen, Grenzen zu setzen, wäre es allerdings sinnvoll, die Zuständigkeit auf die europäische Ebene zu heben und auf den Einheitlichen Abwicklungsmechanismus und den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) zu übertragen.

Abschwächung des Staaten-Banken-Nexus

Die Fragmentierung der Banksysteme ist auch deshalb so ausgeprägt, weil Banken eng mit ihren Sitzstaaten verflochten sind. Da die Banken jeweils der Hoheit des betreffenden Staates unterstehen, lässt sich dieser Nexus vermutlich nie ganz ausschalten, aber man kann ihn abschwächen. Neben den erwähnten Maßnahmen zur Reform der Bankenabwicklung sind folgende Änderungen zu erwägen:

  • Grenzüberschreitende Bankenzusammenschlüsse im
    Euroraum würden die Stellung der Banken gegenüber den politischen Instanzen stärken und die Möglichkeit zu einem konzerninternen interregionalen Risikoausgleich bieten. Das Target-System würde entlastet, da viele Überweisungen konzernintern durchgeführt werden könnten.
  • Ein anreizkompatibel ausgestaltetes europäisches Einlagensicherungssystem würde die Anreize für Runs auf die Banken eines Landes senken.16 Ein solches System würde Runs verhindern, die entstehen, weil die Einleger misstrauisch sind, ob die nationale Einlagensicherung im Krisenfall zahlen kann oder will. Das System sollte als Rückversicherung konzipiert und anreizkompatibel ausgestaltet sein, z. B. über risikoadäquate Prämien. Vorab wären allerdings ein substanzieller Abbau der notleidenden Kredite und ein Aufbau bail-in-fähiger Verbindlichkeiten erforderlich.
  • Die Privilegierung von Staatsschulden bei der Eigenkapitalregulierung und der Klumpenrisikoregulierung sollte aufgehoben werden. Hier teilen wir die Auffassung der FDP-Fraktion.17 Sinnvoll wären risikobasierte Konzentrationszuschläge bei der Eigenkapitalregulierung, die sowohl die Bonität der staatlichen Schuldner als auch die Konzentration der Anleihebestände berücksichtigen. Im Basler Ausschuss für Bankenaufsicht ist hierzu keine Einigung zu erwarten. Angesichts der speziellen Situation des Euroraums ist ein eigenständiges Vorgehen der Europäischen Union sinnvoll.

Kapitalmarktunion

Eine Stärkung der europäischen Kapitalmärkte würde die Abhängigkeit des europäischen Finanzsystems von den Banken verringern. Anzustreben sind ein besserer Zugang von Unternehmen zu Kapitalmarktfinanzierungen und eine bessere Diversifizierung ihrer Finanzierungsquellen. Dies gilt vor allem für die Aufnahme von Eigenkapital und langfristigem Fremdkapital. Beides ist in Krisenzeiten stabiler als kurzfristige Schulden. Dies entspricht dem Anliegen der FDP-Fraktion.

Ferner zu erwägen sind der Abbau steuerlicher Diskriminierungen, insbesondere im Umfeld von Börsengängen, sowie Standardisierungen und Harmonisierungen im Insolvenzrecht und beim Verbraucherschutz. Im Übrigen würde eine Ausweitung der kapitalgedeckten Altersvorsorge die Nachfrage nach marktgängigen Titeln deutlich erhöhen.

Allerdings ist die Kapitalmarktunion ein langfristiges Binnenmarktprojekt, von dem man sich keine schnellen Wirkungen versprechen darf. Vorrangig müssen die Bereinigung der Bankbilanzen und der Überkapazitäten im Banksektor erfolgen und die Bankenunion vorangetrieben werden.

Für die Geldpolitik sind diese Reformen vordringlich, weil die Banken ein integraler Bestandteil des Geldsystems sind. Dysfunktionalitäten im Bereich der Bankensysteme stellen die Zentralbanken vor Aufgaben, die ohne „unkonventionelle“ Maßnahmen kaum zu lösen sind. Ohne Reformen besteht die Gefahr, dass die Geldpolitik auf Dauer zur Geisel des Finanzsystems wird.

* Der folgende Text ist eine gekürzte Fassung des volkswirtschaftlichen Teils der von den Autoren verfassten Stellungnahme für die Anhörung des Finanzausschusses. Für den betriebswirtschaftlichen Teil siehe M. Hellwig, I. Schnabel: Verursachen Target-Salden Risiken für die Steuerzahler?, in: Wirtschaftsdienst, 99. Jg. (2019), H. 8, S. 553-561, https://archiv.wirtschaftsdienst.eu/jahr/2019/8/verursachen-target-salden-risiken-fuer-die-steuerzahler/ (20.8.2019). Beide Texte stützen sich auf die Analyse in: M. Hellwig: Target-Falle oder Empörungsfalle? Zur deutschen Diskussion um die Europäische Währungsunion, in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik, 19. Jg. (2018), H. 4, S. 345-382.

  • 1 Antrag der FDP-Fraktion: Kapitalmarktunion vertiefen, Staatsschulden entprivilegieren, Target2-Salden verringern, Bundestagsdrucksache 19/6416.
  • 2 Antrag der AfD-Fraktion: Target-Forderungen unabhängig vom Fortbestand des Euros besichern, Bundestagsdrucksache 19/9232.
  • 3 Zur Mechanik der grenzüberschreitenden Zahlungen und zur Definition der Target-Salden siehe M. Hellwig, I. Schnabel, a. a. O.
  • 4 Die Ausnahme ist Irland 2016. Dies ist auf Änderungen in der Statistik für die Aktivitäten multinationaler Unternehmen zurückzuführen.
  • 5 ELA-Kredite sind Refinanzierungskredite nationaler Zentralbanken an Geschäftsbanken, die von normalen Refinanzierungskrediten des Eurosystems ausgeschlossen sind. Im Unterschied zu normalen Refinanzierungskrediten erfolgen ELA-Kredite auf Rechnung der jeweiligen nationalen Zentralbank, vgl. M. Hellwig, I. Schnabel, a. a. O.
  • 6 Dasselbe gilt für die sogenannten NFA-Positionen, Aktiva der nationalen Zentralbanken, die diese im Rahmen des Agreement on Net Financial Assets (ANFA) in eigener Verantwortung und auf eigene Rechnung erwerben und halten.
  • 7 Die Ausnahme ist ein Anstieg um 200 Mrd. Euro in einer Woche im Frühjahr 2017, als die Banca d’Italia nach einer Gesetzesänderung italienische Banken mit zusätzlichen Krediten stützte.
  • 8 Die Entwicklung wird dokumentiert im ESRB-Bericht „Regulatory Treatment of Sovereign Exposures“ von 2015. Martin Hellwig war Co-Chair der Expertengruppe, die diesen Bericht ausarbeitete.
  • 9 Siehe insbesondere H.-W. Sinn: Die Target-Falle: Gefahren für unser Geld und unsere Kinder, München 2012; H.-W. Sinn: The Euro Trap: On Bursting Bubbles, Budgets, and Beliefs, Oxford 2014; sowie H.-W. Sinn: Fast 1000 Milliarden Target-Forderungen der Bundesbank: Was steckt dahinter?, in: ifo-Schnelldienst, 71. Jg. (2018), H. 14.
  • 10 H.-W. Sinn: Die Target-Falle ..., a. a. O.; ders.: The Euro Trap ..., a. a. O.; ders.: Fast 1000 Milliarden Target-Forderungen ..., a. a. O.
  • 11 M. Hellwig, I. Schnabel, a. a. O.
  • 12 M. Friedman, A. J. Schwartz: A Monetary History of the United States 1863-1960, Princeton 1963.
  • 13 Für Details siehe M. Hellwig, I. Schnabel, a. a. O.; M. Hellwig, a. a. O.
  • 14 H.-W. Sinn: Fast 1000 Milliarden Target-Forderungen ..., a. a. O.
  • 15 Ausführlichere Darstellungen finden sich bei Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Banken- und Kapitalmarktunion entschiedener vorantreiben, Jahresgutachten 2018/19, Kapitel 5; sowie A. Bénassy-Quéré et al.: Reconciling risk sharing with market discipline: A constructive approach to euro area reform, CEPR Policy Insight, Nr. 91, 2018.
  • 16 I. Schnabel, N. Véron: Breaking the stalemate on European deposit insurance, 6.4.2018, https://voxeu.org/article/breaking-stalemate-european-deposit-insurance (20.8.2019).
  • 17 Eine automatische Laufzeitverlängerung von Staatsanleihen bei drohender Zahlungsunfähigkeit sehen wir hingegen kritisch, da ein solcher Automatismus Krisen sogar beschleunigen könnte.

Title:Target Balances, Current Account Balances, Money Creation, Banks and Capital Markets

Abstract:In this abbreviated excerpt from a report for a hearing held by the Finance Committee of the German parliament on 5 June 2019, the authors refute the interpretation of ‘target balances’ of central banks in the Eurosystem as a symptom of other countries exploiting Germany by using the printing press to purchase goods and assets. This interpretation ignores the breakdown of interbank markets since the Lehman bankruptcy and the need to neutralise disruptions in monetary transmission. It also vastly exaggerates the element of autonomous money creation by central banks and commercial banks in the periphery countries. The report stresses the need to promote further reforms in the European banking union and capital markets union in order to reduce financial dominance over monetary policy.


DOI: 10.1007/s10273-019-2504-y

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